Botho Strauß : Paare, Passanten

Paare, Passanten
Paare, Passanten Erstausgabe: Carl Hanser Verlag, München / Wien 1981 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 38, München 2004ISBN 3-937793-39-9, 158 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Botho Strauß beschreibt und kritisiert die "allgemeine, gottverdammte Fick- und Ex-Gesellschaft" in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre, eine entwurzelte Konsum-, Freizeit- und Mediengesellschaft, in der die Partnersuche nur der eigenen Eitelkeit dient und die Informationsflut den Fernsehzuschauer längst desorientiert hat.
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Kritik

In mehr als hundert scheinbar beziehungslos aneinander gereihten Skizzen spiegelt sich die Gesellschaft: Beobachtungen in Alltagssituationen; poetische, metaphernreiche Episoden; absurde, surreale Szenen; Gedankensplitter und philosophisch-essayisische Betrachtungen.


„Paare, Passanten“ ist eine intellektuelle Gesellschaftsanalyse. Botho Strauß beschreibt und kritisiert die „allgemeine, gottverdammte Fick- und Ex-Gesellschaft“ (Seite 18) in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre, eine entwurzelte Freizeit- und Konsumgesellschaft, in der die Partnersuche nur der eigenen Eitelkeit dient, das Aussehen zum Marktwert und die Liebe zu einem Tauschobjekt verkommen sind, eine Mediengesellschaft mit einer Flut an simultanen, globalen Informationen, in der die Orientierung verloren ging. Die Geschwätzigkeit in Sprachhülsen einer sinnentleerten „ingenieurshaften Fertigteil-Sprache“ (Seite 126) täuscht über die Angst, den Werteverlust und die fehlende Zukunftsperspektive der Paare und Passanten hinweg.

Dieses kulturpessimistische Bild spiegelt sich in mehr als hundert scheinbar beziehungslos aneinander gereihten Skizzen. „Paare“, „Verkehrsfluss“, „Schrieb“, „Dämmer“, „Einzelne“ und „Der Gegenwartsnarr“ lauten die Überschriften der Abschnitte. Sie enthalten Beobachtungen von Paaren und Passanten in banalen Alltagssituationen, Verhaltensstudien, Reportagen, Eindrücke, poetische, metaphernreiche Episoden, absurde, surreale Szenen, Gedankensplitter, Aphorismen und philosophisch-essayisische Betrachtungen.

Ein Bezirksbeamter in den Mittdreißigern lässt vor seiner träg und stumm dasitzenden Frau seine Intelligenz warmlaufen. Er wirft ein kritisches Licht auf gewisse berufliche Vorfälle, ja er erhebt sich zum distanzierten Beobachter des eigenen Amts […] Und indem er so alleine spricht und niemanden beachten muss, fühlt er seine Intelligenz stetig zunehmen, und die Einsicht in die Zusammenhänge berauscht ihn […] Er (im Zuge seiner Amtsschelte): „Was das den Steuerzahler kostet!“ Sie: „Hat man denn keine andere Stelle, über die das laufen könnte?“ Er: „Ach was! Stell dir doch bloß mal vor, was das den Steuerzahler kostet!“ Und sagt es mit erhöhtem Nachdruck, fast erzürnt, damit die Frau sich endlich miterrege. Doch ihr Naturell gibt das nicht her […] Da schweigt er plötzlich, und eine nächste Frage, nähere Erkundigung von ihrer Seite unterbleibt. (Seite 16f)

Es treffen sich die Unverwüstlichen, Paare von unterschiedlichem Alter aus den gediegenen Akademikerkreisen, Montagabend in den Schlemmerstuben. Der Mann, der hier das Wort führt, am Tischende der Runde vorsitzt, ein Chirurg um die sechzig, zu Scherzen immerzu aufgelegt, fasst die junge Frau des Kollegen beim Arm, um sie zu ihrem Platz zu geleiten, drückt beiläufig an ihrem Oberarm in Brusthöhe herum, mit der anzüglichen körperlichen Bedrängung, die dem Kavalier alter Schule immer erlaubt ist, um dann wenig später mit der Kellnerin seine Späße zu machen […] und bekommt sofort einen Frostbeschlag auf die Augen, wenn diese zufällig auf seine Frau treffen. Die Frau wirkt älter als er, sehr hager, schmales knochiges Gesicht, dicke Brille, das Inbild einer geistige Werte besitzenden Tochter aus evangelischem Pfarrhaushalt […] blickt, da wenig oder gar nicht einbezogen in die von ihrem Mann beherrschte Unterhaltung, in einer sonderbar eckig-nervösen, immer die gleiche Bahn hüpfenden Ausschau schnell in eines der Gesichter ringsum, dann wieder vor sich hin auf den Tisch und geschwind wieder in ein Gesicht, zurück auf den Tisch und immer so fort, mit einem vogelhaften Staccato der Kopfbewegungen. (Seite 54f)

