Peter Weiss : Fluchtpunkt

Fluchtpunkt
Fluchtpunkt Manuskript: 1960 Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1962
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Fluchtpunkt" ist ein autobiografischer Roman, in dem Peter Weiss (1916 - 1982) über seine Entwicklung vor allem vom 24. bis 31. Lebensjahr nachdenkt. Zwei Reisen rahmen diesen Zeitraum ein: 1940 verließ er sein Elternhaus und zog nach Stockholm. Sieben Jahre später reiste er nach Paris.
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Kritik

"Fluchtpunkt" ist ein Buch der Erinnerung und der Besinnung, mehr ein innerer Monolog als eine dramatische Handlung. Es geht um die Suche eines nachdenklichen jungen Mannes nach der eigenen Identität.
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1960, also mit 44 Jahren, schreibt Peter Weiss die Autobiografie „Fluchtpunkt“ — nicht ohne über die Fragwürdigkeit solcher Erinnerungen nachzudenken.

Tausendfach verändert sind unsere Gedanken, Empfindungen, Erwägungen, versuchsweise werden sie hingeschrieben, zwanzig Jahre später, nicht mehr überprüfbar, denn der einzige Zeuge, der mich widerlegen könnte, mein damaliges Ich, ist verwittert, in mich aufgegangen. Mit dem Schreiben schaffe ich mir ein zweites, eingebildetes Leben, in dem alles, was verschwommen und unbestimmt war, Deutlichkeit vorspiegelt.

Der Vater kam aus einem ungarischen Dorf, wo seine jüdischen Eltern einen Getreidehandel betrieben. Als junger Mann ging er nach Wien und trat zum Christentum über. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt er die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, ließ sich jedoch als Textilfabrikant in Deutschland nieder. Die Mutter, deren Vorfahren aus Basel und Straßburg stammten, war vor der Eheschließung eine erfolgreiche Schauspielerin.

Peter Weiss wurde am 8. November 1916 in der Nähe von Berlin geboren.

Als Kind, so erinnert er sich später, saß er einmal mit einem Gleichaltrigen zusammen. Da wurden sie von einer Gruppe anderer Kinder angegriffen. Sofort schlug er sich auf die Seite der Angreifer und gebärdete sich gegenüber dem Opfer besonders brutal, damit niemand auf die Idee kam, auch ihn zu attackieren. Jahrzehnte später wird ihm klar, „dass ich auf der Seite der Verfolger und Henker stehen konnte. Ich hatte das Zeug in mir, an einer Exekution teilzunehmen.“

1918 zog die Familie nach Bremen, elf Jahre später kehrte sie nach Berlin zurück. Als die Eltern 1934 mit Peter Weiss und seinen Geschwistern nach London emigrierten, empfand er das nicht anders als einen erneuten Umzug.

In der Verfolgung, die ich von Anfang an gewohnt war, sah ich mich nicht als Angehörigen einer Rasse, sondern nur als Andersgearteten, den jedes Rudel aufspüren und ankläffen musste.

Die plötzliche Ernennung zum Ausländer und Halbjuden, das Verbot der Teilnahme am gemeinsamen Gruß, beeindruckte mich nicht, da mir die Fragen der Nationalität und rassischen Zugehörigkeit gleichgültig waren.

1936 ging Familie Weiss nach Wansdorf in Böhmen, und 1939 floh sie vor den Deutschen nach Alingsas in Schweden.

Die Engländer riefen Peter Weiss „Fritz“, und in Böhmen wurde er trotz seiner tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit verspottet, weil er die Landessprache nicht beherrschte.

Ich war Fremder, wo ich auch hinkam.

Als Hitler im Frühjahr 1939 das „Protektorat Böhmen und Mähren“ ausrief, hielt Peter Weiss sich gerade in der Schweiz auf. Man verhaftete ihn als verdächtigen Ausländer. Als er jedoch nachweisen konnte, dass seine Familie seit kurzem in Schweden lebte und wohlhabend war, duldeten ihn die Schweizer Behörden einige Monate in ihrem Land, bis er seinen Eltern folgte.

Ich spürte keine Schuld, dass ich am Krieg nicht teilnahm und dass ich mit keiner Nation, keiner Rasse solidarisch war.

Da Peter Weiss die bürgerliche Familie nicht als Refugium, sondern als Beschränkung empfand, nahm er sich an seinem 24. Geburtstag ein Zimmer in einer Pension in Stockholm. Dort wollte er als Maler leben.

