Kathrin Schmidt : Die Gunnar-Lennefsen-Expedition

Die Gunnar-Lennefsen-Expedition
Die Gunnar-Lennefsen-Expedition Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998 ISBN: 3-462-02742-5, 431 Seiten Taschenbuch: btb, München 2007 ISBN: 9783442735839, 431 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In dem Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" erzählt Kathrin Schmidt vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse im 20. Jahrhundert und des Alltags in der DDR eine Familiensaga über vier Generationen hinweg. Schwachen Männern stehen starke, sexuell leicht erregbare und vielfach unverheiratete Mütter gegenüber, die wissen, was sie wollen und sich auch durchsetzen ...
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Kritik

In der grotesken, deftig-komischen Familiensaga "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" lässt Kathrin Schmidt mit überbordender Fabulierlaune eine Fülle von Figuren auftreten und türmt eine pittoreske Szene auf die andere.
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Josepha Schlupfburg arbeitet als Druckerin im „VEB Kalender und Büroartikel Max Papp“ in der thüringischen Kleinstadt W. „diesseits der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze“. Die Neunzehnjährige wohnt seit ihrem sechsten Lebensjahr bei ihrer Urgroßmutter Therese Schlupfburg. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt. Als sie eingeschult wurde, schenkte ihr der Vater einen Taschenkalender, in dem er in jedem Monat einen Sonntag angekreuzt hatte: Da dürfe sie ihn besuchen, erklärte er Josepha.

In der Nacht vom 29. Februar / 1. März 1976 liegt Josepha mit dem Angolaner Mokwambi Solulere in ihrem Bett und wird geschwängert. Während ihr Liebhaber längst wieder über die „im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigte Grenze“ verschwunden ist, erwartet Josepha ihr „schwarz-weißes Kind“. Die Möglichkeit einer Abtreibung kommt ihr gar nicht in den Sinn. Dabei wäre es in ihrem Fall naheliegend gewesen, darüber nachzudenken.

Was wäre selbstverständlicher erschienen, als einem eben begonnenen Kind die Abwesenheit des Vaters und die Andersartigkeit des eigenen Aussehens in einer ansonsten engerlingsfarbenen vermeintlichen Stammbürgerschaft zu ersparen? Was erschiene selbstverständlicher, als den Fehltritt reuig zuzugeben und sich unter die Hände eines Gynäkologen zu legen, den Lebensweg wieder begradigen zu lassen durch eine Auskratzung? (Seite 140f)

Um dem schwarz-weißen Kind eine Geschichte vorweisen zu können, planen Josepha und ihre Urgroßmutter am dritten Tag der Schwangerschaft die „Gunnar-Lennefsen-Expedition“, mit der sie „in den äußersten Norden ihrer weiblichen Gedächtnisse vorzudringen hoffen“ (Seite 18).

Während Josepha glaubt, sich in Fragen der Psychoanalyse belesen zu müssen, und Schwierigkeiten bekommt, die betreffenden Schriften zu beschaffen, genügt es Therese, sich allmorgendlich in den Ohrensessel an ihrem Fenster zu setzen, die Augen zu schließen und den wie Federwolken vor ihren Augendeckeln ziehenden Träumen nachzujagen. (Seite 16f)

Am 10. März 1976, auf der ersten Etappe der Gunnar-Lennefsen-Expedition, erinnert Therese sich, wie sie 1914 ihren siebzehnjährigen Bruder Paul in ihrer ostpreußischen Heimat mit einer Holzpantine erschlug, um ihm den qualvollen Tod durch Giftgas im Ersten Weltkrieg zu ersparen.

