Uwe Timm : Am Beispiel meines Bruders

Am Beispiel meines Bruders
Am Beispiel meines Bruders Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003 ISBN 3-462-03320-4, 159 Seiten Ungekürzte, vom Autor neu durchgesehene Taschenbuchausgabe: dtv, München 2005 ISBN 3-423-13316-3, 155 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Uwe Timm sucht in diesem Buch Antworten auf die Frage, warum sich sein 1943 im Alter von 19 Jahren in einem Lazarett in der Ukraine nach einer doppelten Beinamputation gestorbener Bruder Karl-Heinz freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte. "Wie sah der Bruder sich selbst? Welche Empfindungen hatte er? Erkannte er etwas wie Täterschaft, Schuldigwerden, Unrecht?" Uwe Timm fragt nach den Motiven seines Bruders und der Reaktion seiner Eltern.
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Kritik

Uwe Timms subjektive, retrospektive Auseinandersetzung mit seinem 1943 gefallenen Bruder ist ein kunstvolles Puzzle aus Gedanken und prägnant formulierten Erinnerungen. Am Beispiel seiner Familie versucht der 1940 Geborene, das Verhalten der Älteren während des Zweiten Weltkriegs und danach zu verstehen.
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Familie Timm

Uwe Timms Vater wurde am 5. November 1899 geboren. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig und kam zur Artillerie. Nach dem verlorenen Krieg kämpfte er als Mitglied eines Freikorps im Baltikum gegen die „Bolschewisten“. Bereits als Jugendlicher hatte er bei einem Onkel in Coburg gesehen, wie Taxidermien durchgeführt werden. Diese Kenntnisse vertiefte er bei einem Präparator in Hamburg und eröffnete dann 1929 selbst ein Geschäft für Tierpräparationen in Hamburg.

Verheiratet war Hans Timm mit der Tochter eines Hutmachers, der eine kleine Villa in Hamburg-Eimsbüttel besaß. Das erste Kind kam 1922 zur Welt: die Tochter Hanne Lore. Zwei Jahre später wurde Karl-Heinz geboren. Uwe folgte erst 1940, als die Mutter bereits achtunddreißig war.

Karl-Heinz Timm

Karl-Heinz war als Kind häufig stundenlang unauffindbar. Erst später stellte sich heraus, dass er sich in einem Verschlag versteckt und dort Bücher über wilde Tiere gelesen hatte. Er wurde Kürschner-Geselle, kam zur Hitler-Jugend und mit achtzehn zum Arbeitsdienst. Obwohl er einige Zeit unter Anämie und Herzflimmern gelitten hatte, wollte er sich im Dezember 1942 freiwillig zur Waffen-SS melden. Er fuhr in den Vorort Ochsenzoll, verlief sich jedoch und fragte einen Mann nach dem Weg. Der Fremde sagte etwas Unverständliches und lief vor ihm her. Als Karl-Heinz noch einmal nachfragte, ob das wirklich der Weg zu den SS-Kasernen sei, antwortete der Fremde: „Ja. Wir gehen zum Mond, da, der Mond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen.“ Schließlich fand Karl-Heinz wenigstens zum Bahnhof zurück und traf dort auf zwei Polizisten, die einen aus den Alsterdorfer Anstalten entlaufenen Geisteskranken suchten. An diesem Tag war es inzwischen bereits zu spät geworden, aber am nächsten Morgen fuhr Karl-Heinz noch einmal nach Ochsenzoll, und diesmal gelang es dem Achtzehnjährigen, als Panzerpionier der 1939 aus der Wachmannschaft des Konzentrationslagers in Dachau gebildeten SS-Totenkopfdivision aufgenommen zu werden.

Karl-Heinz Timm wurde während der Grundausbildung in Frankreich „geschliffen“ und im Januar 1943 an die Ostfront abkommandiert.

Eine Fliegerbombe zerstörte am 25. Juli 1943 das Elternhaus in Hamburg.

