Arnold Stadler : Ein hinreissender Schrotthändler

Ein hinreissender Schrotthändler
Ein hinreißender Schrotthändler Originalausgabe: DuMont Buchverlag, Köln 1999 ISBN 3-7701-4959-9, 237 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Köln 1998: Vor der Tür eines 42-jährigen, mit einer erfolgreichen Chirurgin verheirateten und auf seine Frühpensionierung hoffenden Geschichtslehrers steht ein Fremder und fragt nach einem Auto zum Ausschlachten. Der Hausherr bietet dem vermutlich vom Balkan stammenden Schrotthändler das Gästezimmer an. Seine Frau erklärt ihn zunächst für verrückt, findet jedoch rasch Gefallen an dem Gast ...
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Kritik

In seinem Roman "Ein hinreissender Schrotthändler" – nicht: "Ein hinreißender Schrotthändler" – erzählt Arnold Stadler konsequent in der Ich-Form eines namenlosen frustrierten Geschichtslehrers, dessen verzweifelte Komik das Buch lesenswert macht.
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Köln 1998: Vor der Tür des Ich-Erzählers, eines wegen vegetativer Dystonie vorläufig krankgeschrieben und auf seine Frühpensionierung hoffenden zweiundvierzigjährigen Geschichtslehrers vom Agnes-Miegel-Gymnasium, steht ein Fremder und fragt nach einem Auto zum Ausschlachten.

Wo sollte ich so schnell einen alten Wagen herbekommen? (Seite 9)

Der „hinreissende Schrotthändler“ heißt Adrian, stammt vermutlich vom Balkan, ist Moslem und heimatlos. Kurzerhand nimmt ihn der Erzähler im Gästezimmer auf. Seine Ehefrau Gabriele, eine erfolgreiche Handchirurgin, erklärt ihn deshalb zwar zunächst für verrückt, aber sie findet rasch Gefallen an Adrian.

Adrians Idee ist es schließlich, dass das Ehepaar seinen zwanzigsten Hochzeitstag in Überlingen verbringt, in dem Hotel, in dem damals gefeiert worden war und in dem Zimmer, in dem die Hochzeitsnacht stattgefunden hatte. Gabis Eltern – der Vater besaß in Hamburg eine Import-Export-Firma – waren gegen die Eheschließung ihrer Tochter mit einem aus Kreenheinstetten bei Meßkirch stammenden Geschichtslehrer gewesen, der nicht einmal richtig Deutsch sprach, aber Gabi hatte sich durchgesetzt. Bald nach der Hochzeit wollte sie einen Stammhalter, aber ihr Mann nicht. Damit begann die Entfremdung zwischen ihnen.

Ich habe auch meiner Frau einmal ganz am Anfang, als sie mich gewiss noch liebte, als darüber nicht der geringste Zweifel bestehen konnte und die Lieblosigkeit Lichtjahre von uns entfernt war, diese Frage gestellt: ‚Liebst du mich?‘ – Und sie hat dann, von heute aus gedacht, eine subtile, gleichzeitig geistreiche, ja, unerwartet wahre Antwort gefunden: ‚Bevor du mich gefragt hast, wusste ich es noch.‘ (Seite 21)

Zu dritt fahren sie nach Überlingen und stellen fest, dass die Schwägerin vonErnst Jünger dort noch immer ihren Strickwarenkiosk betreibt. Statt das Ehepaar zum Abendessen in den Speisesaal des Hotels zu begleiten, zieht Adrian es vor, eigene Wege zu gehen. Am Nebentisch sitzt der Komponist Wolfgang Rihm. Zurück im Zimmer schläft Gabi mit einem dort ausgelegten Reisekatalog in der Hand ein.

Die Rückfahrt nach Köln ist eigentlich für den nächsten Tag geplant. Weil jedoch Adrian noch nicht wieder aufgetaucht ist, bleibt das Paar noch eine weitere Nacht und kehrt erst dann ohne den Gast nach Köln zurück. Ein paar Tage später trifft eine Karte von Adrian aus Zermatt ein, und bald darauf ist er selbst wieder da.

Der Erzähler gibt seit längerer Zeit Kontaktanzeigen auf und hat festgestellt, dass er am meisten Erfolg hat, wenn er sich als bisexuell bezeichnet. Ein Mann aus Flensburg fährt eigens 500 Kilometer, um ihn kennen zu lernen.

Es handelte sich also um eine Literatur, die wahrgenommen wurde. (Seite 111)

Obwohl Adrian vermutlich gar keinen Führerschein besitzt, lassen Gabi und ihr Mann sich von ihm nach Stuttgart fahren, zur Feier des vierzigsten Geburtstags der Architektin Gabi Stauch-Stottele, die auch das Haus der Handchirurgin und des Geschichtslehrers in Köln entworfen und eingerichtet hat. „Wo ist mein Portemonnaie?“, ruft Gabi Stauch-Stottele, wenn sie ihren Mann meint.

Bei warmem Sommerwetter fahren Adrian, Gabi und deren Mann zu einem Baggersee bei Zülpich. Nachdem sie gegrillte Steaks aus der Kühlbox gegessen und einen Mittagsschlaf gemacht haben, brechen Gabi und Adrian zu einem Spaziergang auf und nehmen zur Verwunderung des zurückbleibenden Ehemanns eine Decke mit. Während sie eine Stunde ausbleiben, schleppt der Hund Max das Höschen einer sich in der Nähe sonnenden Frau an. Nur mit Sonnenbrille, Strohhut und Badeschlappen bekleidet kommt sie herüber, um es zurückzuholen. An ihren Beinen stellt der Erzähler eine fortschreitende Cellulitis alimentosa fest. Als Adrian am Abend nach dem Badeausflug in einer Pizzeria seine katastrophale Pizza unbemerkt unter die Eckbank wirft und Gabi es ihm nachmacht, weiß der Erzähler, dass er zu ihrem Zweitmann degradiert wurde.

