Minette Walters : Der Nachbar

Der Nachbar
Acid Row Macmillan, London 2001 Der Nachbar Übersetzung: Mechthild Sandberg-Ciletti Wilhelm Goldmann Verlag, München 2002 ISBN 3-442-30969-7, 414 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als das Gerücht sich ausbreitet, dass in dem Wohnviertel Bassindale Estate ein pädophiler Straftäter nach der Verbüßung seiner Haftstrafe eingezogen ist, empören sich die Nachbarn. Als kurz darauf ein kleines Mädchen vermisst wird, organisieren sie am 28. Juli 2001 einen Protestmarsch, der rasch außer Kontrolle gerät. Randalierende Jugendliche verwandeln das Viertel in einen Hexenkessel. Drei Menschen sterben bei den Unruhen, 189 werden verletzt.
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Kritik

Die Darstellung wirkt wie die umfangreiche Reportage einer genauen Beobachterin. Minette Walters stellt die Vorgänge so minuziös und szenisch dar, dass der Leser glaubt, als Beobachter dabei zu sein. Selten habe ich einen so psycho-logischen Roman wie "Der Nachbar" gelesen.
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Das Gerücht

Bassindale Estate ist ein problematisches, von Unterprovilegierten bewohntes Viertel bei Southampton. Eine der wichtigsten Straßen heißt Bassindale Row, aber irgendjemand hat auf dem Schild Buchstaben weggekratzt, bis „ASSI D ROW“ übrigblieb: Acid Row. Acid, das bedeutet nicht nur Säure, sondern steht auch für LSD und den Heroinersatz Methadon.

Hier ist seit dreißig Jahren die Sozialarbeiterin Fay Baldwin tätig, eine ledige, kinderlose, frustrierte und verbitterte Frau, die jetzt kurz vor der Pensionierung steht. Am 20. Juli 2001 schaut sie bei Melanie („Mel“) Patterson in der Humbert Street vorbei. Die Achtzehnjährige bekam ihr erstes Kind – Rosie – mit vierzehn, ihr zweites – Ben – zwei Jahre später und ist inzwischen erneut schwanger, diesmal von Jimmy James, einem jungen Schwarzen, der vor ein paar Tagen aus dem Gefängnis kam. Er hat die Hälfte der achtmonatigen Haftstrafe abgesessen, zu der er wegen einer Reihe kleinerer Straftaten verurteilt worden war. Fay regt sich über die schmutzige, unaufgeräumte Wohnung Mels auf und vor allem darüber, dass die Schwangere rauchend auf der Couch liegt. Weil Fay überzeugt ist, dass Mel sich zu wenig um ihre Kinder kümmert, lässt sie sich dazu hinreißen, ihr zu verraten, dass man in der Humbert Street einen Pädophilen untergebracht habe. Sie bereut ihren Fehler sofort, aber es ist zu spät.

Mel entrüstet sich gegenüber ihrer Mutter Gaynor Patterson darüber, dass die Behörden einen Pädophilen in diese kinderreiche Wohnsiedlung gebracht haben. Rasch verbreitet sich das Gerücht. Der Verdacht richtet sich auf Mels Nachbarhaus, in dem kürzlich zwei Männer eingezogen sind, die keinerlei Kontakt zu den anderen Bewohnern aufgenommen haben. Es handelt sich um einen älteren Mann, der das Haus nie verlässt, und um einen jüngeren, der hin und wieder beim Einkaufen gesehen wird. Der Briefträger weiß aufgrund von Nachsendungen, dass die beiden vorher in Portisfield wohnten.

Ein vermisstes Kind

Am Freitag, den 27. Juli 2001, wird die zehnjährige Amy Biddulph in Portisfield von ihrer Mutter Laura als vermisst gemeldet. Amys Vater ist Martin Rogerson, ein Rechtsanwalt Ende fünfzig mit einer Kanzlei in Bournemouth. Vor neun Monaten verließ ihn seine fünfundzwanzig Jahre jüngere Frau Laura mit ihrer Tochter und zog zu seinem Mandanten Edward („Ed“) Townsend. Sie war froh, endlich einen liebevollen Mann gefunden zu haben, aber nach vier Monaten wurde sie auf Amy eifersüchtig, weil das Kind Ed anhimmelte, und dann ertappte sie ihn, wie er im Bad Videoaufnahmen von dem nackten Mädchen machte. Laura lief mit Amy davon, und um ein Dach über dem Kopf zu haben, ließ sie sich vor zwei Monaten auf ein Verhältnis mit dem ungeschlachten Busfahrer Gregory („Greg“) Logan ein. Weil sie arbeiten muss, bezahlt sie Gregs fünfzehnjährige Tochter Kimberley dafür, tagsüber auf Amy aufzupassen. Aber Kimberley und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Barry tyrannisieren das Mädchen und tun alles, damit die ihnen verhasste Laura nicht ihre Stiefmutter wird. Als Amy an diesem Abend nicht aufzufinden ist, stellte sich heraus, dass sie sich seit zwei Wochen jeden Tag irgendwo herumgetrieben hat und Kimberley nichts unternahm, weil sie froh war, das lästige Kind los zu sein.