Am 19. September wurden Karl-Heinz am Dnjepr durch einen Schuss beide Beine zerfetzt. Elf Tage später schrieb er seinem Vater:

30. 9. 1943
Mein Lieber Papi
Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam ein Panzerbüchsenschuß durch beide Beine die die sie mir nun abgenommen haben. Daß rechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und daß linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen sehr große Schmerzen hab ich nicht mehr tröste die Mutti es geht alles vorbei in ein paar Wochen bin ich in Deutschland dann kanns Du Mich besuchen ich bin nicht waghalsig gewesen
Nun will ich schließen
Es Grüßt Dich und Mama, Uwe und alle
Dein Kurdel
(Seite 8)

An seine Mutter schrieb Karl-Heinz am 9. Oktober:

9. 10 .43
Meine liebe Mutsch
Dem Papa habe schon geschrieben, daß ich schwer verwundet bin
Nun will ich auch Dir schreiben, daß man mir beide Beine abgenommen hat.
Du wirst Dich wundern über die Schrift aber in der Lage in der ich liege geht es nicht besser.
Nun denke nicht sie haben mir die Beine bis zum Hintern abgenommen. Daß rechte Bein ist 15 cm unterm Knie abgenommen und daß linke 8 cm überm Knie
große Schmerzen habe ich keine sonst würde ich gar nicht schreiben
Liebe Mutsch nun weine deswegen sei Tapfer ich werde mit meinen Prothesen genau so laufen können wie früher außerdem ist der Krieg für mich aus und Du hast Deinen Sohn wieder wenn auch schwerbeschädigt
Es werden wol noch ein paar Wochen dauern bis ich nach Deutschland komme ich bin noch nicht transportfähig […]
(Seite 29)

Die Schrift war ungewohnt, nicht nur, weil Karl-Heinz im Liegen schreiben musste, sondern vermutlich auch, weil er Morphium gegen die Schmerzen bekam.

Im Alter von neunzehn Jahren starb der SS-Sturmmann Karl-Heinz Timm am 16. Oktober 1943 in einem Feldlazarett in der Ukraine.

Nach dem Krieg

Uwe Timm war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt.

Und dann, eines Tages, redeten die Erwachsenen auf mich ein, verboten mir, was ich doch eben erst gelernt hatte: die Hacken zusammenzuschlagen. Und Heil Hitler zu sagen. Hörst du. Auf keinen Fall! Das wurde dem Kind leise und beschwörend gesagt.
Es war der 23. April 1945, und die amerikanischen Soldaten waren in die Stadt eingerückt. (Seite 23)

Der Vater, der bei der Luftwaffe gewesen war, kam nach dem Krieg aus der Gefangenschaft nach Hamburg zurück. In den Trümmern fand er eine Pelznähmaschine. Die reparierte er, und dann eröffnete er im Keller einer Ruine, in dem die Familie Unterschlupf gefunden hatte, ein Kürschnergeschäft. Die ersten, von einem russischen Offizier eingetauschten Felle verarbeitete er nach einer Anleitung im Handbuch „Der Deutsche Kürschner“ zu einem Pelzmantel für die Frau eines britischen Majors, der ihm dafür Holz gab, das er aus den Reparationsleistungen abgezweigt hatte. Die Bretter konnte Hans Timm gegen Zigaretten, Butter, Kleider und neue Felle eintauschen. Nach zwei Jahren zog die Familie Timm in eine richtige Wohnung und nach weiteren drei Jahren in eine größere Wohnung über einem Laden und einer Werkstatt, die der Vater als „Atelier“ bezeichnete. Schließlich beschäftigte Hans Timm zwei Kürschner, sechs Näherinnen und einen Chauffeur, obwohl er vor allem in den Sommermonaten finanzielle Probleme hatte.

Hanne Lore Timms erster Verlobter war als Infanterist in Russland gefallen. Den zweiten hatten die Russen gefangen genommen. Bis 1951 wartete Hanne Lore, dann zerstörte die Nachricht von seinem Tod in einem Lager ihre Hoffnungen. Daraufhin verliebte sie sich in den Pächter eines Juweliergeschäftes und ließ sich auch nicht beirren, als ihr Vater herausfand, dass der Angebetete noch zwei Verlobte hatte, denen er wie Hanne Lore eifrig Schmucksachen verkaufte. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater verließ die Zweiunddreißigjährige das Elternhaus und ging als Kinderfrau und Hausmädchen zu einer Arztfamilie. Zwei Jahre später kehrte sie zurück: Der Juwelier hatte inzwischen eine Fabrikantentochter geheiratet.