In der vergangenen Nacht, als ich im Elternhaus meine Koffer packte, glaubte ich, dass jetzt mein eigenes Leben beginnen würde. Das eigene Leben aber hatte mit der Geburt begonnen, es war ein einziges unteilbares Leben, in dem es nur ein Fortsetzen gab.

Peter Weiss erinnert sich an einen aus Berlin nach Schweden geflüchteten Arzt namens Hoderer.

Wie andere emigrierte Ärzte und Wissenschaftler durfte er seinen Beruf nicht ausüben. Aus nationalem Dünkel und Furcht vor Konkurrenz wurden die ausländischen Kräfte nur zu mechanischen Archivarbeiten zugelassen. In der Asthmakrankheit, von der Hoderer in der Untätigkeit befallen worden war, äußerte sich ein langsames seelisches Ersticken. Hoderers Gesicht schwoll an im Anfall des Hustens. Die Adern auf der Stirn traten hervor, die Haut nahm eine bläuliche Färbung an und Schweißtropfen rollten an den Schläfen herab. Obgleich die Augen in den Höhlen vorquollen und Speichel aus seinem Mund rann, verlor sein Gesicht nicht den Ausdruck von Sammlung und Geduld. Seine Frau und seine Freunde, die zugegen waren, nahmen keine Notiz von der Attacke. Seine Frau reichte ihm nur die Ledertasche mit der Spritze. Das Gespräch wurde fortgesetzt und niemand blickte ihn an, als er mit zitternder Hand die Ampulle aufbrach, die Spritze füllte und sich die Nadel in den Arm stach.

Im Frühjahr 1943 unterließ Hoderer es, sich bei einem Asthmaanfall die Spritze zu geben und erstickte.

Im Skansenpark sprach Peter Weiss eine junge Frau an. Sie hieß Else.

Wir hatten einander gewählt, um heute Abend nicht allein zu sein. Mit Berührungen konnten wir einander von unserer Nähe überzeugen.

Obwohl Peter Weiss einige Zeit später wusste, dass Else von ihm schwanger war, sahen sie sich ein Jahr lang nicht mehr. Dann besuchte er sie. Aber da war statt eines Säuglings ein anderer Mann.

Eine Ausstellung im März 1941, für die er seine letzten Ersparnisse aufgebraucht hatte, erwies sich als Misserfolg.

Auch mit seiner neuen Geliebten Edna zeugte er ein Kind, aber sie ließen es in seiner Wohnung von einem aus Ungarn immigrierten Arzt abtreiben. Kurz darauf tauchte die Mutter der jungen Frau auf und nahm ihre Tochter mit. Gegen den Willen der seit vielen Generationen in Stockholm ansässigen wohlhabenden Familie heirateten Edna und Peter Weiss.

Einmal half er einen Monat lang bei der Heuernte. Während der Bauer und die Bäuerin saftiges Fleisch und frische Kartoffeln aßen und zum Kaffee Sahne und Zuckerstückchen nahmen, setzten sie dem Gesinde nur minderwertiges Essen vor.

Es gab keine Leibeigenen mehr, die Knechte gehörten der Organisation der Landarbeiter an, und doch lebte auf diesem Hof der alte Geist fort, und niemand lehnte sich dagegen auf. Die Mägde hausten in einer fensterlosen Scheunenstube, und die Kammer, die ich mit dem Knecht teilte, wäre für ein Pferd unwürdig gewesen.

Meine Versuche, den Knecht auf die herrschenden Missverhältnisse aufmerksam zu machen, stießen auf einen stumpfen Widerstand. … Die Mägde kicherten nur, sie schienen nichts zu wissen und nie etwas wissen zu wollen.

Peter Weiss, der nichts zu verlieren hatte, stand an einem Samstag nach dem Mittagessen auf, ging hinüber zum Bauern und seiner Frau, nahm Buttertopf, Kaffeekanne und Zuckerschale und trug sie in die Küche, wo ihn der Knecht und die Mägde fassungslos anstarrten. Während er sein Brot dick mit Butter bestrich und sich Kaffee einschenkte, standen der Bauer und die Bäuerin in der Tür, ohne etwas zu sagen. Sie erklärten sich das wohl alle damit, dass er als Ausländer die Verhältnisse nicht kannte.

Als er sich als Waldarbeiter verdingte, stieß er auf „Männer, die nichts vom Dasein erwarteten, die den Tag hinnahmen wie er kam“.