Der von ihr empfohlene Psychotherapeut diagnostiziert eine Gynäkophobie bei ihm, aber das hilft ihm ebenso wenig weiter wie ein Aufenthalt in der Schlafklinik bei Wangen im Allgäu.

Eines Tages bringt Adrian einen anderen Kerl mit und verlangt von seinem Gastgeber einen größeren Geldbetrag. Die beiden sperren ihn in die Sauna – noch dazu bei Musik von Phil Collins! – und werfen ihm den abgetrennten Schwanz des Katers Moritz nach. Nach einer halben Stunde zerrt ihn der Fremde heraus, bringt die Katze vor seinen Augen um, ritzt ihn mit einem Messer am Hals und bricht ihm den kleinen Finger. Daraufhin rückt der Malträtierte das Geld heraus. Als er es seiner Frau berichtet, gesteht sie ihm, bereits drei Mal in die Sauna eingesperrt worden zu sein und Adrian jedes Mal das verlangte Geld gegeben zu haben. – Weil es bei Strafe verboten ist, Tierkadaver im Garten zu vergraben, lassen sie den toten Moritz von einem Spezialfahrzeug entsorgen: zwei Kilogramm Sondermüll.

Unerwartet erhält der Erzähler eine Karte mit Trauerrand, auf der ihm seine Jugendfreundin Rosemarie mitteilt, dass ihre Mutter Imelda Schwichtenberg an Herzversagen starb. Er fährt zur Beerdigung nach Kreenheinstetten. Dort hat sich einiges verändert: In den alten Häusern wohnen jetzt Bosnier. Die katholischen Bewohner gehen zwar noch zur Kirche, fahren aber auch zur Sexmesse nach Sigmaringen. Rosemarie nennt sich inzwischen Romy, und ihr Haar ist nicht mehr blond, sondern schwarz-rot. Ihr Vater ist schon lange tot. Der Besucher erinnert sich, wie er mit dem ein paar Jahre älteren Flüchtlingskind Rosemarie im Kartoffelkeller Doktor beziehungsweise Vater-und-Mutter gespielt hatte. Auf dem Friedhof lädt ihn Rosemarie zum Leichenschmaus im 300 Meter entfernten Gasthaus „Zur Traube“ ein. In dem Konvoi, der sich nach der Beerdigung in Bewegung setzt, fährt er als Einziger eine Mercedes-Limousine; alle anderen besitzen einen Geländewagen. Bei dem Gasthof handelt es sich um sein Elternhaus. Sein nichtsnutziger Bruder verkaufte ihn und setzte sich mit seiner Frau in die Gegend von Alicante ab. Rosemarie erzählt ihm, dass sie zunächst als Avon-Beraterin herumgefahren war und sich dann ein Eheanbahnungsinstitut einrichtete. Als der Markt dafür zurückging, wechselte sie auf Immobilien über, und seit kurzer Zeit leitet sie außerdem ein Detektivbüro und ein Fitness-Studio. Ihr Büro befindet sich im Auto-Salon ihres Mannes Hugo Saummüller, der „mit einem rotfleckigen, landesüblichen Hohen-Blutdruck-Gesicht“ am Tisch sitzt und einen Geländewagenhandel betreibt. Natürlich muss der Besucher bei Hugo und Rosemarie übernachten, aber die Gastgeberin verabschiedet sich bereits vor dem Schlafengehen von ihm, weil sie am nächsten Morgen einen sehr frühen Kundentermin hat.

In Köln stellt er fest, dass Gabi ihn mit Adrian verlassen hat. Die Polizei verdächtigt ihn als Doppelmörder, aber er hat wegen seines Aufenthalts in Kreenheinstetten ein hieb- und stichfestes Alibi.

Meine Frau und ich: fünfundzwanzig Jahre haben wir nebeneinander hergelebt, wir sind eine Geschichte, von der ich nur die eine Hälfte kenne. (Seite 235)

Unter Gabis Sachen findet er eine Erklärung über seine zwangsweise Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, die sie nur noch hätte unterschreiben müssen. Darüber befürchtet er, verrückt zu werden und beantragt selbst seine Einlieferung.

Ich hatte Angst vor der Angst, verrückt zu werden, den Verstand zu verlieren.
Ich hatte Angst vor der Angst vor der Angst. (Seite 228f)

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„Ein hinreissender Schrotthändler“ heißt der Roman von Arnold Stadler – abweichend von der geltenden Orthografie mit Doppel-S geschrieben. Es heißt also nicht: „Ein hinreißender Schrotthändler“. Erzählt wird konsequent in der Ich-Form eines namenlosen frustrierten Geschichtslehrers, der einen heimatlosen Kriminellen bei sich aufnimmt und seine Ehefrau an diesen „hinreissenden Schrotthändler“ verliert. Er beschäftigt sich mit seiner Lage und hängt vor allem während eines Kurzbesuches in seinem Heimatdorf alten Erinnerungen nach.

Kurz: ich sitze auf dem Imperfekt und kriege ihn nicht los. (Seite  234)

Die verzweifelte Komik des Protagonisten macht das Buch lesenswert, auch wenn „Ein hinreissender Schrotthändler“ nicht Arnold Stadlers bester Roman ist und der Sprachwitz mitunter am Kalauer vorbeischrammt:

Als Kind hatte ich Angst vor dem Scheintod. Es war die Angst, lebendig begraben zu sein. Dann habe ich doch geheiratet. (Seite 99)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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