In den Fünfzigerjahren, als in der Innenstadt von Hamburg elegante Pelzgeschäfte eröffnet wurden, wünschten immer weniger Frauen sich einen Mantel mit dem Etikett „Pelz Timm“. Schließlich hielt der Vater es nicht mehr aus, in seinem Laden vergeblich auf Kundschaft zu warten, und er entfloh in eine nahegelegene Kneipe, die er einige Jahre zuvor nicht betreten hätte. Sein Selbstwertgefühl war mit dem Bild des erfolgreichen Geschäftsmannes so stark verknüpft, dass er den Halt verlor, als er die ersten Mitarbeiter entlassen musste. Er erkrankte an einem Zwölffingerdarm-Geschwür, erlitt zwei Jahre später einen Herzinfarkt und starb am 1. September 1958.

Die Witwe führte das Geschäft mit Uwe und Hanne Lore weiter. Uwe Timm hatte zwar auch das Kürschnerhandwerk erlernt, aber er bereitete sich schließlich im Braunschweiger Kolleg (Erwachsenengymnasium) auf das Abitur vor, um studieren zu können.

Hanne Lore lernte nach dem Tod des Vaters einen persischen Juden mit den Namen Ephraim kennen, war viel mit ihm zusammen, wollte ihn jedoch nicht heiraten.

Bis zu ihrem zweiundachtzigsten Lebensjahr leitete die Mutter das Geschäft, stand im Laden, führte Anproben durch, fütterte Mäntel und kümmerte sich um die Buchhaltung. Sie überlebte ihren Mann um dreiunddreißig Jahre und starb erst mit neunundachtzig. Als Uwe Timm, der seit längerem in München wohnte, die Nachricht von ihrem zweiten Schlaganfall erhielt, flog er sofort nach Hamburg, aber er traf seine Mutter nicht mehr lebend an.

Im Alter von zweiundsiebzig Jahren begegnete Hanne Lore auf der Straße dem vier Jahre älteren früheren Hausarzt der Familie, der sich längst zur Ruhe gesetzt hatte, aber noch in der Nachbarschaft wohnte. Sie wusste, dass seine Frau vor einigen Monaten gestorben war. Er war nachlässig gekleidet und hatte sich offensichtlich seit Tagen nicht mehr rasiert. Hanne Lore sprach ihn darauf an. Zwei Tage später, als sie sich zufällig wieder trafen, war er frisch rasiert und forderte sie auf, seine Wange zu fühlen. Damit begann ein spätes Glück. Zweieinhalb Jahre hatte Hanne Lore noch zu leben.

Der Bruder

Erst als Uwe Timm keine Rücksicht mehr auf seine Mutter und seine Schwester zu nehmen brauchte, machte er sich daran, ein Buch über seinen toten Bruder zu schreiben. Immer wieder hatte er sich gefragt, warum Karl-Heinz freiwillig zur Waffen-SS gegangen war.

Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. (Seite 8)

Die Mutter hatte im Alter von vierundsiebzig Jahren eine Busrundfahrt durch Polen, die Sowjetunion, Finnland und Schweden mitgemacht, und zwar in der Hoffnung, von Minsk aus einen Abstecher nach Snamjenka machen zu können, wo Karl-Heinz auf dem Soldatenfriedhof lag. Das Vorhaben war gescheitert. Uwe Timm nutzte schließlich eine Lesereise nach Kiew, um sich von dort in das achthundert Kilometer entfernte Snamjenka fahren zu lassen, obwohl er bereits wusste, dass der Soldatenfriedhof wenige Wochen zuvor aufgelöst worden war und die siebentausend Skelette in einer leer stehenden Fabrikhalle lagerten.

Außer einigen Briefen, Fotos und einem in der Zeit vom 14. Februar bis 6. August 1943 geführten Tagebuch hatte Karl-Heinz Timm nichts hinterlassen. Auf die letzte datierte Eintragung folgt nur noch ein Satz:

Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen. (Seite 120)

Immer wieder liest Uwe Timm bestürzt eine Notiz seines Bruders vom 21. März 1943:

März 21.
Donez
Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. (Seite 16)

Ansonsten findet er weder in dem Tagebuch noch in den hinterlassenen Briefen Hinweise darauf, ob sein Bruder ein Überzeugungstäter war oder nicht.

