Günther Thomé : ABC und andere Irrtümer ...

ABC und andere Irrtümer …
ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS, Legasthenie Originalausgabe: Institut für sprachliche Bildung, Oldenburg 2011 ISBN: 978-3-942122-05-4, 124 Seiten 4., erweiterte Ausgabe: isb-Fachverlag - Institut für sprachliche Bildung, Oldenburg 2017 ISBN 978-3-94212-223-8, 156 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Günther Thomé widerlegt 7 Irrtümer: Rechtschreiben lernt man durch das Lesen. Mit dem ABC schreiben wir die Laute unserer Sprache. Die Unterrichtsmaterialien sind geprüft und korrekt. Alle [anderen] können die Rechtschreibregeln. Rechtschreiben lernt man durch Diktate. Je früher, desto besser. Jeder, der rechtschreiben kann, kann es auch unterrichten.
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Kritik

Auf leicht verständliche Weise lässt der Sprachwissenschaftler Günther Thomé in dem Buch "ABC und andere Irrtümer" eine Figur namens Dagegen Weißmann gängige, aber falsche Meinungen widerlegen.

Thema des Buches

Der früher an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität in Frankfurt/M lehrende, 2015 emeritierte Sprachwissenschaftler und -didaktiker Prof. Dr. Günther Thomé stellt in dem Buch „ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS, Legasthenie“ neun Thesen auf. Dabei legt er einer Figur mit Namen Bisher Dachtemann Meinungen in den Mund, die mit einer Ausnahme von dem Kontrahenten Dagegen Weißmann als weit verbreitete Irrtümer entlarvt werden.

2017 erschien eine vierte, um mehr als 30 Seiten erweiterte Auflage von „ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS, Legasthenie“.

Früher konnten Schüler besser rechtschreiben

Dass die Rechtschreibleistungen heute generell schlechter sind als früher, ist wahr. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit gravierenden Rechtschreibproblemen steigt. Eine der Ursachen sieht Günther Thomé darin, dass früher mehr geschrieben wurde. (Auf die Auswirkungen der Kommunikation per SMS und E-Mail geht er nicht ein.) Jedenfalls sind die Ergebnisse der 2003/2004 an 220 deutschen Schulen durchgeführten DESI-Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International) alarmierend: 12 Prozent der Schüler hatten massive Rechtschreibprobleme, 66 Prozent lagen mit durchschnittlich 16 (!) Fehlern in einem 68-Wörter-Diktat im Mittelfeld, und nur 22 Prozent zeigten mit durchschnittlich 6 Fehlern gute Leistungen.

Nach zehn Jahren Schulbesuch (und zum Teil schon vorher) verlassen in Deutschland deutlich zu viele Jugendliche die Schule ohne ausreichende Rechtschreibkenntnisse. Gleichzeitig gibt es immer weniger sprachdidaktische Forschungsvorhaben zum Schriftspracherwerb und eine qualifizierte Deutschlehrerausbildung tendiert in diesem Bereich gegen Null. (Katja Siekmann und Günther Thomé, Der orthographische Fehler. Grundzüge der orthographischen Fehlerforschung und aktuelle Entwicklungen, Seite 9)

Dabei ist eine ausreichende orthographische Kompetenz nicht nur in der Schule von großer Bedeutung.

Die Orthographie beeinflusst den Erfolg in allen Schulfächern, da das Verfassen als gut bewerteter Texte auch abhängig ist von der Rechtschreibkompetenz. Wer orthographische Defizite aufweist, verringert nicht nur seine Chancen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, sondern baut unter Umständen sogar große Barrieren für seine Persönlichkeitsentwicklung auf. (Katja Siekmann und Günther Thomé, a. a. O., Seite 219)

Helfen Grammatik- und Rechtschreib-Regeln?

Beim Gehen müssen wir nicht überlegen, wie wir das Gewicht verlagern und einen Fuß vor den anderen setzen. Auch Grammatik- und Orthographie-Regeln verwenden wir unbewusst. Anders wäre ein lebhaftes Gespräch gar nicht möglich. Wie nützlich sind Rechtschreib-Regeln überhaupt? Günther Thomé hält den Nutzen für relativ gering. Wäre es anders, bestünde der Duden nicht im Wesentlichen aus einem Wörterverzeichnis, und wir würden Regeln statt Wörter nachschlagen.

ABC oder Phoneme?

