Alain Claude Sulzer : Privatstunden

Privatstunden
Privatstunden Originalausgabe: Edition Epoca, Zürich 2007 Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-46111-2, 239 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Medizinstudent Leo Heger flüchtet 1968 aus einem osteuropäischen Land. In der Schweiz nimmt ihn ein kinderloses Ehepaar auf, und die ehemalige Deutschlehrerin Martha Dubach gibt ihm kostenlos Privatstunden. Bei ihr findet Leo Zuneigung, und Martha hilft die Beziehung über die Lieblosigkeit des Ehemanns hinweg. Sie weiß, dass Leo seine frühere Geliebte bei der Flucht ohne Abschied zurückließ und ahnt, dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird ...
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Kritik

In "Privatstunden" erzählt Alain Claude Sulzer von Einsamkeit und verratener Liebe. Eine dramatischere Handlung hätte ebenso wie jede andere Effekthascherei die melancholische Atmosphäre dieser traurigen Geschichte zerstört.
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Der zweiundzwanzigjährige Medizinstudent Leo Heger flüchtet im Herbst 1968 aus einem osteuropäischen Land [Tschechoslowakei?] nach Österreich. Weder seine Mutter Sonia noch seine Geliebte Laura weihte er in seine Pläne ein. Der Vater starb vor zwei Jahren. Sein zwei Jahre älterer Bruder Josef setzte sich unlängst in Bristol von der Nationalmannschaft der Schwimmer ab und blieb im Westen. Über Wien gelangt Leo in ein Schweizer Dorf, wo ihn das kinderlose Ehepaar Giezendanner kostenlos aufnimmt. Weil Frau Giezendanner ihren Mann morgens in dessen Arztpraxis fährt und dort als Sprechstundenhilfe tätig ist, vertrauen sie Leo die Hausschlüssel an.

Eine Flüchtlingsorganisation am Hauptbahnhof der nächsten Stadt vermittelt Leo kostenlose Privatstunden bei einer Deutschlehrerin. Als er Martha Dubach das erste Mal aufsucht, lässt er seine Schreibmappe und die mitgebrachte Pralinenschachtel in dem Augenblick fallen, in dem sie die Tür öffnet. Die jetzt Sechsunddreißigjährige hatte ein Jahr lang an einer Grundschule unterrichtet, bevor sie Mutter geworden war. Sie ist mit dem vier Jahre älteren Rechtsanwalt Walter Dubach verheiratet und hat zwei Kinder: den fünfzehnjährigen Sohn Andreas und die zehnjährige Tochter Barbara. Ihr geistig zerrütteter Vater lebt seit eineinhalb Jahren in einem Pflegeheim. Vor einigen Wochen bot sie der Flüchtlingsorganisation ihre ehrenamtlichen Dienste an, und Leo ist ihr erster Privatschüler. Er soll dienstags und donnerstags jeweils für zwei Stunden zu ihr kommen.

Leo lernt schnell und ist nach kurzer Zeit in der Lage, die Grammatikübungen zur Konversation mit Martha zu nutzen. Walter heuchelt nur Interesse am neuen „Zeitvertreib“ seiner Frau, und Martha wird bewusst, dass er auch sonst keinen Anteil mehr an ihrem Leben nimmt. Betrügt er sie mit einer anderen Frau? Ihr Sohn scheint etwas zu wissen, aber Martha will ihn nicht in Verlegenheit bringen. Sie fühlt sich allein gelassen.

Tatsächlich beobachtete Andreas kürzlich durch Zufall, wie sein Vater mit einer jüngeren Frau in einem Haus verschwand. Laut Türschild heißt sie Silvia Zweifel, und dem Telefonbuch entnahm Andreas, dass es sich bei ihr um eine kaufmännische Angestellte handelt.

Die Giezendanners bestehen darauf, dass Leo den Heiligen Abend mit ihnen verbringt, denn sie wissen, dass er außer ihnen und seiner Deutschlehrerin niemanden kennt. Unter dem Christbaum gerät das Ehepaar jedoch in einen heftigen Streit. Weil Leo das peinlich ist, schleicht er sich aus dem Zimmer, geht ins Freie und findet sich unversehens vor dem Haus der Dubachs wieder. Andreas hilft gerade seinem Großvater ins Auto und geht dann mit seiner Schwester wieder ins Haus. Walter Dubach fährt seinen Schwiegervater ins Heim. Martha erschrickt, als Leo aus dem Dunkeln auf sie zukommt, aber sobald sie ihn erkennt, breitet sie freudig die Arme aus und umarmt ihn. Andreas sieht durchs Fenster, wie sie sich küssen.

