William Trevor : Tod im Sommer

Tod im Sommer
Originaltitel: Death in Summer Viking Penguin, London 1998 Tod im Sommer Übersetzung: Thomas Gunkel Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M 1999
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine im Waisenhaus aufgewachsene Zwanzigjährige lügt und stiehlt, um zu überleben. Nach der erfolglosen Bewerbung als Kindermädchen wird es für sie zur fixen Idee, in dem abgelegenen Landhaus zu wohnen und von dem freundlichen Hausherrn geliebt zu werden ...
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Kritik

Langsam und bedächtig entwickelt William Trevor in "Tod im Sommer" eine düstere Geschichte. Umso stärker verdichtet sich die bedrohliche Atmosphäre, die den Leser bis zum Schluss in Atem hält.
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Thaddeus Davenant ist Mitte vierzig. Er wohnt in einem abgelegenen Landhaus – Quincunx House – in Essex, das 1896 von dem Talghändler John Percival Davenant errichtet worden war. Das geerbte Haus bedeutet ihm alles. Statt einen Beruf zu ergreifen, verkaufte Thaddeus Obst und Gemüse aus seinem Garten, bis er vor sechs Jahren, im Juni 1988, Letitia Iveson heiratete. Letitia hatte mit ihrer Mutter in einer großbürgerlichen Wohnung in der Nähe von Regent’s Park in London gewohnt und nach dem Tod ihres Vaters ein Drittel seines Vermögens geerbt. Mit dem Geld konnte das frisch vermählte Ehepaar es sich sogar leisten, ein anderes verheiratetes Paar als Köchin und Diener einzustellen. Thaddeus respektiert Letitia und schätzt ihre sanfte Großmut, aber er hat sie aus finanziellen Gründen geheiratet und scheint überhaupt gefühlsarm zu sein. Umso verblüffter stellte er nach der Geburt ihrer Tochter Georgina vor viereinhalb Monaten fest, dass er das Kind wirklich liebt.

Beim Frühstück reicht Thaddeus seiner Frau einen Brief, den ihm eine Mrs Dorothy („Dot“) Ferry schrieb. Sie hatte als Empfangsdame im Beech Trees Hotel gearbeitet, den Hoteldirektor geheiratet und bald nach der Hochzeit damit angefangen, ihren Mann in Zimmer 20 zu betrügen. Auch Thaddeus war einige Zeit mit ihr zusammen gewesen, aber er hat sie seit 1979 nicht mehr gesehen. Jetzt teilt sie ihm mit, dass es ihr gesundheitlich nicht gut gehe und sie in finanziellen Schwierigkeiten sei. Ohne zu zögern, rät Letitia ihm, der offenbar bedürftigen Frau zu helfen, aber Thaddeus zögert.

An diesem Vormittag fährt Letitia mit dem Rad zu einem Bauernhof, um ein halbes Dutzend Küken zu holen, die sie aufziehen möchte. Stunde um Stunde vergeht, ohne dass sie zurückkommt. Schließlich tauchen zwei Polizeibeamte auf: Als Letitia sich auf dem Heimweg zu den Küken in der Kiste auf dem Gepäckträger umdrehte, übersah sie ein entgegenkommendes Auto und verunglückte tödlich.

Thaddeus befürchtet, seine Schwiegermutter könne ihm Georgina wegnehmen und sie bei sich in London aufziehen. Nach sechs Jahren Ehe weiß Thaddeus immer noch nicht, wie er sie ansprechen soll, „Mrs Iveson“ klingt zu förmlich, aber eine vertrautere Anrede hat sie ihm nie angeboten.

Wider Erwarten schlägt Mrs Iveson ihrem Schwiegersohn am Telefon vor, ein Kindermädchen einzustellen. Er gibt eine Anzeige auf, und Mrs Iveson kommt nach Quincunx House, um ihm bei der Auswahl unter den Bewerberinnen zu helfen. Vier Mädchen stellen sich vor, aber keines von ihnen erfüllt die Erwartungen. Da bietet Mrs Iveson an, sich selbst um Georgina zu kümmern und zu diesem Zweck nach Essex zu ziehen. Thaddeus erschrickt bei dem Gedanken, mit seiner Schwiegermutter unter einem Dach leben zu müssen, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihr Angebot anzunehmen. Auch für Mrs Iveson bedeutet es ein Opfer, zumal sie nicht weiß, wie sie mit dem Mann auskommen soll, von dem sie weiß, dass er ihre Tochter nur wegen des Geldes geheiratet hatte. Aber sie vermietet ihre Wohnung in London und zieht nach Quincunx House.