Von ihrem fünfzehnten Lebensjahr an arbeitete Therese als Dienstmädchen für den ostpreußischen Gutsherrn Friedrich Wilhelm Globotta in Lenkelischken. Dessen Sohn August deflorierte und schwängerte sie. Zehn Wochen nach der Geburt der Tochter Ottilie im Jahr 1916 beschloss Friedrich Wilhelm Globotta, seinen Sohn mit der reichlich Mitgift versprechenden Tochter eines Freundes zu verheiraten. Kurz darauf infizierte Therese sich mit Tetanus und wurde ins Krankenhaus der Barmherzigkeit nach Königsberg gebracht. Während ihrer Abwesenheit kümmerte sich ihre ebenfalls unverheiratete Mutter Agathe Schlupfburg um Ottilie und stillte sie auch. Milch hatte sie aufgrund der Geburt von elf Kindern seit zwanzig Jahren ununterbrochen. – Als August Globotta mit Therese Schluss machte, war sie erneut schwanger, aber die alte Jewrutzke brachte ihr in einer bläulichen Phiole Fruchtwasser, das vom Küchentisch geflossen war, auf dem die Ehefrau des sozialdemokratischen Arbeiters Wilhelm Otto Amelang niedergekommen war. Durch die Einnahme des Fruchtwassers wurde der Embryo abgetrieben.

Ein paar Tage nach Ottilies Einschulung in Lenkelischken heiratete ihre Mutter den zweiunddreißig Jahre älteren Kürschner Adolf Erbs. Der kannte seine Eltern nicht, denn er war als Findelkind am Portal der Juditter Kirche in Königsberg abgelegt worden. Von seinen kinderlosen, inzwischen verstorbenen Pflegeeltern hatte er eine kleine Kürschnerei in Königsberg geerbt, und nebenher betätigte er sich illegal als Steinschneider.

Adolf Erbs hat ihr erzählt, wie er mit seinem Kürschnerwerkzeug menschliche Blasen, Nieren und Gallen meisterlich öffnen und von allem Übel befreien kann. Nur hat er keine Lizenz für seine heimliche Kunst, sodass er in einer eigens zu diesem Zwecke abgetrennten Kammer hinter seiner Werkstatt bei Nacht praktizieren muss. (Seite 49)

Als Adolf Erbs seine Braut Therese schmatzen sah und hörte, kotzte er über den Hochzeitstisch in Lenkelischken. Ein halbes Jahr später starb er. Therese ließ daraufhin die Eheschließung annullieren und nahm wieder den Familiennamen Schlupfburg an. Drei Monate später brachte sie einen Sohn zur Welt, den sie Fritz nannte.

Zwar stand in der entsprechenden Rubrik [der Geburtsurkunde], dass Fritz Schlupfburg als eheliches Kind zur Welt gekommen sei, doch der Familienstand seiner Mutter wurde mit ledig angegeben. (Seite 55)

Ihre Tochter Ottilie schlief als Sechzehn-, Siebzehnjährige in Königsberg mit dem jüdischen Schneider Avraham Rautenkrantz, der gelegentlich aus Riga kam. Im Juni 1933 sah Ottilie ihn zum letzten Mal. Und so erfuhr er auch nichts von seinem Sohn, den Ottilie im Frühling 1934 gebar. Als Vater gab sie den fahrenden Scherenschleifer Karl Rappler an, mit dem sie im Sommer 1933 im Bett gewesen war. Das Obervormundschaftsgericht in Königsberg verpflichtete ihn, zum Unterhalt des Jungen und der unehelichen Mutter beizutragen. Karl Rappler ahnte nicht, dass er nur dazu ausersehen war, dem Jungen einen jüdischen Namen zu ersparen. Ottilie nannte ihren Sohn Rudolph.

Während Karl Rappler bei Kriegsende verwirrt durch Königsberg irrte, schloss Ottilie sich mit ihrem elfjährigen Sohn Rudolph, ihrer Mutter Therese und ihrem Bruder Fritz einem Flüchtlingstreck nach Westen an. Rappler verschlug es schließlich in die Kolchose „Roter Oktober“ bei Witebsk im Norden Weißrusslands. Dort hielt man ihn für den gehörlosen, aus der ukrainischen Stadt Dragobytsch stammenden Gennadij Solowjow.

