Martin Walser : Tod eines Kritikers

Tod eines Kritikers
Tod eines Kritikers Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2002 ISBN: 3-518-41378-3, 219 Seiten Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2009 ISBN: 978-3-499-25226-6, 269 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem der berühmte Literaturkritiker André Ehrl-König in seiner Fernsehsendung "Sprechstunde" den neuen Roman von Hans Lach verrissen hat, droht dieser ihm bei einem Empfang: "Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen." Am nächsten Morgen wird André Ehrl-König vermisst. Weil sein gelber Pullover blutbefleckt auf dem Kühler seines Autos liegt, geht die Polizei von einem Verbrechen aus und verhaftet Hans Lach ...
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Kritik

Bei dem Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser handelt sich um eine Farce über den Literatur- und Medienbetrieb, eine Groteske über die Macht in der Medienwelt und das Zustandekommen der öffentlichen Meinung.
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Der Schriftsteller Hans Lach wird in München verhaftet. Er steht im Verdacht, den berühmten Literaturkritiker André Ehrl-König ermordet zu haben.

In seiner seit siebzehn Jahren erfolgreichen Fernsehsendung „Sprechstunde“ thronte André Ehrl-König noch am Vorabend auf seinem Pseudo-Empire-Sessel. Dessen wie Löwenpranken geformten Füße stehen auf vier Büchern: „Faust“, „Effi Briest“, „Der Zauberberg“, „Berlin Alexanderplatz“. André Ehrl-König war stolz darauf, dass er „die Tradition des elenden Sowohl-als-auch in der Literaturkritik“ (Seite 40) beendet hatte und als „Entweder-Oder-Mann“ galt: Der Mann, der sich für die Gegenwartsliteratur persönlich verantwortlich fühlte, kannte nur gute und schlechte Bücher, nichts dazwischen. In seiner letzten Sendung empfahl er einen Roman von Philip Roth und verriss Hans Lachs Roman „Mädchen ohne Zehennägel“.

„Auf vierhundertneunzehn Seiten kein einziges Mädchen ohne Zehennägel.“ (Seite 42)

„Warum soll Hans Lach, solange er einen Verleger hat, der schlechte Bücher gut verkaufen kann, gute Bücher schreiben?“ (Seite 35)

„Ja, Sie lachen, meine lieben Damen und werte Herren, das letzte Mal, Sie erinnern sich: Botho Strauß war dran, habe ich eröffnet: Wer berühmt ist, kann jeden Dreck publizieren! Ich wette mit Ihnen, um was sie wollen, dass jetzt schon ein Professor dabei ist, mir zu beweisen, dass ich überpointiere, um nachher überall zitiert zu werden. Da kann ich nur sagen: Herr Professor, unterpointieren liegt mir nicht.“ (Seite 35)

Wie üblich, gab André Ehrl-Königs Verleger Ludwig Pilgrim nach der Sendung einen Empfang in seiner Villa in München-Bogenhausen. Autoren verrissener Bücher wurden dazu nie eingeladen. Dennoch tauchte Hans Lach auf und beschimpfte André Ehrl-König. Die Zeit des Hinnehmens sei vorbei, drohte er dem jüdischen Kritiker.

„Sehen Sie sich vor, Herr Ehrl-König. Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.“ (Seite 48)

Während zwei Butler den Tobenden hinauswarfen, beschwerte sich der Literaturkritiker über die Undankbarkeit der Schriftsteller:

Nachgewiesen sei, dass auch Bücher, die er verreiße, sofort zwanzigtausendmal verkauft würden. Gut, die er preise, seien sofort einhunderttausendmal verkauft, aber zwanzigtausend von einem schlechten Buch, dafür könne doch jeder Autor dankbar sein. Solange Ehrl-König über mich spricht, gibt es mich, habe einer gesagt […] (Seite 48)

Am nächsten Morgen wird André Ehrl-König vermisst. Sein Jaguar steht noch vor Ludwig Pilgrims Villa, und auf der Motorhaube findet man den gelben Cashmere-Pullover, den er in der „Sprechstunde“ über die Schultern gelegt hatte. Das Kleidungsstück ist voller Blut. Dass es in der Nacht einen halben Meter schneite, erschwert die Spurensuche. Aufgrund der von Hans Lach gegen André Ehrl-König ausgestoßenen Drohungen wird er verhaftet. Man verdächtigt ihn, den Kritiker umgebracht zu haben.

