Elisabeth Wintermantel : Yaron

Yaron
Yaron Originalausgabe: Verlag 3.0 Zolt Majsai, Bedburg 2014 ISBN: 978-3-95667-069-5, 239 Seiten eBooks: 978-3-95667-070-1 (ePub) / 978-3-95667-71-8 (mobi)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Yaron war drei Jahre alt, als ihn die Eltern in Russland zurückließen und nach Deutsch­land gingen. Sieben Jahre später holt die Mutter ihn nach, denn der Vater ist seit einem Unfall behindert, und Yaron muss auf seine sechsjährige Schwester aufpassen, damit Elvira arbeiten kann. Diese Aufgabe überfordert den Jungen, zumal er es der frustrierten Mutter nicht recht machen kann. Yaron ist 12, als eine Frau auf ihn aufmerk­sam wird und ihm helfen möchte ...
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Kritik

Elisabeth Wintermantel entwickelt die Handlung ihres ergreifenden Romans "Yaron" im Wechsel verschiedener Perspektiven. Dabei greift jedes Rädchen ins andere, und das Geschehen wird sorgfältig ausgeleuchtet.
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An einem Freitag fällt Yolande Hensel ein Junge in ihrem Schreibwarenladen „Bastelinsel“ auf, der Krepppapierrollen und anderes Material anschaut und offenbar immer wieder überschlägt, wie viel die Sachen kosten. Am Montag ist Schulanfang, und Yolande vermutet, dass er eine Schultüte basteln möchte. Aber für einen Schulanfänger ist er zu alt. Als sie zu ihm geht und ihn fragt, ob sie ihm helfen könne, erschrickt er und rennt aus dem Laden.

In der Hoffnung, den seltsamen Jungen am Samstag zurücklocken zu können, bastelt die 63-jährige Geschäftsinhaberin an diesem Abend zwei Schultüten, drappiert sie ins Schaufenster und zeichnet sie mit besonders niedrigen Preisen aus.

Samstags pflegt Oskar die Bedienung im Laden zu übernehmen, ein über 70 Jahre alter Maler und Bildhauer, der seit 15 Jahren mit Yolande befreundet ist. Doch unter dem Vorwand, Büroarbeit erledigen zu müssen, hält auch sie sich an diesem Samstag im Geschäft auf. Kurz bevor geschlossen wird, taucht der Junge wieder auf, diesmal mit einem Mädchen, bei dem es sich offensichtlich nicht nur um seine Schwester handelt, sondern auch um das Kind, das in die Schule kommt. Die beiden kaufen eine der beiden ausgestellten Schultüten. Dabei entgeht Oskar und Yolande nicht, dass der Junge kaum etwas hört, von den Lippen abliest und Zeichen versteht, die das Mädchen mit den Händen formt.

Der Gesichtsausdruck des Jungen erinnert Oskar an seinen fünf Jahre älteren Bruder Lothar. Sie waren als Söhne eines Gutsverwalters in Ostpreußen aufgewachsen. Als sie mit der Mutter vor den Russen nach Westen flüchteten, wurde ihre kleine Schwester krank. Deshalb kamen sie nicht schnell genug vorwärts, und Russen holten sie ein. Die Mutter trug Lothar auf, sich um seinen jüngeren Bruder zu kümmern und sich mit ihm zu verstecken. Die Brüder sahen ihre Mutter nie wieder. Drei Jahre nach Kriegsende erfuhren sie, dass sie in einem Lager gestorben war. Das Baby hatte sie bereits bei der Ankunft nicht mehr bei sich gehabt. Lothar schlug sich mit Oskar nach Hamburg durch und sorgte für ihn, bis der Vater 1947 aus der Kriegsgefangenschaft kam. Damals sah Lothar genauso überfordert und vorzeitig erwachsen aus wie dieser unbekannte Junge jetzt. Er starb im Alter von 58 Jahren und war nie über das Trauma hinweggekommen.