Schreiben wir die Laute unserer Sprache mit dem ABC? Das glauben wohl die meisten Leute. Aber es stimmt nicht. Den etwa 40 Standardlauten (Phonemen) der deutschen Sprache stehen nämlich nur 26 Buchstaben des ABC gegenüber. Mit den Umlauten und dem ß sind es auch nicht mehr als 30. Und es gibt zwar nur fünf Vokale (a, e, i, o, u), aber 16 phonetische Vokale und Diphtonge. Beispielsweise besteht ein Unterschied zwischen kurz und lang gesprochenen Vokalen: Schiff, schief. Die Laute (Phoneme) werden nicht durch Buchstaben, sondern durch Grapheme wie z. B. sch abgebildet. Dabei sollten wir zwischen häufigen und selteneren Graphemen (Basisgrapheme vs. Orthographeme) differenzieren. Dem langen i-Laut entspricht beispielsweise in 72 Prozent der Fälle das Graphem ie (Wiese). Als Orthographeme gelten in diesem Fall ih (ihr), i (Igel) und ieh (zieht).

Weil die Phoneme beim Schreiben nicht durch das ABC, sondern durch Orthographeme wiedergegeben werden, tritt Günther Thomé dafür ein, den Schülern nicht zuerst das ABC beizubringen, sondern die Basisgrapheme.

Je früher, desto besser?

Die Bestrebung, Kinder früher als üblich schreiben zu lehren, hält er für bedenklich und zitiert Comenius:

Der Vogel wirft seine Eier nicht etwa ins Feuer, damit die Jungen schneller ausschlüpfen, sondern brütet sie ganz langsam mit der natürlichen Wärme aus.

Verbessert Lesen die Rechtschreibung?

Viele glauben, dass Lesen die Rechtschreibung verbessert. Günther Thomé bezweifelt das und weist darauf hin, dass sich bei der bereits erwähnten DESI-Studie statistisch kein Zusammenhang zwischen Lese- und Rechtschreib- leistungen nachweisen ließ. Lesestörungen müssen also nicht, wie es vielfach angenommen wird, mit Rechtschreibproblemen zusammen auftreten; Lesen und Schreiben können sich voneinander unabhängig entwickeln. Dass man durch Lesen nur bedingt Rechtschreibfehler verlernt, veranschaulicht Günther Thomé mit einem Beispiel: Wer auf die Uhr schaut, um festzustellen, wie spät es ist, weiß anschließend weder wie das Zifferblatt noch wie die Zeiger ausgesehen haben. Analog dazu komme es auch beim Lesen nicht aufs Aussehen, sondern auf die Bedeutung an, meint der Autor.

Zusammengefasst kann von einer reflexiv-rezeptiven Dimension (Lesen, Wortschatz, Argumentation, Sprachbewusstsein) und einer produktiven Dimension (Rechtschreiben und Testproduktion) […] gesprochen werden.

Helfen Diktate?

Die gängige Ansicht, dass man durch Diktate das Rechtschreiben schule, ist Günther Thomé zufolge schlichtweg falsch. Er meint, Diktate seien geradezu gefährlich, weil sie mit „normalen“ Texten meistens nichts zu tun haben, sondern von orthographischen Fallen wimmeln. Das kann schnell dazu führen, dass „Kinder, die eigentlich über eine leidliche Rechtschreibkompetenz verfügen und die einen sprachlich unauffälligen Text einigermaßen fehlerfrei produzieren, aber nicht einer Anhäufung orthographischer Absurditäten […] gewachsen sind“ den falschen Eindruck vermittelt bekommen, sie seien Legastheniker. Im ein oder anderen Fall führt das sogar zu psychischen Störungen.

Weitere Bücher von Günther Thomé:

Günther Thomé ist auch Mitautor eines wissenschaftlich-systematischen Buches über die Geschichte und aktuelle Verfahren der orthographischen Fehlerforschung: Katja Siekmann und Günther Thomé, Der orthographische Fehler. Grundzüge der orthographischen Fehlerforschung und aktuelle Entwicklungen (Institut für sprachliche Bildung Verlag, Oldenburg 2012).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012 / 2017
Textauszüge: © Institut für sprachliche Bildung Oldenburg

Günther Thomé: Deutsche Orthographie

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"Wir sehen uns dort oben" ist eine ebenso zynische wie tragikomische Mischung aus Antikriegs- und Schelmen-, Abenteuer- und Krimi­nal­roman. Pierre Lemaitre erzählt mit überbordender Fabulierlaune. Die Lektüre ist unter­haltsam, auch wenn einem das Lachen im Halse stecken bleibt.
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