Ottilie überlegte es sich zwischen Wuschken und Ruschken plötzlich anders und kehrte mit Rudolph um. Später verschlug es sie in die bayerische Kleinstadt N., und sie wurde 1954 die Ehefrau des Irrenhauspförtners Bodo Wilczinski.

Ottilie nahm ihn an jenem Oktobertag des Jahres 1954 mit in ihre Wohnung und drängte ihn, ihren seit Kriegsende unberührt gebliebenen Leib auf männliche Weise wieder zu öffnen. Bodo Wilczinski vergrub sich daraufhin zwischen den Frauenbrüsten und ließ nicht nach, Ottilie beizukommen. Kurz vor der vierunddreißigsten nächtlichen Ejakulation schrillte jedoch der Wecker und trieb den entbrannten, euphorischen Bodo Wilczinski in dessen Pförtnerhäuschen zurück. (Seite 22f)

Bodo Wilczinskis Schwester Carola hatte mit ihrem Ehemann Romancarlo Hebenstreit 1923 einen Kurzwarenladen in der thüringischen Kleinstadt G. eröffnet. (Carolas Eltern hießen Viktoria und Walther Wilczinski, die Schwiegereltern Gunhilde und Ferrucio Hebenstreit.)

Zwei Jahre später gebar sie Zwillinge. Eine halbe Stunde zuvor hatten weder sie noch ihr Ehemann etwas von der Schwangerschaft geahnt.

Die Schachtel ist den Händen der Carola Hebenstreit geb. Wilczinski entglitten, als ihrem urplötzlich sich auftuenden Schoß ein untergewichtiges Zwillingspaar entfuhr. Man schreibt den 27. Januar 1925. Auf dem gebohnerten Boden des kleinen Geschäftes in der Hohen Straße in G., das dem Knopfhändlerehepaar Carola und Romancarlo Hebenstreit seit zwei Jahren gehört und das sie vor zehn Minuten dem neuen Tag aufgeschlossen haben, liegt eine vollständig ausgestoßene Fruchtblase, in der zwei winzige Kinder schimmern. Die blutende Mutter greift eine Stricknadel aus einer erreichbaren Schublade und öffnet die Blase, hebt ihre Kinder heraus, bindet die Nabelschnüre mit den Senkeln ihrer Stiefeletten ab, schneidet sie mit einem Nahttrennmesser vom gemeinsamen Mutterkuchen und fällt in Ohnmacht, als der überraschte Ehemann Tischtuch um Tischtuch aus dem Regal reißt und die wimmernden Mädchen einzuwickeln beginnt. Zwei Frauen, die den Vorgang mit ansehen mussten, laufen um Hilfe davon und kehren nach einer Zeit, die Romancarlo Hebenstreit eben ausreicht, seinen Laden für unbeteiligte Hausfrauen und Dienstmädchen zu schließen, mit einem in der Nachbarschaft praktizierenden Tierarzt zurück. (Seite 77)

Die beiden winzigen Mädchen wurden ins Krankenhaus gebracht. Romancarlo Hebenstreit ging nach Hause, um seiner Mutter zu schreiben, und Carola Hebenstreit öffnete den Laden wieder für die Kundschaft. Als sie am Abend ins Krankenhaus kam, um ihre Kinder erstmals zu besuchen, rief der Pförtner ihr entgegen:

Mochen Se schnell, mochen Se hin […], der Pforrer is doh zur Nohddaufe, dos wird wohl nüscht mehr wehrn mit den Kindorn, sohn Jommer ower auch! (Seite 79f)

In der Säuglingsstation war außer dem Geistlichen auch der Amtsschreiber Willi Thalerthal zugegen, der darauf wartete, die entsprechenden Urkunden ausstellen zu können.