Für Oskar bestand keinerlei Zweifel daran, dass seinem Bruder Lothar ein anderes Leben beschieden gewesen wäre, hätte er der Mutter den kleinen Bruder wieder übergeben können. Sie hatte ihm Oskar anvertraut, hatte Erwartungen in ihn gesetzt. Sie allein hätte Lothar bestätigen können, dass er ihre Erwartungen erfüllte hatte, dass er seine Sache gut gemacht hatte und daher alles andere als ein Versager war.

Oskar will an dem Jungen gutmachen, was sein Bruder für ihn getan hatte. Am Montag mischt er sich mit Yolande unter die Angehörigen der Schulanfänger. Dabei fällt ihnen auf, dass das Mädchen mit der Schultüte nur vom Bruder begleitet wird, aber von keinem Erwachsenen. Und die beiden Kinder tragen dieselbe Kleidung wie bereits beim Besuch in der „Bastelinsel“. Als das Mädchen aufgerufen wird, erfahren Oskar und Yolande den Namen: Ella Baum.

Elise, die während der Abwesenheit Oskars und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Yolande auf den Laden aufpasste, stutzt, als sie den Namen Baum hört. Den erwähnte erst kürzlich ihre Tochter Kerstin, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen tätig ist. Kerstin erzählte von einem Gerüstbauer, der seit einem schweren Arbeitsunfall auf einen Rollstuhl angewiesen und geistig behindert ist: Johan Baum. Früher brachte ihn seine Frau in die Werkstatt, aber seit einigen Monaten lebt er im Heim.

Der zwölfjährige Junge heißt Yaron Baum. Er wurde in Russland geboren. Als er drei Jahre alt war, zogen die Eltern nach Deutschland und ließen ihn bei den Großeltern zurück. Seine Mutter Elvira, eine ausgebildete Schneiderin, verdiente Geld als Näherin. Als sie mit Ella schwanger war, kündigte sie in der Textilfabrik und übernahm Änderungsarbeiten, die sie zu Hause ausführen konnte. Vor zwei Jahren stürzte der Vater vom Gerüst. Seither fehlt nicht nur sein Verdienst, sondern es fallen auch Kosten an, die von der Krankenkasse nicht übernommen werden. Damit sich jemand um Ella kümmert, während Elvira bei der Arbeit ist, ließ diese den damals zehn Jahre alten Yaron aus Russland nachkommen. Seine Anwesenheit ermöglichte es ihr, Anfang des Jahres eine Saisonarbeit in der Schweiz anzunehmen. Einmal im Monat schickt sie Yaron Haushaltsgeld, und mitunter schaut sie für zwei, drei Tage nach ihren Kindern. Während sie, ihr Mann und die Tochter die deutsche Staatsangehörigkeit haben, hält Yaron sich illegal in Deutschland auf. Elvira, die ohnehin nur von einer Übergangslösung ausging, fehlte die Energie, um auch noch die Formalitäten mit den Behörden zu erledigen. Er ist weder gemeldet, noch besucht er eine Schule. Niemand darf erfahren, dass er und seine Schwester allein sind, denn sonst würden die Behörden sie womöglich in Kinderheime schicken.

Nachdem Oskar die Adresse der Familie Baum herausgefunden hat, klingelt er dort, aber niemand öffnet. Er ahnt, dass der Junge zu Hause ist, sich aber nicht zeigt. In dieser Situation bittet er seinen 13-jährigen Enkel Jonathan Reich um Hilfe, denn er hofft, dass es diesem leichter fällt, das Misstrauen des anderen Jungen zu überwinden.