Durch die Nachricht über das in Portisfield vermisste Mädchen erhält der von Mel und Gaynor Patterson organisierte Prostestmarsch gegen die Ansiedlung eines Pädophilen in Bassindale Estate eine unvorhergesehene Dynamik. Da die beiden verdächtigen Männer aus Portisfield kommen, liegt der Schluss nahe, dass Amy ein weiteres Opfer des Pädophilen geworden ist. – Die Demonstration soll am Samstag, den 28. Juli 2001, stattfinden.

Gewaltsamer Protest

An diesem Nachmittag wird die junge Ärztin Dr. Sophie Morrison vom Nightingale Health Care Centre zwei Stunden nach Dienstschluss in ihrem Auto angerufen und gebeten, nach einem einundsiebzigjährigen Asthmatiker in der Humbert Street zu sehen. Sophie ist mit ihrem Verlobten Bob Scudamore verabredet, der gerade Oberarzt am Krankenhaus in Southampton wurde, aber sie fährt noch bei dem Asthmatiker vorbei.

Als Sophie nach der Behandlung ahnungslos aus dem Haus tritt, trifft ein Stein sie am rechten Arm. Erschrocken weicht sie zurück und schlägt die Haustür zu. Draußen lärmt eine aufgebrachte Menschenmenge. Sophie befindet sich im Haus der Verdächtigen! Als der ältere der beiden Männer die Gefahr erkennt, hält er Sophie als Geisel fest. Die Ärztin ahnt, dass er durch die Angst anderer Menschen erregt wird. Um ihm ihre Furchtlosigkeit zu demonstrieren, spricht sie ihn darauf an – und er antwortet ihr mit einem Faustschlag ins Gesicht.

Der zweite Mann, ein schüchterner Fünfundvierzigjähriger, lässt es geschehen. Er ist der Sohn des anderen, heißt Milosz Zelowski, erhielt jedoch von den Behörden zur Tarnung den Namen Nicholas Hollis. Milosz war Lehrer an einer Privatschule, bis er mit einem Schüler in flagranti erwischt wurde und auch zwei weiter zurückliegende sexuelle Übergriffe zugab. Im Verlauf von fünfzehn Jahren hatte er dreimal einen Jungen mit der Hand zum Orgasmus gebracht, eigenartigerweise ohne sich jemals selbst in irgendeiner Weise sexuell stimulieren zu lassen. Jeder der drei zum Tatzeitpunkt sechzehn bzw. siebzehn Jahre alten Jungen hatte bereits homosexuelle Erfahrungen, und sie sagten übereinstimmend aus, dass die Initiative von ihnen ausgegangen war. Sie hätten ihn auch nicht angezeigt, aber ihre Eltern bestanden auf der Strafverfolgung, denn sie brauchten jemand, den sie für die Homosexualität ihrer Söhne verantwortlich machen konnten. Milosz wurde zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Im Mai kam er aus dem Gefängnis. Er und sein Vater Franek wohnten zunächst in Portisfield, doch als eine Lokalzeitung ein Foto von Milosz Zelowski veröffentlichte und er bedroht wurde, gaben ihm die Behörden einen neuen Namen und stellten ihm ein Haus in Bassindale Estate zur Verfügung.

Sein Vater stammt von polnischen Zigeunern ab und wuchs in einer Welt auf, in der das Familienoberhaupt als absoluter Alleinherrscher galt. Franek schlug seine Frau und verprügelte Milosz mit der Peitsche. Als Milosz fünf Jahre alt war und seine Mutter verlor, kam er dahinter, dass er seinen rabiaten Vater wenigstens zeitweise ablenken konnte, wenn er an dessen Genitalien herumspielte. Die eigene Sexualität macht Milosz heute noch Angst, und der Gedanke an die Penetration einer Frau ist ihm zuwider.