Zum Glück schießt die Milch ein, süße fettige Milch quillt aus Carolas Bluse, tropft auf den Boden, bis sie schließlich – drei Schwestern haben der erschrockenen Mutter sofort die eng gewordene Bluse vom Körper gerissen – in zwei peitschenden Strahlen aus den Brüsten tritt und die verblüfften Anwesenden völlig durchnässt. Der Arzt, die drei Schwestern und der Herr Pfarrer versuchen zu fliehen, was nicht leicht ist, die Milch ist so süß, dass sie klebt. Schließlich rufen sie auf dem Flur um Hilfe, um Eimer, um Gottes willen, und machen sich selbst auf die Suche nach Lappen und Schrubbern. Ein einziger Mann hat das Zimmer indes nicht verlassen: Der knöcherne Amtsmensch, der in verwirrter Erstarrung Papier und Federhalter aus den Händen fallen lässt. Er ist fasziniert und erregt von dem Schauspiel, er zittert, noch nie hat er weibliche Brüste in solcher Aktion gesehen. Er vergeht und vergeht sich, fegt sich die Hosen herunter in einer zu seiner knöchernen Statur seltsam kontrastierenden, eleganten Bewegung und entlädt sich mit solcher Kraft, mit dem Rücken zur Wand, dass der Strahl des Samens und der der Hebenstreitschen Süßmilch für einen Moment einander in Schach halten und als verquirltes Gemisch zu Boden kommen. Der Knöcherne springt der noch immer erschrockenen Carola an den Hals, greift ihre Brüste, steckt sich beide Warzen gleichzeitig fest in den Mund und saugt und schluckt, was das Hemd hält. Als er nach nur wenigen Augenblicken seine Beute wieder freigibt, unfreiwillig und rülpsend, haben sich seine vordem eingefallenen Wangen ein wenig gestrafft, er riecht nicht mehr gänzlich nach Staub, und der Milchstrom scheint fürs erste beruhigt. (Seite 80f)

Vorsichtig träufelte Carola ihren Töchtern Milch in die Münder. Daraufhin schnalzten die Totgeglaubten mit den Lippen, und als Carola sich die viel zu früh geborenen Mädchen vom Amtsschreiber und vom peinlich berührten Geistlichen an die üppigen Brüste halten ließ, saugten sie sich schmatzend daran fest. Auf Wunsch der Mutter stellte Willi Thalerthal die Geburtsurkunden auf die Namen Benedicta Carlotta und Astrid Radegund Hebenstreit aus.

Kurz darauf gab Willi Thalerthal sein Amt auf und mietete eine Dachkammer. Dorthin eilte Carola Hebenstreit in den folgenden Monaten und Jahren so oft wie möglich, um ihn heimlich zu stillen und ihm für die Zeit, in der sie ihn nicht besuchen kann, etwas von ihrer Milch in Flaschen dazulassen. Der früher dürre Amtsschreiber entwickelte eine athletische Figur, aber sein Magen vertrug bald nichts anderes mehr als Muttermilch.

Im Kurzwarenladen des Ehepaars Hebenstreit krachte am 1. Mai 1935 erneut eine Knopfschachtel zu Boden. Ursache war wieder eine Sturzgeburt, diesmal einer fünfzehn Zentimeter langen Tochter mit voll ausgereifter athletischer Figur. Romancarlo ahnte, dass er nicht der Vater war, aber Carola rätselte, wie Thalerthal sie geschwängert haben konnte, „hat sie doch des einstigen Amtsmenschen männlichen Auswuchs niemals im Leibe gehabt“ (Seite 101). Schließlich fiel ihr ein, dass sie sich vor einiger Zeit einmal im selben Wasser gewaschen hatte, in dem Thalerthal sich nach einer Ejakulation gereinigt hatte. Dabei musste es passiert sein. Deshalb nannte sie die Tochter Marguerite Eaulalia. Es war ein Wasserkind.

