Kathrin Schmidt : Du stirbst nicht

Du stirbst nicht
Du stirbst nicht Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 ISBN: 978-3-462-04098-2, 348 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 44-jährige Schriftstellerin Helene Wesendahl erwacht zwei Wochen nach einer Hirnblutung aus dem Koma. Sie kann sich weder bewegen noch artikulieren, hört jedoch, was im Raum gesprochen wird, auch wenn sie nicht alles einzuordnen vermag. Hilflos ist sie auf Ärzte und Pfleger angewiesen. Aus der Innenperspektive der Hauptfigur erleben wir mit, wie sie allmählich die Sprache zurückerobert und Stück für Stück ihre Vergangenheit rekonstruiert ...
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Kritik

Kathrin Schmidt stellt den Prozess der Wiedererlangung des Sprech- und Erinnerungsvermögens authentisch und nachvollziehbar dar. Gerade weil sie keine Sentimentalität aufkommen lässt, ist "Du stirbst nicht" ein ergreifender Roman.
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Es klappert um sie herum. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?
Die rechte Hand ist aber viel kälter als die linke, sagt sie, und der rechte Fuß genauso.
Warum hat die Mutter eine kalte rechte Hand?, fragt sie sich. Muss lächeln, als sie sich vorstellt, sie überprüfe die Temperatur ihrer Füße.
Sie lacht!, sagt ihre Mutter.
Sie verzieht nur das Gesicht.
Hat das ihr Vater gesagt? Aber ja, das war unzweifelhaft die Stimme ihres Vaters! Jetzt möchte sie doch die Augen öffnen. Was hat sie in der Küche ihrer Eltern zu suchen, wo mit Besteck geklappert und die Hand- und Fußtemperatur untersucht wird und sie ihre Augen nicht öffnen kann? (Seite 6f)

Mit dieser Szene beginnt Kathrin Schmidt ihren Roman „Du stirbst nicht“.

Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz komisches gegessen haben.
Der Wortschwall der Frau kommt immer näher.
… Hören Sie mich, Helene? Na ja, ist schwer zu sagen, was? Auf jeden Fall müssen wir bald beginnen, Sie öfter in die Senkrechte zu manövrieren. Das war der erste Versuch heute, hören Sie? Hören Sie? Ich glaube, sie hört …
War das zu ihr gesprochen? Sie weiß es nicht. Möchte schlafen. Ist geschafft.
Dass sie Helene heißt, glaubt sie merkwürdigerweise. (Seite 10)

Es klopft.
Ihr Mann kommt, Frau Wesendahl.
Wesendahl … Ihr Mann kommt. Heißt er auch Wesendahl? […] Als er ans Bett tritt, weint er. Hat sie etwa ein Kind bekommen? Das letzte Mal sah sie ihn weinen, als ihre jüngste Tochter geboren wurde. Das ist jetzt fünf Jahre her, und er stand genauso an ihrem Bett wie jetzt. (Seite 19)

Die vierundvierzigjährige Schriftstellerin Helene Wesendahl hatte vor zwei Wochen eine Hirnblutung infolge eines geplatzten Aneurysma und lag nach zwei Operationen bis jetzt im künstlichen Koma. Sie kann sich weder bewegen noch artikulieren, hört jedoch, was im Raum gesprochen wird, auch wenn sie nicht alles einzuordnen vermag. Hilflos muss sie es hinnehmen, dass ihr ein Pfleger nach dem Defäkieren den Anus säubert.

Nach einer weiteren Woche wird sie aus der Intensivabteilung in ein normales Krankenzimmer mit drei weiteren Patientinnen verlegt. Schließlich kann sie den linken Arm heben, bleibt jedoch rechtsseitig gelähmt. Unter großen Schwierigkeiten beginnt sie wieder zu sprechen. Manchmal fehlen ihr allerdings die Begriffe, oder sie verwechselt Wörter, sagt beispielsweise „Sand“, wenn sie „Quark“ meint. Nachdem sie von ihrem Ehemann Matthes erfahren hat, was mit ihr geschehen ist, versucht sie angestrengt, sich an ihr Leben vor der Hirnblutung zu erinnern. Das gelingt zunächst nur rudimentär.