Wir trafen uns mit dem klugen H. im italienischen Restaurant und schnell folgte auf die alltäglichen Erkundigungen der gesunde, entschlackende Klatsch und auf ihn das gehobene Gespräch. Hiervon musste man bald den Eindruck gewinnen, dass die denkenden Gedächtnisse heute oft auch die zerfahrensten sind, ja dass sie ihr Denken allein noch im quälenden Zustand einer Gedankenflucht erhalten, also immer nur verlieren können. Wieviel schnelle Urteile stoßen sie doch aus in kürzester Zeit, wieviele geachtete Namen, mit denen sie bloß spielen und reizen und glänzen. Indessen wird von diesen bedrängten Köpfen so gut wie überhaupt keine Frage mehr gestellt; mit panischer Gewandtheit meiden sie die Schutzlosigkeit, in die sich der fragende Mensch begibt. (Seite 58)

Der Mensch, seit seinem Auftauchen vor dreißigtausend jahren gezwungen, immer was Besseres zu erfinden als er selbst von Natur aus an sich hatte, musste zugleich erleben, dass dies Bessere ihn zurückwies; so wie die Industriemaschine die menschlichen Hände zurückwies […] Von daher muss man wohl annehmen, dass die Gedächtnismaschine [Computer] auf den Ebenen, auf denen sie Vollkommenheit besitzt, uns ebenfalls zurückweisen wird und der Regression unserer Erinnerungsfähigkeit Vorschub leistet. Es ist ja eine irrige Annahme, dass das von sturen Aufgaben entlastete Organ deshalb besser und gesünder dran wäre und sich umso erfolgreicher auf ‚wesentliche Fragestellungen‘ konzentrieren könne. Das Gedächtnis kennt doch im Grunde gar nichts Überflüssiges. Die Fülle und der Reichtum an divergenten Operationen und Informationen sind doch die eigentliche Bewegung, die seine Energie erzeugen […] (Seite 149f)

Das tatenlose, überinformierte Bewusstsein, das nicht mehr in der Lage ist, Wunsch, Idee, Erinnerung zu produzieren, erlebt stattdessen eine (sonst nur dem Wahnsinn bekannte) Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren und denkt einen wahllos aus den Beständen zugespielten Datensalat […] Eine kulturelle Egalität, die jedem Ding gleichen Erscheinungswert zubilligt, ist die Wüste des Bewusstseins; und sie wächst, sie drängt an den Rand des Idiotismus […] (Seite 151)

Aber wir haben es allenthalben mit diesen reklamehaften Vergrößerungen der Affektwörter zu tun: „Also ich bin wahnsinnig erschrocken über seinen Mantel mit Pelzkragen.“ Ein aufwändiger, inflationärer Gebrauch von Leidfloskeln, eine Art hypochrondrisches Display betreibt Werbung für die eigene Hochempfindlichkeit: erschrocken, betroffen, angerührt; lauter falsche Bibbertöne eines im Herzen nicht mehr frappierbaren Subjekts. (Seite 126)

Der Überdruss ist der absolute Souverän unserer Kultur. (Seite 81)

Was soll man sagen zu der grundsätzlichen Abseitigkeit von Schreiber und Schrift? Wer sind wir denn gegenüber der Medienmasse und der Gewalt der Belanglosigkeit? Nichts und nie etwas. Nur indem ich sage, es gibt mich nicht und dich, Schrift, nur am Rand einer Wellenbewegung, die mein Abtauchen hervorruft, weise ich uns die eben noch angemessenen Plätze zu. Der kugelnde Kopf eines Betrunkenen in fortströmender Flut, der kurz vor der Schwelle zum Ruf gurgelnd zurück ins Gewässer sinkt – das ist das Fading des Kunstwerks, und das im Entwischen Erwischte bildet den Kern seines Realismus. (Seite 80)

In diesem Augenblick gewahrte ich, dass ich die ganze Zeit über auf einer hohen, sogar haushohen Leiter aus Holz gestanden war, und neben mir Hunderte von anderen Zuschauern, in ebensolcher Höhe, um über eine weiße Ringmauer hinweg einem Schauspiel zu folgen, das sich keiner von uns hätte träumen lassen. Doch ein kräftiger Wind griff uns von vorne an und hob uns mitsamt den Leitern von der Brüstung der Mauer, stellte uns frei und schwankend in die Luft, und die Leitern drohten nach hinten zu kippen. Manche kletterten eilig mehrere Sprossen abwärts, um Balance zu gewinnen […] Doch wir fielen alle mit dem Rücken auf den Boden. Einige blieben zerschmettert liegen, andere krochen gebrochen davon […] (Seite 106f)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Friedrich Dürrenmatt - Der Richter und sein Henker
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