Willi Thalerthal erfuhr nichts von der Existenz seiner Tochter Marguerite Eaulalia Hebenstreit, denn die Nationalsozialisten hatten ihn inzwischen in ein Konzentrationslager gesperrt, und obwohl er ohne Muttermilch zu verhungert drohte, nahm er keinen Kontakt zu Carola auf, um sie nicht zu gefährden.

Der Mitgefangene Wilhelm Otto Amelang klagte ihm 1938 sein Leid. Der Sozialdemokrat hatte in der Gasanstalt am Bahnhof Holländerbaum in Königsberg gearbeitet. 1936 war das sechzehnjährige Dienstmädchen Lydia Czechowska von der Familie Biermeier in Amalienau entlassen worden, weil die uneheliche Tochter der polnischen Heimarbeiterin Klaudyna Czechowska keine Angaben über ihren Vater machen konnte. Wilhelm Otto Amelang wollte das verzweifelte Mädchen nach Hause bringen. Fünf Kilometer vor Neutief, dem Wohnort von Lydias Mutter am Frischen Haff, begegnete ihnen der Polizist Hans Lüdeking aus Neutief und erbot sich, Amelang abzulösen. Während der Arbeiter noch auf den Zug nach Königsberg wartete, kam Lydia gelaufen. Lüdeking hatte sie vergewaltigt. Amelang ging mit ihr zur Polizeistation in Fischhausen, aber die Beamten lachten ihn aus. Dann tauchte auch Lüdeking auf und brüstete sich mit dem „Judenfick“. Als Amelang einsah, dass er hier nichts ausrichten konnte, begleitete er Lydia zu ihrer Mutter. Klaudyna Czechowska wollte jedoch ihre durch die Vergewaltigung entehrte Tochter nicht mehr bei sich aufnehmen. Amelang nahm Lydia deshalb mit zu sich, und seine Ehefrau schickte das Mädchen zwei Wochen später neu eingekleidet zu ihrer Schwester auf ein Bauerngut bei Landsberg an der Warthe. Kaum war Lydia abgereist, fragte Hans Lüdeking nach ihr. Er wollte sie „wegen Verwahrlosung und unsittlichen Lebenswandels, auch im Interesse einer gewissen völkischen Geschlechtshygiene, in ein Heim für minderjährige Triebhafte“ (Seite 130) einweisen. Amelangs Tochter Senta Gloria verliebte sich auf den ersten Blick in den Polizisten. Am nächsten Tag wurde Wilhelm Otto Amelang verhaftet und wegen Teilnahme an einer kommunistischen Versammlung in ein Konzentrationslager im norddeutschen Moor verschleppt. Deshalb konnte er nicht verhindern, dass Senta Gloria am 23. Juli 1938 die Ehefrau von Hans Lüdeking wurde. Immerhin riss während der Hochzeitsfeier eine Windhose das Fenster auf und verwüstete die sorgfältig gedeckte Tafel.

Senta Gloria Lüdeking sah ihren Vater nie mehr wieder. Er starb im Lager an einer Lungenembolie. Als sie im vierten Ehejahr immer noch nicht schwanger war, drängte sie ihren Mann, ein Kind zu adoptieren. Am 15. Juni 1942 ließ Hans Lüdeking sie wissen, er habe ein „eindeutschungsfähiges“ Waisenmädchen gefunden. Senta Gloria könne es in Landsberg an der Warthe abholen. Sie besuchte dort zunächst ihre Tante und ihren Onkel. Die beiden erzählten ihr, dass ihre Pflegetochter Lydia vor fünf Jahren ein Kind bekommen habe und einige Zeit später davongelaufen sei. Lydias Tochter Malgorzata hätten sie kurz darauf einer Amtsperson übergeben müssen. Am nächsten Tag ging Senta Gloria Lüdeking zu der von ihrem Mann angegebenen Adresse von Edwin Karl Tschechau und dessen Ehefrau Hermine Viktoria, einer geborenen Bodensee. Ihr Pflegekind, das zuvor zwei Jahre lang in einem Heim gelebt hatte, hieß offiziell Magdalene Tschechau und war einer gefälschten Geburtsurkunde zufolge am 2. Juli 1936 als halbjüdische Polin in Danzig zur Welt gekommen. – Dass es sich um eine Tochter ihres Mannes Hans handelte, konnte Senta Gloria Lüdeking nicht ahnen.