Der Schriftsteller Michael Landolf, der gerade an einem Buch mit dem Titel „Von Seuse zu Nietzsche“ arbeitet, kann sich Hans Lach nicht als Mörder vorstellen. Er eilt zu dem Untersuchungshäftling in die Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Hans Lach schweigt jedoch beharrlich zu den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Um Lachs Unschuld zu beweisen, befragt Michael Landolf Teilnehmer des Empfangs in der Villa des Verlegers Ludwig Pilgrim, darunter Julia Pelz, die Ehefrau des Gastgebers, die zugibt, den erzürnten Schriftsteller ins Haus gelassen zu haben. Michael Landolf sucht auch Bernt und Lydia Streiff auf, die zu den Gästen gehört hatten. Ludwig Pilgrim veröffentlichte Bernt Streiffs „Tulpen-Trilogie“, aber der Erfolg blieb aus, und der Autor ist finanziell nach wie vor auf seine berufstätige Ehefrau angewiesen. Rainer Heiner Henkel und seine Zwillingsschwester Ilse-Frauke von Ziethen gehören ebenfalls zu den von Michael Landolf Befragten. Die Duz-Freunde des verschwundenen Literaturkritikers können ihm allerdings auch keine entscheidenden Hinweise geben.

Schließlich findet Michael Landolf heraus, dass Hans Lach nach dem Eklat in der Villa des Verlegers bei seiner Geliebten Olga Redlich war. Sie möchte das allerdings gern verschweigen, denn sie befürchtet, dass sich ihr eifersüchtiger Lebensgefährte Jan Konnetzny sonst von ihr trennen würde.

Unvermittelt gesteht Hans Lach die Ermordung des Kritikers. Daraufhin wird er in die Psychiatrie in Haar bei München gebracht. Kriminalhauptkommissar Wedeking kann mit dem Geständnis allerdings nicht viel anfangen, denn man hat noch keine Leiche gefunden. Außerdem behauptet nun auch Nancy Ehrl-König, sie habe ihren Mann getötet, weil sie von ihm misshandelt worden sei. Insider vermuten, dass sie sich nur aufspielen wolle.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Am Rosenmontag gibt Cosima von Syrgenstein in einem Interview bekannt, dass André Ehrl-König bis zum Samstag bei ihr gewesen sei. Die glühende Verehrerin des Kritikers, die gerade an einem Debütroman mit dem Titel „Einspeicheln“ schreibt, berichtet, wie sie die Villa von Ludwig Pilgrim verließ und André Ehrl-König bei seinem eingeschneiten Auto sah. Er blutete heftig aus der Nase, und sein besudelter Pullover lag auf der Motorhaube. Cosima von Syrgenstein, die ihren Toyota Mega Cruiser in einem Carport geparkt hatte, lud André Ehrl-König ein, mit ihr mitzufahren, statt sein eigenes Auto freischaufeln zu lassen. Als sie auf Schloss Syrgenstein aus den Medien von dem Mordverdacht erfuhren, beschlossen sie, daraus für eine Weile ein Spiel zu machen, ein „längst fälliges Lehrstück über Wahrheit und Lüge im Kulturbetrieb“ (Seite 182).

Am Aschermittwoch hält André Ehrl-König die Trauerrede für den inzwischen verstorbenen Verleger Ludwig Pilgrim. Bald darauf ist er wieder in „Sprechstunde“ zu sehen. Er stellt den neuen Roman einer Schriftstellerin vor:

Ein Gutes Buch. Nur ihre Stücke seien schlecht. Klar. Eine Frau könne doch keine guten Stücke schreiben. Sobald er das sage, höre er immer: Und Marie Luise Feleißer! Jaa! Das sagen die Leute, weil sie nicht wissen, dass sie Feleißer nur Gute Stücke gescherieben hat, solange sie mit Berecht geschelafen hat. (Seite 190f)

Die Witwe Julia Pelz lässt sich auf eine Affäre mit Hans Lach ein, besteht allerdings darauf, dass er sich nicht länger als Michael Landolf ausgibt. Sie verbringen einige Wochen miteinander auf Fuerteventura. Dort liest Hans Lach in der Zeitung, dass André Ehrl-König, der sowohl einen deutschen als auch einen britischen Pass besitzt, von der englischen Königin zum Ritter geschlagen werden soll.