Helene kann Tag- und Nacht- und Koma- und Narkoseträume nicht unterschieden. (Seite 43)

Ergo-, Physio-, Logo- und Psychotherapie wechseln sich ab. Allmählich erobert Helene die Sprache zurück und lernt, ihr rechtes Bein ein wenig zu bewegen. Stück für Stück begreift sie ihre Situation und rekonstruiert ihre Vergangenheit. Sie befindet sich im Frühsommer 2002 in einer Klinik in Berlin. Vor sechsundzwanzig Jahren lernte sie Matthes in Leipzig kennen. Er studierte Mathematik, sie Psychologie. Matthes war damals bereits verheiratet und hatte eine ein Jahr alte Tochter: Natascha. Sein Sohn Mischa wurde 1977 geboren. Die Familie wohnte in Leipzig-Wiederitzsch. Helene war unverheiratet, bekam aber 1979 und 1984 ebenfalls Kinder, von zwei verschiedenen Männern: Bengt und Bill. Als Matthes geschieden wurde und Helene 1984 in Henrichshorst heiratete, war die Braut mit Lissy schwanger. Matthes arbeitete als Kalkulator in einem Heizkraftwerk in Berlin Mitte. Helene brachte jeden Morgen Bengt in den Kindergarten und Bill zu einer Tagesmutter, um vor der Niederkunft noch in einer Ostberliner Klinik ein Praktikum als Krankenschwester machen zu können. Ende 1987 fing sie in einer Poliklinik zu arbeiten an. 1988 gebar sie dann Mareile, und 1997 brachte sie Lottchen zur Welt. Sie wohnten zuerst in Henrichshorst, zogen aber bald nach der Eheschließung nach Karlshorst.

Mischa hatte damals verstört auf die Trennung seiner Eltern reagiert, und vor drei Jahren warf er sich vor einen Zug [Suizid].

Einmal sitzt Helene im Park des Krankenhauses. Sie ist froh, dass sie ihre Ruhe hat.

Ein kleines, Mama rufendes Mädchen kommt an der Hand eines Mannes den Betonweg entlanggerannt. Die beiden bleiben stehen, das Mädchen sieht ihr erwartungsvoll in die Augen. Neugierig schaut sie zurück. Langsam dämmert ihr, dass sie es kennt. Es heißt Lottchen. (Seite 50)

Von Matthes erfährt Helene, dass sie vorgehabt hatte, mit Lottchen zu ihrer Freundin Carla zu fahren. Am Tag vor der geplanten Reise brach sie jedoch aufgrund der Hirnblutung zusammen.

Als sie sich einigermaßen aufgeräumt zurücklehnt, taucht plötzlich das Bild der Korkwand in der Karlshorster Küche auf. Ja, die Karten für die Fahrt zu Carla waren mit einer Reißzwecke festgepinnt, fällt ihr ein. Sie rekonstruiert: daneben eine lange Aufstellung wichtiger Telefonnummern, zwei Holzhampelmännchen, eine Visitenkarte von Mr Nagarajan aus Bangalore, der ihr seit über einem Jahr einen Artikel schicken will. Sie lacht. Darunter – die Liste mit Dingen, die sie mitzunehmen gedachte.
Sie lacht nicht mehr.
Sie hatte vor, auszuziehen. (Seite 45f)

Helene erinnert sich: Matthes schlief schon seit längerer Zeit in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach, und sie hatte beschlossen, ihn zu verlassen. Dass Matthes vor sechzehn Jahren zu ihrer damaligen Freundin Heidrun gezogen und nach sieben Wochen reumütig zurückgekommen war, spielte dabei keine Rolle. Aber warum wollte sie fort von ihm?

Als Helene erstmals für einen Nachmittag nach Hause darf, schickt Matthes die Kinder fort und reißt ihr die Kleider vom Leib. Sie hat keine Lust, ist aber nicht in der Lage, ihm Widerstand zu leisten. Dabei war sie es früher, die mitunter über ihn herfiel, wenn er nach Hause kam. Helene weint und nimmt an, dass Matthes deshalb glaubt, sie sei glücklich.