Am 2. Januar soll die nächste Unterrichtsstunde stattfinden. Marthas Hoffnung, dass Leo sie zuvor schon anruft, erfüllt sich nicht, und zur vereinbarten Zeit wartet sie vergeblich auf ihn. Bald darauf erhält sie einen Brief von ihm, in dem er sich für sein Verhalten am Heiligen Abend entschuldigt. Martha ruft bei den Giezendanners an, aber es hebt niemand ab. Sie geht hin. Als auf ihr Klingeln niemand reagiert, drückt sie die Türklinke und merkt, dass die Haustüre unverschlossen ist. Aus den Konversationen weiß sie, dass Leo unter dem Dach wohnt. Sie geht hinauf. Obwohl er grippekrank im Bett liegt, küsst sie ihn auf den Mund. Von da an besucht sie ihn so oft wie möglich, während das Ehepaar Giezendanner in der Praxis ist.

Obwohl sie von Anfang an weiß, dass es für sie und Leo keine gemeinsame Zukunft gibt, schmerzt es sie, als er ihr nach ein paar Monaten eröffnet, dass er seinem Bruder nach Kanada folgen werde. Im Juni 1969 reist er ab. Martha verrät ihm nicht, dass sie schwanger ist.

– – –

Leos Großmutter Olga lebt allein in einem abgelegenen kleinen Haus, seit ihr Ehemann im Mai 1949 an Lungenkrebs starb und ihre Kinder anfingen, eigene Wege zu gehen. Als Neunzehnjährige hatte Olga gegen den Willen ihrer Eltern Franz geheiratet und auf die Mitgift verzichtet. Später stellte sich heraus, dass sie auch enterbt worden war.

Nach langer Zeit erhält die einsame alte Frau wieder einmal einen Brief von ihrer Tochter. Sonia schreibt, ihre Söhne Josef und Leo hätten sich in den Westen abgesetzt. Olga wird also ihre Enkel nie wieder sehen.

Sie macht sich Sorgen um ihren am Morgen fortgelaufenen Hund Mazko. So lange war er noch nie weg. Spätestens nach Einbruch der Dämmerung ist er sonst immer zurückgekommen. Sie lässt die Haustüre einen Spalt offen für ihn und versucht, wach zu bleiben. Mitten in der Nacht schreckt sie hoch. Sie glaubt, ein Geräusch gehört zu haben. Im Nachthemd geht sie vor die Tür. Der Hund liegt auf der Bank vor dem Haus. Er ist tot. Man hat ihn irgendwo erschossen und dann hergebracht.

Die alte Frau holt ein Stück Seil, legt sich den Kadaver über die Schulter und klettert über eine Leiter auf den Dachboden. Dort steigt sie auf eine Kiste, befestigt das Seil an einem Haken im Gebälk und schlingt sich das andere Ende um den Hals. Nur die Hühner tun ihr leid, als sie die Kiste umstößt [Suizid].

– – –

Jahrzehnte später sucht Andreas nach Leo. Er verließ das Elternhaus, als sein Halbbruder Bruno drei oder vier Jahre alt war. Seit zwei Jahren lebt er in Los Angeles und arbeitet als Klatschreporter für eine europäische Agentur. Seine Ermittlungen begann er in Kanada. In Quebec machte er die geschiedene Ehefrau des Archäologen Josef Heger ausfindig und erfuhr, dass ihr Schwager Leo in Montreal Zahnmedizin studiert hatte. Schließlich spürt er ihn in Seattle auf. Ein Jahr nach dem ersten Wiedersehen verabreden sie sich in der Halle des Hotel Roosevelt. Der erfolgreiche Zahnarzt war in den USA zweimal verheiratet und hat zwei Töchter. Dass Martha von ihm ein Kind bekam und inzwischen längst von ihrem Mann geschieden ist, erfährt er erst von Andreas. Leo bittet ihn, Bruno nicht ohne Einwilligung Marthas zu kontaktieren, denn dieser halte Walter Dubach für seinen Vater. Martha habe weder ihren Mann noch ihre Kinder über das Geheimnis aufgeklärt, Andreas sei allerdings die Ähnlichkeit seines Halbbruders mit dem Privatschüler seiner Mutter aufgefallen. Leo nickt. Er bleibt auf Distanz und weigert sich, Andreas in seine Privatwohnung einzuladen: An die Affäre mit Martha dachte er schon lange nicht mehr. Als Andreas seiner Mutter von der Begegnung mit Leo berichten will, stellt er verwundert fest, dass sie keine Fragen stellt und sich nicht für die Fotos interessiert, die er in der Hotelhalle von Leo Heger knipste.