Unter den abgelehnten Bewerberinnen ist auch eine Zwanzigjährige namens Pettie. Weil Mr Davenant am Telefon so freundlich gewesen war und ihr sogar den Weg erklärt hatte, war sie an dem Morgen vor der Zugfahrt gar nicht mehr zu den Dowlers gegangen, die sie als Dienstmädchen beschäftigt hatten. Sie kann es kaum glauben, dass sie die Stelle nicht bekam. Ob Mr Davenant oder die alte Frau merkten, dass sie ihr Zeugnis gefälscht hatte? In dem Landhaus würde sie gern wohnen, und sie findet Mr Davenant ausgesprochen sympathisch. Ihr zwei Jahre älterer Freund Albert Luffe, mit dem sie vor Jahren aus dem Waisenheim Morning Star fortgelaufen war, fragt sie bekümmert, wie sie nun ihre Miete für das Zimmer zahlen will, das er ihr besorgt hat. Er weiß, dass Mrs Biddle, die Hausbesitzerin, Pettie eigentlich nicht bei sich aufnehmen wollte und sich nur von ihm überreden ließ. Wenn Pettie noch weitere Monatsmieten schuldig bleibt, kann er nichts mehr für sie tun. Sein eigenes Zimmer erhielt er, weil er der bettlägrigen Hausbesitzerin uneigennützig Gesellschaft leistet und für sie putzt und kocht. Sein Geld verdient er, indem er nachts in den U-Bahnhöfen Graffiti abwäscht. Albert sucht Mr Dowler auf und versucht ihn zu überreden, Pettie zu verzeihen, aber der will nichts mehr von dem unzuverlässigen Dienstmädchen wissen, das er inzwischen obendrein für eine Diebin hält.

Sechs Tage nach dem tödlichen Unfall seiner Frau fährt Thaddeus schweren Herzens zu Dot Ferry und bringt ihr 50 Pfund. Das Beech Trees Hotel gibt es längst nicht mehr, und der Hoteldirektor ist verschwunden; Mrs Ferry lebt allein in einem Zimmer über einem Süßwarenladen. Die übergewichtige Alkoholikerin hängt den alten Zeiten nach und würde am liebsten wieder eine Beziehung mit Thaddeus aufnehmen, der ihr wohlweislich verschweigt, dass er inzwischen Witwer ist. Er wird den Verdacht nicht los, dass Dot Ferry auch anderen früheren Liebhabern solche Briefe geschrieben hat.

Pettie kommt über die gescheiterte Bewerbung in Quincunx House nicht hinweg. Sie träumt noch immer von einem Leben als Kindermädchen in dem schönen Landhaus und malt sich aus, wie der Hausherr sich in sie verliebt. Mr Davenant hätte sie gern eingestellt, bildet sie sich ein, wenn ihn nicht die böse alte Frau daran gehindert hätte. Das wird zur fixen Idee. Pettie fährt noch einmal nach Essex und streicht tagelang um das Haus herum. Nach drei Wochen ruft sie an, legt allerdings immer wieder wortlos auf, bis endlich Thaddeus Davenant abhebt. Sie habe ihren Ring verloren, lügt sie, ein Erinnerungsstück; ob sie vorbeikommen dürfe, um danach zu suchen. Als sie da ist, hilft Thaddeus ihr beim Suchen, aber einen Ring finden sie nicht. Er ahnt nicht, wie das Mädchen sich nach seiner Zuneigung sehnt.

Nachmittags pflegt Mrs Iveson mit dem Kind in den Garten zu gehen. Von ihrem Liegestuhl aus sieht sie dann zu, wie Georgina auf einer im Gras ausgebreiteten Decke spielt oder schläft. Hin und wieder nickt sie auch selbst ein.

Als Thaddeus von einer Besorgung zurückkehrt, erfährt er von dem aufgeregten Diener, dass Georgina entführt wurde. Jemand muss in den Garten eingedrungen sein und das Kind geraubt haben, während Mrs Iveson in ihrem Liegestuhl döste. Niemand in Quincunx House kann sich vorstellen, wer so etwas getan hat.