Nach einiger Zeit kommt sie in eine Reha-Klinik in Heidemühlen.

Sie erinnert sich, wie ihr vor vierundzwanzig Jahren eine Medizinstudentin namens Patricia ihre Liebe gestand. Helene küsste sie wortlos auf die Stirn und ging ihr von da an aus dem Weg. Zwanzig Jahre später stand Patricia plötzlich mit einer Elektrikerin bei ihr in der Tür, die sie stolz als ihre Frau vorstellte.

Helene fällt Viola ein. Letztes Jahr suchte sie für einen Artikel, der in einer Frauenzeitschrift erscheinen sollte, geschiedene Ehepaare, die bereit waren, über ihre gescheiterte Beziehung zu reden. Auf ihre Anzeige hin meldete sich „V.“: „Ich habe mich 1994 von meiner Frau scheiden lassen. Man hat uns gezwungen, das zu tun.“ (Seite 133) Weil Viola in Potsdam wohnte, verabredeten sie sich in Sanssouci. Mit ihrer tiefen Stimme wirkte Viola zunächst wie ein Mann. Sie war tatsächlich mit einem männlichen Körper zur Welt gekommen, hieß zunächst Viktor und leistete den Grundwehrdienst. Während der Dissertation verliebte sich die Transsexuelle in eine Frau, und als diese schwanger wurde, heirateten die beiden. 1983 wurden ihre Zwillinge Tim und Tom geboren. Zehn Jahre später hielt Viktor den Zeitpunkt für gekommen, sich zu outen und hoffte zuversichtlich auf das Verständnis der Ehefrau. Die war jedoch entsetzt. Als Viktor/Viola sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschloss und die Personenstandsänderung beantragte, wurde die Ehe zwangsweise geschieden, und Viola durfte ihre Söhne nicht mehr sehen.

Helene und Viola sahen sich häufiger und fingen an, sich zu küssen. Kurz vor Weihnachten fuhren sie zusammen für ein paar Tage nach Zinnowitz an der Ostsee. Im März schliefen sie erneut in einem Hotelzimmer miteinander, aber da begriff Viola, dass Helene heterosexuell bleiben würde und meinte verärgert, sie könne ihr keinen Kerl ersetzen. Im April sahen sie sich noch ein letztes Mal, aber Viola wich zurück, als Helene sie küsste und dabei die Zunge gebrauchte.

Helenes Rollstuhl wird durch einen Rollator ersetzt. Energisch übt sie damit das Gehen. Ihren rechten Arm kann sie allerdings noch immer nicht bewegen.

Weil sie seit Monaten keine Menstruation mehr hatte, befürchtet Helene, schwanger zu sein. Aber sie kann dem Arzt doch nichts von dem Vorfall mit Matthes erzählen! Immerhin lässt sie sich untersuchen. Sie sei definitiv nicht schwanger, erklärt ihr der Arzt, aber möglicherweise habe sie das Klimakterium bereits hinter sich. Das komme in Fällen wie dem ihren vor. Helene ist schockiert. Sie soll plötzlich nicht mehr fruchtbar sein?

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Erneut kommt Helene im Krankenhausbett zu sich, kann kein Wort sprechen und sich überhaupt nicht bewegen. Eine Schwester versucht, sie zu füttern, und sie ist nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren, obwohl es sie würgt. Zum Glück ist Bill da, merkt es und schickt die eifrige Schwester weg.

Kann mir mal jemand sagen, was ich hier will? Sie bringt die Frage einfach nicht heraus, das ist ja schlimmer als der Sprachverlust nach der Operation!, denkt sie. Damals waren im Moment des Sprechenwollens meist auch die Wörter weg, während sie jetzt doch da sind, aber keines kann ihren Mund verlassen! (Seite 227)

Sie hatte vor zwei Tagen einen epileptischen Anfall, unmittelbar nachdem ihr von Matthes die Nachricht vom Tod Violas überbracht worden war. In einem Berliner Krankenhaus behandelt man sie mit Ergenyl chrono, aber darauf reagiert sie allergisch, und ihre Beine schwellen an. Der von Matthes ohne Abstimmung mit den behandelnden Ärzten konsultierte Heilpraktiker verabreicht ihr ein homöopathisches Präparat und rät ihr, das Medikament gegen Epilepsie schleichend abzusetzen.