Der Pädophile war den Leuten in der Acid Row nur ein Vorwand, um ihrem brodelnden Groll Luft zu machen. Sie waren die Juden im Getto, die Schwarzen in den Townships, die Ausgestoßenen, die am Wohlstand der Gesellschaft keinen Anteil hatten. (Seite 125)

Zweitausend Menschen sind in Bassindale Estate auf den Beinen. Der Protestmarsch gerät außer Kontrolle. Randalierende Jugendliche riegeln die Zufahrtstraßen ab. Weder Polizei- noch Rettungsfahrzeuge können die Barrieren passieren. Wesley Barber, ein fünfzehnjähriger Junkie, zapft mit seinem gleichaltrigen Freund Kevin Charteris Benzin aus geparkten Autos ab und bastelt daraus Molotow-Cocktails. Mels vierzehnjähriger Bruder Colin Patterson, der sich auch immer mit Wesley herumgetrieben hat, sorgt sich, dass ein Feuer vom Haus des Pädophilen auf das Nachbarhaus übergreifen könnte, in dem Mels Kinder Rosie und Ben sind, aber er kann seine beiden Freunde nicht zurückhalten. Als Kevin eine heiß gewordene Flasche erschrocken fallen lässt, explodiert das Benzin-Luft-Gemisch zu seinen Füßen und setzt seine Kleidung in Brand. Mel reißt ihre Lederjacke herunter und wirft sich damit auf den brennenden Jungen, aber sie kann ihn nicht retten. Er stirbt. Das hält Wesley jedoch nicht davon ab, weitere Molotow-Cocktails gegen das Haus des Pädophilen zu schleudern. Die Eingangstür brennt bereits.

Ermittlungen

Chief Inspector Tyler vom Polizeipräsidium Hampshire leitet die Ermittlungen im Fall Amy Biddulph. Er geht von einer Entführung aus und befragt Personen aus dem Umfeld. Ed Townsend soll im Hotel Bella Vista in Puerto de Sóller auf Mallorca sein, aber statt eines Rückrufs von Townsend erhält Tyler einen von der achtzehnjährigen Begleiterin des Unternehmers: Franny Gough. Townsend hat sie am Freitagmorgen im Hotel zurückgelassen, die Rechnung nicht bezahlt und den Leihwagen mitgenommen. Weil sie kein Geld hat und es nicht wagt, ihre Mutter anzurufen, erlaubte ihr der Hoteldirektor, der von dem Anruf der Polizei in Hampshire wusste, sich mit Tyler in Verbindung zu setzen. Der Inspector telefoniert mit Mrs Gough und ersucht sie, die Hotelrechnung zu begleichen und einen vorzeitigen Rückflug für ihre Tochter zu buchen.

Wieso kehrte Townsend am Freitag mit der ersten Maschine aus Mallorca zurück? Hat er Amy entführt?

Es stellt sich heraus, dass der fünfundvierzigjährige Unternehmer zweimal geschieden wurde, in beiden Fällen auf Betreiben der Frau. Es gibt Gerüchte, dass seine erste Frau sich nicht nur wegen eines Ehebruchs von ihm trennte, sondern vor allem wegen seiner obsessiven Beziehung mit der zum Zeitpunkt der Scheidung achtjährigen Tochter seiner Geliebten. Martin Rogerson, der ihn bei den Scheidungen vertrat, sorgte dafür, dass die Nacktaufnahmen, die sein Mandant sowohl von den Frauen als auch von den vorpubertären Töchtern gemacht hatte, in den Verhandlungen keine Rolle spielten.

Tyler bestellt Martin Rogerson ins Präsidium, und weil der Befragte offenbar einiges verschweigt, nimmt Tyler ihn wegen des Verdachts auf Verabredung und Anstiftung zur Unzucht mit Minderjährigen fest. Der Anwalt könnte seine Tochter Amy an Townsend „ausgeliehen“ haben, um ihn nicht als Mandanten zu verlieren. Sergeant Gary Butler fragt besorgt, ob sein Chef mit der Verhaftung nicht zu weit gegangen sei, und Tyler gesteht, dass er nur aus einem Impuls heraus gehandelt hat und sich keineswegs sicher ist, dass Rogerson mit der Entführung Amys zu tun hat.

Außer Kontrolle

Während Franek und Milosz damit beschäftigt sind, sich mit Sophie in einem Zimmer im Obergeschoss des Hauses zu verbarrikadieren, gelingt es ihr, unbemerkt über ihr Handy im Nightingale Health Care Centre anzurufen und mitzuteilen, dass sie im Haus ihres letzten Patienten gewaltsam festgehalten wird und eine Vergewaltigung befürchtet. Dann schaltet sie das Telefon aus, damit es nicht bei einem Rückruf klingelt und die Männer Verdacht schöpfen. Harry Bonfield, der ärztliche Leiter des Gesundheitszentrums, setzt sich mit Jimmy James telefonisch in Verbindung und überredet den Afroamerikaner, der gerade auf der Suche nach seiner schwangeren Verlobten ist, Sophie zu befreien, bevor die junge Ärztin vergewaltigt wird.