Wie sah der Bruder sich selbst? Welche Empfindungen hatte er? Erkannte er etwas wie Täterschaft, Schuldigwerden, Unrecht? (Seite 88)

Uwe Timm vermag die selbst gestellten Fragen nicht zu beantworten. Auch das Verhalten seiner Eltern nach dem Krieg bleibt ihm ein Rätsel. Der Vater betonte, dass die Luftwaffe, der er angehört hatte, nichts mit der Ermordung von Juden zu tun gehabt habe, und er versuchte, die Schuld der Deutschen zu relativieren, indem er die Frage stellte, wieso die Alliierten nicht die Krematorien und die zu den Vernichtungslagern führenden Eisenbahnstrecken bombardiert hätten.

Der Befehlsnotstand ließ nach dem Krieg die Massenmörder frei herumlaufen, ließ sie wieder Richter, medizinische Gutachter, Polizisten, Professoren werden. (Seite 131)

Die Eltern legten sehr viel Wert auf die Unterscheidung zwischen der SS, die für den Holocaust verantwortlich gewesen sei und der Waffen-SS, die für Deutschland gekämpft habe. Als Uwe Timm einmal seine Mutter fragte, warum sein Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet habe, antwortete sie: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken.“

Nicht nur das unerklärliche Verhalten seines Bruders macht Uwe Timm zu schaffen, sondern auch, dass die Eltern während des Krieges weggesehen und danach geschwiegen hatten.

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„Am Beispiel meines Bruders“ lässt sich kaum in ein literarisches Genre einordnen, denn eigentlich handelt es sich nicht um einen Roman, sondern eher um die Reportage eines sensiblen, nachdenklichen Menschen über eine Familienrecherche, um ein kunstvolles Puzzle aus Erinnerungsbruchstücken und Gedankensplittern. In der subjektiven, retrospektiven Auseinandersetzung mit seinem toten Bruder und dem Verhalten seiner Eltern während des Zweiten Weltkrieges und danach befreit er sich nicht nur von dem Schatten des Bruders, sondern er erfährt zugleich einiges über sich selbst. Obwohl Uwe Timm deutlich zu erkennen gibt, dass er Militarismus und Nationalsozialismus verabscheut, richtet er nicht über seinen Bruder (eher schon über seinen Vater), sondern versucht (vergeblich), dessen Motive zu verstehen, ohne selbst etwas zu verdrängen. Mit seiner Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit prägnanten und zugleich unprätentiösen Schilderungen zieht Uwe Timm den Leser in seinen Bann und lässt ihn nach der Lektüre von „Am Beispiel meines Bruders“ betroffen zurück.

Uwe Timm wurde am 30. März 1940 in Hamburg geboren. Nach einer Kürschnerlehre (1955 – 1957) und dem Abitur (1963) studierte er Philosophie und Germanistik in München und Paris. Er promovierte 1971 über das Thema „Das Problem der Absurdität bei Camus„.

Uwe Timm: Bibliografie (Auswahl)

  • Heißer Sommer (1974)
  • Morenga (1978)
  • Kerbels Flucht (1980)
  • Der Mann auf dem Hochrad (1984)
  • Der Schlangenbaum (1986)
  • Rennschwein Rudi Rüssel (1989)
  • Kopfjäger (1991)
  • Die Entdeckung der Currywurst (1993, Verfilmung)
  • Johannisnacht (1996)
  • Die Bubi Scholz Story (1998)
  • Nicht morgen, nicht gestern (1999)
  • Eine Hand voll Gras (Drehbuch, 2000)
  • Rot (2001)
  • Am Beispiel meines Bruders (2003)
  • Der Freund und der Fremde (2005)
  • Halbschatten (2008)
  • Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt (2009)
  • Fetisch (2011)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2012
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch

Uwe Timm: Eine Hand voll Gras (Drehbuch)
Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst (Verfilmung)
Uwe Timm: Halbschatten
Uwe Timm: Vogelweide
Uwe Timm: Alle meine Geister

Christian Berkel - Der Apfelbaum
In seinem Debütroman "Der Apfelbaum" erzählt Christian Berkel die Geschichte seiner Familie bis kurz vor seiner Geburt im Jahr 1957. Dabei kommen zwei Glücksfälle zusammen: Der Schauspieler hat Außergewöhnliches zu erzählen und zeigt mit "Der Apfelbaum", dass er auch als Schriftsteller zu den Hochbegabten zählt.
Der Apfelbaum