Matthes hatte durch eine Trauerkarte von Tim und Tom von Violas Tod erfahren. Die Zwillinge hatten vor einiger Zeit gegen den Willen ihrer Mutter wieder Kontakt mit Viola aufgenommen, des Öfteren bei ihr übernachtet und auch die Schlüssel ihrer Wohnung bekommen. Den ganzen Juni über hielten sie sich in Frankreich auf. Als sie Anfang Juli zurückkamen, fanden sie im Schlafzimmer Violas deren halb verweste Leiche. Der Arzt war sich nicht sicher, schrieb aber in den Totenschein „Herzversagen“ als Todesursache und gab den 23. Juni als Todestag an.

Matthes, der selbst keinen Führerschein hat, kommt mit einem Nachbarn, um Helene für einen Tag nach Hause zu holen. Ihre Töchter kochen.

Helene ist bemüht, den Mund geschlossen zu halten beim Essen. Kein Fädchen soll sich abseilen, kein Bröckchen herausfallen. In dieser Anstrengung krampft die rechte Hand, die sie nun unter dem Tisch zu halten versucht, die sich aber immer wieder langsam in die Höhe zieht. Es macht sie wütend, dass sie das Fleisch nicht selbst schneiden, die Kartoffeln nicht zerdrücken kann, oder? Ja, es ist Wut. Sie muss sich bezähmen […] Allmählich merkt sie, wie Speichel einschießt, wie sie die Kaumuskeln nicht mehr bewegen kann, weil ihr Gesicht von einer Heulattacke verzogen wird und ihr Mund sich öffnet. Tränen rollen. Meine Güte, warum muss ihr das aber auch immer wieder passieren! Und sie kann ja nicht einmal rausrennen! (Seite 271)

Als ihr ein Arzt im Krankenhaus Blut abnimmt, erzählt sie ihm, sie habe die Einnahme von Ergenyl chrono schleichend abgesetzt und nehme jetzt kein Mittel mehr gegen Epilepsie. Kurz darauf wird sie zur Stationsleitung gerufen, wo drei Ärzte und zwei Schwestern ihr Vorhaltungen machen und Helene darauf hinweisen, dass sie die Verantwortung für ihre Behandlung tragen. Ist Helene denn nicht selbst für sich verantwortlich? Einer der Ärzte spricht mit Matthes und rät ihm, sich von einem Gericht vorübergehend als rechtlicher Betreuer für seine Ehefrau bestellen zu lassen, aber davon will er nichts hören.

Beim Entlassungsgespräch spürt Helene bei den Ärzten und Therapeuten eher Selbstzufriedenheit als Freude über ihre Fortschritte.

Sie ist wieder zu Hause.

Matthes sitzt im Wohnzimmer, liest. Sie setzt sich leise in den Sessel neben seinem, er sieht fragend zu ihr hin.
Ich sterbe, sagt sie ruhig.
Du stirbst nicht, sagt er ruhig. (Seite 348)

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Kathrin Schmidt war 2002 im Alter von vierundvierzig Jahren nach einer Hirnblutung vorübergehend gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Diese schreckliche Erfahrung verarbeitet sie in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Du stirbst nicht“, der von einer vierundvierzigjährigen Schriftstellerin handelt, die nach einer Hirnblutung im Krankenhaus aus dem Koma erwacht. Sowohl die Autorin als auch die Protagonistin Helene Wesendahl wuchsen in der DDR auf und studierten Psychologie. Bis auf diese Parallelen sei „Du stirbst nicht“ kein autobiografischer Roman, betont Kathrin Schmidt.