Der Witwer Arthur Miller, ein verwirrter Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, der mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und einer rostigen Machete in der Hand auf der Straße steht, beobachtet, wie Jimmy durch eine Hintertür in das Haus des Pädophilen eindringt. Entrüstet eilt er ihm nach: Der Schwarze will offenbar den Aufruhr nutzen, um zu plündern!

Im Haus trifft Jimmy auf Colin und hilft ihm beim Löschen der Flammen im Eingangsbereich. Draußen versucht Mel die Randalierer zurückzuhalten.

Als Franek hört, dass jemand im Haus ist, schlägt er seinen Sohn mit einem Stuhl nieder und wirft sich auf Sophie. „Hilflos wie ein aufgespießter Schmetterling“ (Seite 306) liegt sie unter ihm. Mit einer Hand presst er ihre Handgelenke auf den Boden, mit der anderen nestelt er am Reißverschluss seiner Hose. Miller hört Sophies gellenden Schrei und befürchtet, dass der Schwarze jetzt auch noch die Frau vergewaltigt. Jimmy rennt auf den Schrei hin nach oben und bricht die Tür auf. Der Alte droht, der bewusstlosen Frau das Genick zu brechen, sobald Jimmy sich nähert. Jimmy kennt den ebenfalls niedergeschlagenen Sohn aus dem Knast. Hätte er dessen richtigen Namen rechtzeitig erfahren, wäre er in der Lage gewesen, Mel zu beruhigen, denn er weiß, dass Milosz ihren Kindern nichts tun würde.

Sophie kommt zu sich und entkommt Franeks Griff. Jimmy fesselt ihm mit einer Krawatte die Hände und macht ihm klar, dass er mitkommen müsse, wenn er nicht zusammen mit seinem Sohn von der Menge gelyncht werden wolle. Mit dem Bewusstlosen über der Schulter und Franek und Sophie vor sich flüchtet Jimmy unbemerkt von der Menge aus dem Hintereingang. Sie bringen sich in einem Haus in Sicherheit, bei dessen Bewohnerin es sich um eine Krebspatientin Sophies handelt. Jimmy fesselt Franek mit Strumpfhosen, dann läuft er wieder los, um sich um Mel zu kümmern.

Miller hat im letzten Augenblick der Mut verlassen, und statt den Schwarzen anzugreifen, versteckte er sich im Haus.

Als Jimmy nicht wieder auftaucht, denkt Colin enttäuscht, er habe es auf die Geräte im Musikstudio des Pädophilen abgesehen, das sei ihm wichtiger als Mel und deren Kinder. Mel befürchtet ebenfalls, dass Jimmy sie im Stich gelassen hat. Plötzlich rammt Wesley Barber ihr eine Faust in den schwangeren Bauch. Sie bricht zusammen. Colin wirft sich schützend über seine ältere Schwester.

So findet Jimmy die beiden vor. Mel atmet noch, aber Colin ist tot.

Im Haus haben Wesley und seine Kumpane den alten Miller in ihrer Gewalt. Wesley sticht ihn mit seinem Messer, denn er hält ihn für den Perversen. Jimmy versucht, die Jugendlichen von ihrem Opfer abzulenken, indem er sie auf die teuren Geräte in dem Musikstudio aufmerksam macht, aber da entdeckt einer im Obergeschoss das Blut und schreit, hier sei Amy vergewaltigt worden. Wesley holt mit seiner Machete aus und trifft Jimmy am Kopf. Der sinkt besinnungslos zu Boden.

Dann reißt Wesley dem alten Mann die Hose herunter und hackt ihm mit der rostigen Machete die Genitalien ab, bevor er ihm eine Schlinge um den Hals bindet und ihn daran aus einem der oberen Fenster hängt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Aufklärung

Ed Townsend kommt zu einer Geschäftsbesprechung ins Hilton Hotel von Southampton und wird dort von Chief Inspector Tyler abgefangen. Townsends vor zehn Jahren – auch mit Geld von Martin Rogerson – gegründetes Bauunternehmen ist pleite. Am Donnerstag rief Rogerson in Mallorca an, um Townsend mitzuteilen, dass ein Investor absprang, die Bank den Kredit aufkündigte und er die geplante Krisensitzung auf Samstag vorverlegte. Daraufhin flog Townsend am Freitagmorgen zurück.