Ausgerechnet jetzt wird Thaddeus von einem Krankenhaus angerufen: Mrs Ferry hat auf dem Sterbebett ausdrücklich darum gebeten, ihn nach ihrem Tod zu benachrichtigen.

Die Polizei nimmt Ermittlungen auf und beginnt mit einer groß angelegten Suchaktion. Spielende Kinder und ein Eisenbahnangestellter haben zum Tatzeitpunkt eine junge Frau mit einem Bündel in den Armen gesehen. Die Beschreibung passt auf die Bewerberin, die später noch einmal wiedergekommen war, um nach ihrem Ring zu suchen. Doch weder Thaddeus noch Mrs Iveson können sich an den Namen erinnern, und sie haben auch keine Adresse oder Telefonnummer.

Das Kind wird wohlbehalten aufgefunden, seltsamerweise in einem abbruchreifen früheren Waisenhaus in London. Thaddeus und Mrs Iveson schließen Georgina glücklich in die Arme. Durch die gemeinsam ausgestandene Angst haben die beiden Erwachsenen mehr Verständnis und Sympathie füreinander entwickelt.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Bald darauf erscheint der junge Mann in Quincunx House, der Georgina gefunden hat. Er heißt Albert und trägt eine – allerdings vom Regen völlig durchnässte – Uniform der Heilsarmee. Thaddeus, Mrs Iveson und die beiden Dienstboten hören dem offenbar gutmütigen und debilen Retter zu, der ihnen umständlich und weitschweifig erzählt, wie er das kleine Mädchen gefunden hat. Auch, dass er im Waisenhaus Morning Star aufgewachsen ist, erfahren sie. Während der ermüdenden Ausführungen werden die Zuhörer plötzlich hellwach, als er arglos berichtet, wie seine Freundin ans Küchenfenster von Mrs Biddle klopfte und ihm sagte, sie habe ein Baby entführt und es in das leer stehende frühere Waisenhaus Morning Star gebracht. Er rannte dann gleich los und fand das Kind. – Aufgebracht herrscht Thaddeus den Besucher an:

„Was wollen Sie bei uns?“
„Ich bin gekommen, um Ihnen von Pettie zu erzählen, Sir. Damit Sie nicht zu schlecht von ihr denken, Sir.“ (Seite 262)

Albert beteuert, Pettie habe das Kind nicht wirklich entführen wollen. Ihr Plan sei es gewesen, das Kind gleich wieder zurückzubringen und zu behaupten, es auf der Straße einer hässlichen alten Frau entrissen zu haben. Thaddeus begreift: Auf diese Weise wäre sie nicht nur als Retterin Georginas gefeiert worden, sondern sie hätte auch Zweifel an Mrs Ivesons Zuverlässigkeit bei der Beaufsichtigung des Kindes gesät und möglicherweise doch noch die Stelle des Kindermädchens bekommen.

Jetzt ist Pettie tot. Sie hatte sich in der Ruine des Waisenhauses versteckt, das am Morgen abgerissen worden war. Albert sah ihre Leiche in den Trümmern.

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Langsam und bedächtig entwickelt William Trevor die düstere Geschichte. Trotzdem zeichnet sich bereits in der ersten Hälfte des Romans „Tod im Sommer“ ab, was passieren wird. Das nimmt dem Buch jedoch nicht die Spannung, im Gegenteil: Gerade dadurch verdichtet sich die bedrohliche Atmosphäre.

Auch am Schluss, als der geistig beschränkte Graffiti-Abwascher Albert auf 28 (!) Seiten umständlich berichtet, was er über das Geschehene erfahren hat, beweist William Tevor, wie er die Stimmung und Dramatik solcher handlungsarmen Szenen beherrscht.

Indem er seinen Roman „Tod im Sommer“ nicht aus einer einzigen Perspektive erzählt, sondern abwechselnd aus der Sicht des gefühlsarmen Thaddeus Davenant und des gutmütigen Albert Luffe, ruft er beim Leser Mitgefühl und Verständnis für die verschiedenen Figuren und deren Nöte hervor.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Wolfgang Krüger Verlag – Die Seitenangaben beziehen
sich auf die Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags (Frankfurt/M 2002).

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