Obwohl „Du stirbst nicht“ in der dritten Person Singular geschrieben ist, stellt Kathrin Schmidt das Geschehen aus der Innenperspektive der Hauptfigur dar. Solange sie sich weder bewegen noch artikulieren kann, ist sie selbst bei intimen Verrichtungen auf das Pflegepersonal angewiesen. Das empfindet sie als entwürdigend. Als sich ihr Zustand bessert, versucht sie zunächst vergeblich, beim Essen nicht zu sabbern und beim Sprechen keine im Mundwinkel zerplatzenden Speichelbläschen zu produzieren. Sie schämt sich. Zornig wird sie, als die Ärzte ihr sogar noch kurz vor ihrer Entlassung aus der Reha-Klinik die Autonomie streitig machen und die Auffassung vertreten, sie seien allein für Helenes Behandlung verantwortlich.

Stück für Stück rekonstruiert Helene die Erinnerung an die Vergangenheit, an ihre Kinder, die Krise in ihrer Ehe und die intensive Beziehung mit einer lesbischen Transfrau.

Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt. (Begründung der Jury für den Deutschen Buchpreis 2009, zit. nach: www.deutscher-buchpreis.de)

Der Aufbau des Romans und bis zu einem gewissen Grad auch die Sprache folgen dem Prozess der Wiedererlangung des Sprech- und Erinnerungsvermögens. Diese Entwicklung ist nachvollziehbar und wirkt authentisch. Gerade weil Kathrin Schmidt nüchtern und unpathetisch schreibt und sich stilistisch weit abseits der Betroffenheitsliteratur bewegt, ergreift dieser Teil der Geschichte den Leser.

Je nach Bewusstseinszustand und Sprachfertigkeit Helenes variiert das Satztempo, woraus sich vom Verstummen über Stakkato bis zu rhythmischer Dynamik ein facettenreiches Klangbild des Romans ergibt. (Walter Fabian Schmid, www.poetenladen.de)

Die Beziehungsgeschichte bleibt dagegen schemenhaft; Bedeutung kommt ihr nur als Material für die Darstellung des sich allmählich aus Bruchstücken zusammensetzenden Erinnerns der Patientin zu.

Erstaunlich ist, dass bei der Lektorierung eines literarisch so anspruchsvollen Buches einige Schludrigkeiten übersehen wurden.

Viola […] blieb der verwandelte Vamp, dessen Lippenstift stündlich nachgezogen werden musste. (Seite 159; nicht der Lippenstift, sondern die Lippen mussten nachgezogen werden)

Vorgestern hatte sie Matthes besucht. (Seite 228; nicht Helene hatte Matthes besucht, sondern umgekehrt)

Violas Tod. Matthes hatte ihn überbracht. (Seite 230; nicht den Tod, sondern die Nachricht hatte Matthes überbracht)

Gestern gab es sogar einen ersten Schneeschauer, der aber folgenlos blieb, denn die Erde war viel zu warm, als dass er hätte liegen bleiben können. (Seite 317; der Schnee, nicht der Schneeschauer hätte liegen bleiben können)

Der Jury, die den Deutschen Buchpreis 2009 vergab, gehörten an: Richard Kämmerlings (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (Literaturkritiker), Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung), Iris Radisch (Die Zeit), Daniela Strigl (Literaturwissenschaftlerin, Universität Wien) und Hubert Winkels (Deutschlandfunk) als Sprecher. Aus zwischen 1. Oktober 2008 und 16. September 2009 veröffentlichten Romanen wählte die Jury zunächst 154 Titel aus und stellte dann in zwei weiteren Schritten eine „Longlist“ (20 Titel) und eine „Shortlist“ (6 Titel) zusammen. Auf der „Shortlist“ standen außer „Du stirbst nicht“ von Kathrin Schmidt: „Lichtjahre entfernt“ von Rainer Merkel, „Atemschaukel“ von Herta Müller, „Überm Rauschen“ von Norbert Scheuer, „Die Frequenzen“ von Clemens J. Setz und „Grenzgang“ von Stephan Thome.

Den Roman „Du stirbst nicht“ von Kathrin Schmidt gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (Regie: Corinna Zimber, Freiburg i. B. 2010, 5 CDs, ISBN: 978-3-89964-378-7). Eine Taschenbuchausgabe ist für Dezember 2010 geplant (btb, ISBN: 978-3-442-74113-7).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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