Die Polizei findet Amy in einem Ed Townsend gehörenden Haus in Lower Burton, Devon. Die Zehnjährige ist wie eine kleine Nutte zurechtgemacht.

Martin Rogerson wird zu Inspector Tyler ins Hotel Hilton gebracht. Er beteuert, nicht geahnt zu haben, dass sein Mandant der Entführer seiner Tochter ist.

Townsend sagt aus, Amy sei von Kimberley und Barry Logan tyrannisiert worden und habe sich fast täglich bei ihm am Telefon ausgeweint. Er habe sie zu sich geholt, aber nichts gegen ihren Willen mit ihr gemacht; er sei kein Kinderschänder. Tyler durchschaut die Taktik:

„Sie haben so wenig Neigung zum Sex mit Kindern wie ich. Sie wollen uns das Gegenteil nur einreden. Ein geständiger Pädophiler, der seine Tat bereut und nicht vorbestraft ist – der dem Kind, das er entführt hat, nichts angetan hat – und auch sonst keinem Kind, das seiner Obhut anvertraut war –, wird natürlich eine viel leichtere Strafe bekommen, als ein Mann, der ein Kind zum Zweck der Erpressung raubt.“ (Seite 396)

Tyler geht davon aus, dass Townsend aus Berechnung sein gutes Verhältnis zu Amy aufrechterhalten habe. Als er dann erfuhr, dass ihm die Bank den Kredit gekündigt hatte und er befürchten musste, dass Rogerson seine Geschäftsanteile aus der bankrotten Firma abzieht, entführte er dessen Tochter und machte Nacktaufnahmen von ihr, um ihn mit der Drohung, diese den Geschäftspartnern zu schicken, erpressen zu können. – Der Inspector verhaftet Edward Townsend wegen erpresserischer Kindesentführung.

Drei Menschen starben bei den Unruhen am 28. Juli 2001 in Bassindale Estate und 189 wurden verletzt. Jimmy fehlt zwar das obere Drittel eines Ohres, aber darüber kommt er leicht hinweg, zumal seine Verlobte Mel bald darauf von einer gesunden Tochter entbunden wird, deren Vater er ist.

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Als eine englische Boulevardzeitung im Jahr 2000 Namen und Adresse eines Pädophilen nannte, kam es zu einer massenhysterischen Reaktion. Das brisante Thema griff Minette Walters in ihrem komplexen Roman „Der Nachbar“ auf. Die Darstellung wirkt hyperrealistisch, authentisch und wie eine umfangreiche Reportage. Minette Walters erklärt nicht, was geschieht, sondern sie stellt die Vorgänge so minuziös und szenisch dar, dass der Leser glaubt, als Beobachter dabei zu sein. Selten habe ich einen so psycho-logischen Roman wie „Der Nachbar“ gelesen.

Man könnte kritisieren, dass es klischeehaft ist, wenn ein krimineller Schwarzer in dem Aufruhr zum hilfreichen Helden wird, aber damit weist Minette Walters darauf hin, wie man sich täuschen kann, wenn man nur auf Äußerlichkeiten achtet. Der Schein trügt! Also steht diese Figur in engem Kontext zum Hauptthema. Da ist der Päderast, gegen den die Menge wütet, ein armseliger Neurotiker, der niemand etwas tut, während ein Mitglied der feinen Gesellschaft sich mit selbst gedrehten Pornofilmen bzw. Videos nackter präpubertärer Mädchen aufgeilt und ein Kind entführt, um einen Geschäftspartner erpressen zu können.

Eigentlich verfolgt Minette Walters in „Der Nachbar“ zwei Geschichten parallel. Die beiden aus wechselnden Perspektiven erzählten Handlungsstränge verknüpft sie so geschickt, dass die Spannung kaum noch zu überbieten ist. „Der Nachbar“ ist ein brillanter Roman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

Minette Walters (Kurzbiografie)

Minette Walters: Im Eishaus
Minette Walters: Die Bildhauerin
Minette Walters: Die Schandmaske
Minette Walters: Dunkle Kammern
Minette Walters: Wellenbrecher
Minette Walters: Fuchsjagd
Minette Walters: Der Außenseiter
Minette Walters: Der Schrei des Hahns
Minette Walters: Der Schatten des Chamäleons

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Obwohl es sich bei "Die blaue Blume" nicht um eine Biografie, sondern um einen Roman handelt, bleibt Penelope Fitzgerald sachlich und distanziert.
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