Hans Lach kehrt nach München zurück. Als er vor seinem Haus ankommt, hört er seine Ehefrau Erna auf dem Klavier spielen. Statt sich bemerkbar zu machen, geht er zu Olga Redlich, aber auch hier klingelt er nicht, denn auf dem Namensschild steht inzwischen: Olga und Jan Konnetzny. Nachdem Hans Lach begriffen hat, dass Olga verheiratet ist, fährt er mit dem Zug nach Klais. Dort nimmt er sich ein Zimmer ohne Fernsehgerät und lässt zur Verwunderung der Wirtin auch das Telefon herausnehmen.

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Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlasst fühle, nicht erwartet, muss ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint. (S. 9 / 219)

Mit diesem Satz beginnt und endet der Roman „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser. Es handelt sich um eine Farce über den Literatur- und Medienbetrieb in Deutschland, eine Satire auf die Eitelkeiten von Autoren, Verlegern und Kritikern, eine Groteske über die Macht in der Medienwelt und das Zustandekommen der öffentlichen Meinung.

Die Intellektuellen huren heute mit der Öffentlichkeit genau so wie vorher mit Gott. Wer das für einen Vorwurf hält, weiß nicht, was Gott war und was die Öffentlichkeit ist. (Seite 32)

In dieser Kulisse gerät der Schriftsteller Hans Lach alias Michael Landolf in eine Identitätskrise.

Zweifellos dachte Martin Walser bei der Figur des Kritikers André Ehrl-König an Marcel Reich-Ranicki, und die fiktive Fernsehsendung „Sprechstunde“ weist Züge des „Literarischen Quartetts“ auf. Dementsprechend wurde „Tod eines Kritikers“ als Attacke auf Marcel Reich-Ranicki verstanden, als Kritik an einem Literaturkritiker, der sich rücksichtslos selbst inszeniert, auch wenn dies zu Lasten eines Schriftstellers geht.

Die Druckfahnen des Romans waren der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ angeboten worden. Der Herausgeber Frank Schirrmacher hatte einen Vorabdruck jedoch abgelehnt und dies in einem offenen Brief an Martin Walser begründet:

Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung – lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! – mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers […]
Ich […] halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. Und ich weiß nicht, was ich befremdlicher finden soll: die Zwanghaftigkeit, mit der Sie Ihr Thema durchführen, oder den Versuch, den sogenannten Tabubruch als Travestie und Komödie zu tarnen […]
Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie […] Sie haben sich eine Art mechanisches Theater aufgebaut, in dem es möglich ist, den Mord auszukosten, ohne ihn zu begehen. Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem Juden […]
Die „Herabsetzungslust“, die „Verneinungskraft“, das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar […] (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Mai 2002)

Durch die Kritik Frank Schirrmachers an Martin Walser kam es bereits vor der Publizierung des Romans „Tod eines Kritikers“ zu einer heftigen Auseinandersetzung über das Buch.

Da hat jemand den publizistischen Erstschlag erfunden […]
Frank Schirrmachers Offener Brief an Martin Walser ist das Extrem einer Skandalisierung. Und er ist zugleich selbst Skandal […] Derzeit muss sich vor allem Martin Walser immer neu rechtfertigen, nicht aber derjenige, der ihn an den Pranger gestellt hat.
(Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2002)

Den Roman „Tod eines Kritikers“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Martin Walter (Regie: Matthias Spranger, Lido, Frankfurt/m 2002, 4 CDs, ISBN: 3-8218-5239-9).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
Seitenangaben beziehen sich auf die Originalausgabe

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