Bruno Dubach stirbt im Alter von fünfunddreißig Jahren an lymphatischer Leukämie. Andreas schickt Leo Heger die Todesanzeige, hört aber nichts mehr von ihm.

Nun, da mein Bruder tot ist, weiß ich nicht, wem die Aufzeichnungen, die ich damals bei meinen Treffen mit Leo Heger in Seattle machte, noch dienen könnten. Meiner Mutter? Ich bin mir sicher, dass sie die Notizen, meinen Versuch, ihre Vergangenheit in Worte zu kleiden, nicht zur Kenntnis nehmen würde […]
Es gab Zeiten, in denen Martha mir gegenüber nicht so zurückhaltend war. Heute hütet sie ihre Erinnerungen (und Geheimnisse) eifersüchtg, wer wollte ihr das verdenken? Sie braucht gewiss niemanden, der ihr auf die Sprünge hilft. Sie kennt die Details. Sie darf, was sie weiß, auch vergessen, wenn ihr der Sinn danach steht. Nachdem sie jeder Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt ihrer Vergangenheit seit langem geschickt und selbstbewusst aus dem Weg gegangen ist (im Grunde seit ihrer Trennung von Walter, als Bruno zwölf war und wir uns nur noch gelegentlich sahen), lehnt sie heute jede weitere Beschäftigung damit rundweg ab […] Was war es, was sie so stark machte, dass sie mit ihrer Vergangenheit nicht hadern musste? Oder hatte sie einfach Angst, von ihr überrollt und erdrückt zu werden?
[…] Ich weiß genau, dass Martha nichts vergessen hat und nicht senil ist, ich vermute sogar, dass sie sich in Gedanken (nur in Gedanken) weit öfter in der Vergangenheit aufhält (und sehr gut auskennt), als ich es mir überhaupt vorstellen kann. Sie hätte mit Bruno darüber sprechen sollen. Es ist mir bis heute unverständlich, warum sie es nicht getan hat. Jetzt ist es endgültig zu spät. Denoch scheint sie mit sich und dem, was war, im Reinen zu sein. (Seite 220ff)

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In seinem Roman „Privatstunden“ erzählt Alain Claude Sulzer von Einsamkeit und verratener Liebe. Leo, ein junger Flüchtling, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, findet im fremden Land bei seiner Deutschlehrerin Zuneigung, und ihr hilft die Beziehung über die Lieblosigkeit des Ehemanns hinweg. Martha weiß, dass Leo seine frühere Geliebte bei der Flucht ohne Abschied zurückließ und ahnt, dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird.

Die Einsamkeit der beiden Hauptfiguren wird durch eine parallel entwickelte Nebenhandlung über Leos Großmutter gespiegelt. Diese kleine, von Alain Claude Sulzer mit besonderem Einfühlungsvermögen erzählte Geschichte ist ein Kleinod innerhalb des Romans „Privatstunden“; sie geht einem beim Lesen besonders nah.

Haupt- und Nebenhandlung sind in einen Rahmen (Prolog, Epilog) eingefügt, in dem Marthas Sohn Andreas in der Ich-Form berichtet, wie er Leo nach Jahrzehnten in Seattle aufspürt.

Alain Claude Sulzer kommt in „Privatstunden“ mit wenigen Figuren und Schauplätzen aus. Eine dramatischere Handlung hätte ebenso wie jede andere Effekthascherei die melancholische Atmosphäre dieser traurigen Geschichte zerstört. Die Sprache ist denn auch ruhig und unaufdringlich.

Ein wenig irritierend sind Daten, die nicht zusammenpassen: Martha wurde mit vierundzwanzig Mutter (Seite 57) und ist jetzt sechsunddreißig (Seite 23), doch ihr Sohn Andreas ist nicht zwölf, sondern fast sechzehn Jahre alt (Seite 43) und ihre Tochter Barbara ist zehn (Seite 43).

Claude Sulzer wurde für „Privatstunden“ 2009 mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet. Er zeige sich als „eleganter Stilist und einfühlsamer Psychologe“ und entwickle „diskret, aber sehr eindringlich ein bewegtes Seelendrama, das bis in die feinsten Verästelungen hinein behutsam ausgeleuchtet wird“, heißt es in der Begrüdung.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Edition Epoca

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