Jonathans Unterarme sind geschient, denn er hat sich beim Turnen beide Handgelenke angebrochen. Als er vor dem Haus, das ihm der Großvater nannte, Handyfotos machen will, fällt ihm ein Schlüssel zu Boden und rutscht in die Fuge zwischen zwei Platten, in die Jonathan mit seinen verbundenen Händen nicht greifen kann. Ella kommt ihm zu Hilfe, und dann nähert sich auch ihr Bruder. Nach dieser ersten Kontaktaufnahme folgt Jonathan den beiden und beobachtet, wie der Junge versucht, in einer Buchhandlung ein Kinderbuch zu stehlen. Eine Angestellte eilt bereits auf ihn zu, als Jonathan beherzt dazwischen geht, den Dieb wie einen alten Freund zur Kasse begleitet und das Buch bezahlt.

Yaron bedankt sich und erklärt Jonathan, dass er Ella ein Kinderbuch versprochen habe, aber dafür kein Geld mehr übrig gewesen sei.

Die beiden fast gleichaltrigen Jungen werden Freunde. Und es dauert nicht lang, bis Jonathan gesteht, dass er nicht zufällig vor dem Haus stand. Er erzählt, dass sein Großvater, dessen Freundin und deren Schwester sich Sorgen um Yaron und Ella machen und ihnen unbedingt helfen möchten. Yaron schweigt zunächst, dann vertraut er seinem Freund seine Geschichte an und beantwortet auch die Frage nach seiner Schwerhörigkeit: Vor einigen Monaten geriet seine Mutter so in Zorn, dass sie ihn heftig schlug und offenbar den Gehörschaden verursachte. Sie weiß davon nichts, und Yaron kann auch nicht zu einem Arzt gehen.

Als Yaron von Jonathan erfährt, dass sich die Erwachsenen in den Kopf gesetzt haben, seine Mutter aus der Schweiz zurückzuholen, weil sie glauben, dann werde alles gut, gerät er in Angst, denn er weiß, dass dies keine Lösung für ihn wäre.

Es würde wieder zu Schlägen kommen. Damit rechnete er. Die Vorteile, die seine Mutter durch seine momentane Anwesenheit hatte, würden sich bei ihrer Rückkehr schlagartig in Nachteile verwandeln. Er würde ihr zusätzlich auf der Tasche liegen. Sein Hörvermögen erlaubte ihm keinen normalen Schulbesuch. Sie müssten für Arztkosten und ein Hörgerät aufkommen. Fraglich war außerdem, ob sie einem Arztbesuch zustimmen würde. Immerhin konnte ein Arzt mit Sicherheit feststellen, was die Ursache für seine Schwerhörigkeit war.

Kerstin nimmt es mit Vorschriften zwar sehr genau, doch immerhin verrät sie ihrer Mutter, dass Johan Baum einmal eine Ansichtskarte aus St. Gallen mit einem Foto der Pension Eggermeier erhielt. Oskar lässt dort ein Zimmer reservieren und fährt mit dem Zug in die Schweiz. Elvira Baum arbeitet in dieser Saison als Aushilfskraft in der Pension. Oskar erfährt von Frau Eggermeier, dass Elvira vorhat, ab Oktober in der anrüchigen Gaststätte „Zum Hirschen“ zu arbeiten. Sie glaubt, in Deutschland kümmere sich Elviras Schwager um die Tochter, die bereits das Gymnasium besuche. Von einem Sohn ist ihr nichts bekannt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Ohne Umschweife spricht Oskar Elvira Baum auf ihre beiden Kinder an. Die Einmischung behagt ihr zwar nicht, aber sie hat ohnehin einen Besuch in Deutschland geplant und ist bereit, sich anzuhören, wie Oskar, Yolande und Elise ihr helfen wollen.

Die drei hilfsbereiten Personen erkundigen sich nach den erforderlichen Behördengängen. Sie halten es für erforderlich, dass Yaron beim Einwohnermeldeamt registriert wird und die Schule besucht. Auf Kindergeldnachzahlungen für Elvira Baum hoffen sie. Aber sie rechnen auch damit, dass das Ganze nicht ohne Konsequenzen zu haben sein wird. Kerstin schimpft bereits, dass längst das Jugendamt hätte eingeschaltet werden müssen.