Sie ließen mich lesen ohne Spott, weil ich ihnen zeigte, dass ich wie sie arbeiten konnte, doch sie schüttelten den Kopf über mich und fragten mich, was ich davon hätte. Auch, dass ich schreibend über einem Heft saß und manchmal zeichnete, verstanden sie nicht. Sie hätten mich verachtet, wenn ich nicht morgens mit ihnen in den Wald und abends mit ihnen aus dem Wald gestiegen wäre.

Sie trugen an der Überlieferung, dass Bildung und Kunst ein Luxus war.

Für mich erhielten die Dinge erst einen Wert, wenn ich sie mir deutlich gemacht hatte. Die andern lebten einfach mit den Dingen.

Nach der Geburt einer Tochter wurde Peter Weiss erstmals von seinem Schwiegervater eingeladen. Allerdings verbat sich dieser das „Du“ und betonte, dass man nur notgedrungenerweise versuchen wollte, den Schwiegersohn als Familienmitglied aufzunehmen. (Peter Weiss war wieder jemand, der nicht dazugehörte.)

Die Ehe mit Edna verlief nicht glücklich. Peter Weiss gibt selbst zu, dass er sich weder um seine Tochter noch um den Haushalt kümmerte.

Nach dem Krieg wurde er von Gewissensnöten gepeinigt, weil er den Holocaust überlebt hatte:

Lange trug ich die Schuld, dass ich nicht zu denen gehörte, die die Nummer der Entwertung ins Fleisch eingebrannt bekommen hatten, dass ich entwichen und zum Zuschauer verurteilt worden war.

Er suchte nach seiner Identität, obwohl eine Freundin (Fanny) zu ihm sagte:

Eben weil du dich nicht anerkennst, weil du dich bezweifelst, grübelst und gräbst du an dir selbst herum. Wenn du dich wirklich anerkennst, dann lässt du dich in Frieden, dann lässt du dich dastehn, wie du bist, und fragst nicht danach, auf welche Weise deine Maschinerie funktioniert.

Im Frühjahr 1947 reiste Peter Weiss nach Paris.

Dies war der Augenblick der Sprengung, der Augenblick, in dem ich hinausgeschleudert worden war in die absolute Freiheit, der Augenblick, in dem ich losgerissen worden war von jeder Verankerung, jeder Zugehörigkeit, losgelöst von allen Nationen, Rassen und menschlichen Bindungen, der Augenblick, den ich mir gewünscht hatte, der Augenblick, in dem die Welt offen vor mir lag.

Und die Sprache, die sich jetzt einstellte, war die Sprache, die ich am Anfang meines Lebens gelernt hatte, die natürliche Sprache, die mein Werkzeug war, die nur noch mir selbst gehörte, und mit dem Land, in dem ich aufgewachsen war, nichts mehr zu tun hatte. Diese Sprache war gegenwärtig, wann immer ich wollte und wo immer ich mich befand. Ich konnte in Paris leben oder in Stockholm, in London oder New York, und ich trug die Sprache bei mir, im leichtesten Gepäck.

Hoffnungsvoll endet der Roman:

An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamme in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, dass ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.

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Der Roman „Fluchtpunkt“ ist keine Autobiogafie im Sinne einer ereignisreichen Chronik. Die „äußeren“ Begebenheiten spielen nur als Auslöser für Reflexionen eine Rolle. Hin und wieder stellt Peter Weiss eine Szene ausführlicher dar, dann aber auf besonders anschauliche Weise, zum Beispiel seine Erfahrungen als Erntehelfer und Waldarbeiter.

„Fluchtpunkt“ ist ein Buch der Erinnerung und der Besinnung, mehr ein innerer Monolog als eine dramatische Handlung. Peter Weiss thematisiert darin die Suche eines nachdenklichen jungen Menschen nach der eigenen Identität.

Literatur über Peter Weiss: Jochen Vogt, Peter Weiss (Rowohlt Bildmonographie)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Peter Weiss (kurze Biografie)

Peter Weiss: Abschied von den Eltern

Irene Dische - Schwarz und weiß
Irene Dische nimmt in dem zynisch-satirischen Roman "Schwarz und Weiß" die Kreise liberaler, wohl­haben­der Intellektueller in New York aufs Korn und dekonstruiert den amerikanischen Traum. Die Figuren bleiben klischeehaft, aber böser Witz sorgt für Unterhaltung.
Schwarz und weiß