Silvia Tolchinsky


Silvia Tolchinsky wurde am 9. März 1948 in Buenos Aires geboren. Ihre jüdische Familie stammte aus Odessa. Sie studierte Geschichte und heiratete den sozialistischen Lehrer Miguel Villarreal aus La Plata. 1971 bekamen sie ihr erstes Kind. Zwei Jahre nach der Geburt des dritten Kindes, am 8. Juli 1978, wurde Miguel Villarreal von der Geheimpolizei in Buenos Aires festgenommen und in die Escuela de Mecánica de la Armada gebracht. Fünf Tage später fand man seine Leiche im Parque Centenario. Er habe sich aus Liebeskummer selbst das Leben genommen (Suizid), behauptete die Polizei.

Inzwischen, am 24. März 1976, hatte das Militär unter Jorge Rafael Videla die Regierungsgewalt in Argentinien an sich gerissen und den „Prozess der Nationalen Reorganisation“ eingeleitet. Grausam ging das Regime vor allem gegen den Movimiento Peronista Montonero vor, der als linksgerichtete Stadtguerilla gegen die Militärdiktatur kämpfte. Miguel Villarreal war einer der Montoneros. Auch Silvia Tolchinsky gehörte dazu, verteilte Flugblätter der Untergrundorganisation und leistete Kurierdienste.

Nach dem Tod ihres Mannes zog Silvia Tolchinsky nach Kuba. Dort brachte sie ihre drei Kinder in ein Heim, bevor sie im April 1980 nach Buenos Aires zurückkehrte und sich weiter für den Movimiento Peronista Montonero engagierte.

Am 9. September 1980 bestieg Silvia Tolchinsky in Mendoza einen Überlandbus, um sich nach Chile abzusetzen. Im argentininischen Grenzort Las Cuevas wurde sie jedoch festgenommen. Zehn Männer brachten sie zunächst in eine Höhle, dann nach Mendoza, wo sie auf ein Bett gefesselt wurde. Nach drei Tagen musste sie gefesselt und mit verbundenen Augen ein kleines Flugzeug besteigen. Elf Monate lang sperrte man Silvia Tolchinsky in ein abgelegenes Wochenendhaus in der Nähe eines Armeegeländes bei Buenos Aires (Campo de Mayo), das der militärische Geheimdienst (Servicio de Inteligencia del Ejército) als geheimes Foltergefängnis benutzte.

Einmal folterte man bei einem Verhör statt Silvia Tolchinsky einen Mitgefangenen, Padre Jorge Ardur. Silvia Tolchinsky trug zwar eine Augenbinde, aber sie hörte die Schreie des Mannes und roch verbranntes Fleisch. Offenbar hatten ihn die Folterknechte auf ein Metallbett gefesselt und traktierten ihn mit Stromstößen, wenn Silvia Tolchinsky eine Frage nicht zu ihrer Zufriedenheit beantwortete.

Um nicht den Verstand zu verlieren, sang sie leise Tangolieder.

Im August 1981 brachten drei Männer Silvia Tolchinsky mit einem Flugzeug nach Paso de los Libres nahe der Grenze zu Brasilien. Dort musste sie in einem Geheimgefängnis putzen, kochen und waschen. Überquerte ein Bus die Grenze, zeigte man ihr die Pässe der Reisenden und fragte, ob ein Bekannter darunter sei.

Mit Geheimpolizisten, die Ende November 1981 aus Buenos Aires anreisten, kam Claudio Gustavo Scagliuzzi, der Sohn eines Generals, ein schüchterner Architekturstudent, der seit 1975 als Zivilangestellter zu dem für militärische Geheimoperationen zuständigen Bataillon 601 gehörte.

Ab März 1982 wurde Silvia Tolchinsky in einer Wohnung in Buenos Aires von jeweils zwei Frauen bewacht. Zwischendurch musste sie in der Stadt herumlaufen, während die Geheimpolizei sie belauerte, denn man hoffte, dass noch nicht aufgegriffene Montoneros sie sehen und unvorsichtigerweise ansprechen würden.

Jorge Rafael Videla hatte sich vergeblich bemüht, Argentinien aus der schweren Wirtschaftskrise herauszuführen. Das gelang auch seinen Nachfolgern Roberto Viola (März 1981) und Leopoldo Galtieri (Dezember 1981) nicht. Im April 1982 versuchte Galtieri deshalb, die Bevölkerung durch die Besetzung der Falklandinseln zu mobilisieren. Im Falklandkrieg wurde Argentinien jedoch im Juni 1982 von Großbritannien besiegt. Diese Niederlage führte den Sturz der Militärjunta herbei.

Claudio Gustavo Scagliuzzi tauchte wieder bei Silvia Tolchinsky auf und arrangierte im Juli 1982 eine wie zufällig aussehende Begegnung mit einem Onkel. Dem erklärte sie, wie mit Scagliuzzi abgesprochen, sie habe sich vor zwei Jahren vom Movimiento Peronista Montonero getrennt und sich seither aus Angst vor der Vergeltung an verschiedenen Orten versteckt.

Am 5. November 1982 fuhr Scagliuzzi die Gefangene zur Wohnung ihres Onkels. Dort sah Silvia Tolchinsky zwei Tage später auch ihre Kinder wieder, die von ihrer Schwiegermutter aus dem Heim in Kuba geholt worden waren. Dann musste sie wieder in ihr Gefängnis zurück. Ende Dezember schlug man ihren Verwandten vor, eine Wohnung für sie zu kaufen, in der sie dann unter Hausarrest stehen würde.

Im Juni 1983 wandte Silvia Tolchinsky sich an Marshall Meier, den Rabbi von Buenos Aires, und berichtete ihm, was ihr angetan worden war. Meier setzte sich mit der israelischen Botschaft in Verbindung, und ein paar Tage später, am 27. Juni, flog Silvia Tolchinsky mit ihren drei Kindern nach Montevideo. Über Zürich gelangten sie nach Tel Aviv.

Gustavo Scagliuzzi, der sich am Flughafen in Buenos Aires von Silvia Tolchinsky verabschiedet hatte, gab seine Stelle auf und traf im September in Israel ein.

Im Juli 1986 übersiedelten Silvia Tolchinsky und Gustavo Scagliuzzi mit den Kindern nach Spanien. Dort heirateten sie am 24. April 1987.

Vier Jahre später, am 27. August 2001, wurde Gustavo Scagliuzzi verhaftet. Ein Richter in Buenos Aires verdächtigte ihn, Silvia Tolchinsky entführt zu haben und an den vom Bataillon 601 durchgeführten Folterungen beteiligt gewesen zu sein. Deshalb wurde er nun mit einem internationalen Haftbefehl gesucht, und Argentinien verlangte seine Auslieferung.

Das Schicksal von Silvia Tolchinsky und Claudio Gustavo Scagliuzzi inspirierte den Schweizer Journalisten Erwin Koch (* 1956) offenbar zu seinem Debütroman „Sara tanzt“.

© Dieter Wunderlich 2010
Hauptquelle: Hans Rudolf Schär, Tango Argentino, TAZ, 19. Januar 2002

Erwin Koch: Sara tanzt

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