Jonathan berichtet Yaron, dass sein Großvater in St. Gallen war und mit Yarons Mutter sprach.

Der Dreizehnjährige weiß, dass er seinem Freund nicht wirklich helfen kann. Und er ahnt, dass die wohlmeinenden Erwachsenen etwas falsch machen.

In seiner Hilflosigkeit vertraut er sich seiner Mutter Gudrun an. Die versteht sogar, wie es dazu kam, dass Elvira Baum ihren Sohn schlug. Die Frau fühlt sich nicht nur überfordert, sondern sie hasst sich vermutlich auch dafür, dass sie mit ihrem Leben gescheitert zu sein glaubt und ihren Sohn verloren hat. Eine Frustration wie diese entlädt sich häufig in Aggressionen. Gudrun verspricht ihrem Sohn, über eine mögliche Lösung nachzudenken.

Als Elvira Baum mit dem Zug kommt, holen Oskar und Yolande sie am Bahnhof ab und bringen sie zu ihrer Wohnung.

Elvira weiß bereits durch einen Anruf Gudrun Reichs, dass sie dort einen Brief ihres Sohnes vorfindet. Yaron teilt ihr mit, dass er auf dem Weg zu sein Großeltern sei. Begleitet wird er von der Mutter seines Freundes, die auch Jonathans vor Jahren ausgestellten Kinderausweis dabei hat und Yaron als ihren Sohn ausgibt. In Yarons russischem Heimatdorf werden sie von Elviras Eltern und ihrem Bruder Pavel Nikolajewitsch herzlich begrüßt. Als Gudrun am nächsten Tag zurückreist, weiß sie, dass der Junge dort gut aufgehoben ist.

Davon ist auch Elvira überzeugt. Sie bleibt bei ihrer Tochter in Deutschland. Yolande hat sich mit einigen anderen Geschäftsfrauen – darunter einer Gärtnerin und einer Änderungsschneiderin – zusammengetan. Jede von ihnen beschäftigt und bezahlt Elvira für eine fest vereinbarte Zahl von Stunden pro Woche. In der Summe verdient sie genügend, um davon mit Ella zusammen leben zu können.

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In ihrem Debütroman „Yaron“ erzählt Elisabeth Wintermantel eine ergreifende Geschichte über eine zerbrochene Familie. Sie tut das ohne Sentimentalität, feinfühlig, unaufgeregt und unspektakulär. Die Figuren wecken sogleich das Interesse des Lesers. Schritt für Schritt deckt die Autorin die Zusammenhänge auf und ruft dabei zugleich neue Ungewissheiten hervor, die zusammen mit geschickt verteilten Andeutungen und dem einen oder anderen Cliffhanger für Spannung sorgen.

Elisabeth Wintermantel entwickelt die Handlung in „Yaron“ nicht chronologisch-linear, sondern im Wechsel verschiedener Perspektiven. Als (fiktiven) Autor des Buches und Ich-Erzähler führt sie Jonathan ein, der zum Zeitpunkt des Geschehens 13 Jahre alt war und nun die Tagebücher seines Großvaters Oskar geerbt hat. Jonathan lässt aber auch die Ansichten anderer Beteiligter – Yolande, Elise, Gudrun, Yaron, Ella und Elvira – in seine Darstellung einfließen. Auf diese Weise wird das Geschehen von verschiedenen Seiten betrachtet, und Elisabeth Wintermantel kann Beweggründe von Handelnden verständlich machen, ohne als auktoriale Erzählerin bzw. Kommentatorin aufzutreten.

Der Aufbau des Romans „Yaron“ ist so wohldurchdacht, dass jedes Rädchen ins andere greift. Elisabeth Wintermantel leuchtet die Vorgänge und Motivationen gründlich aus, ohne geschwätzig zu werden. Im Gegenteil: Sie erzählt stringent und ohne Durchhänger.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Verlag 3.0 Zsolt Majsai

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