Fritz Schlupfburg, der beim Wettmasturbieren der Jungen nicht mitgemacht hatte, weil sein Penis verkrümmt war, heiratete Astrid Radegund Hebenstreit. Therese übergibt sich, als sie während der Gunnar-Lennefsen-Expedition ein in Kowno bzw. Kaunas aufgenommens Zeitungsfoto ihres Sohnes erblickt. Er trägt eine saubere deutschen Uniform und führt eine nackte junge Jüdin zu der Stelle, an der sie erschossen werden soll [Holocaust].

Fritz, der in Kowno ein Bein verloren hatte, war am 28. Januar 1945 auf dem Weg zur Chirurgischen Klinik in Königsberg. Er wollte seine schwangere Ehefrau Astrid abholen, die dort als Pflegehelferin tätig war, und sie vor der anrückenden Roten Armee in Sicherheit bringen. Vor dem Betreten des Gebäudes wurde Fritz Schlupfburg von herabbröckelndem Gemäuer verschüttet. Gleich darauf wurden Senta Gloria Lüdeking und ihre kurz zuvor noch von Hans Lüdeking geschwängerte Adoptivtochter Magdalene („Lenchen“) aus einem Fenster geworfen. Senta Gloria brach sich „den Blick an der Kante einer schnitzereiverzierten Anrichte aus dunkelgebeiztem Eichenholz“ (Seite 183), aber das neunjährige Mädchen überlebte ebenso wie Fritz. Er arbeitete sich aus dem Schutthaufen hervor und machte sich mit dem Kind auf den Weg nach Pillau am Frischen Haff, um dort nach einer Schiffspassage zu suchen. Allerdings hatte er durch den Unfall Sprache und Gedächtnis verloren. Weil er in seiner Tasche die Heiratsurkunde des Gefreiten Fritz Schlupfburg mit der Pflegehelferin Astrid Radegund Hebenstreit fand, ging er davon aus, dass das sein Name und der des Mädchens sei. Fritz hielt also die schwangere Neunjährige für seine Ehefrau Astrid und achtete nicht auf den Altersunterschied. Der dänische Schiffer Trygve Spliessgaard nahm die beiden auf seinem Kutter mit nach Schweden. Sicherheitshalber gab er sie als dänisches Ehepaar Amm und Ann Versup aus. So wurde aus Malgorzata Czechowska, Magdalene Tschechau, Lenchen Lüdeking die dänische Pöklerin Ann Versup, die Fritz Schlupfburg mit seiner Ehefrau Astrid Radegund verwechselte.

Die echte Astrid Radegund Schlupfburg erreichte am 12. Februar 1945 Dresden. Dort setzten die Wehen ein. In der Nacht vom 13./14. Februar wurden sie und der Embryo bei einem Luftangriff auf Dresden regelrecht verkocht.

Ann Versup wurde am 12. September 1945 in Helsingborg per Kaiserschnitt von ihrer Tochter und Schwester Mirabelle Gunillasara entbunden. Der 1930 nach Schweden ausgewanderte Hauslehrer Julius Samuel aus Eschwege in Hessen nahm sich der Familie Versup an und schickte sie 1947 zu dem mit ihm befreundeten Arzt Dr. Schlesinger in Eschwege. Weil „der einbeinige Weißnicht Schlupfburg alias Amm Versup“ (Seite 207) auch seinen Geschlechtstrieb eingebüßt hatte, übernahm Ann eines Tages die Initiative und schnallte sich mit einem Lederriemen auf den verblüfften Einbeinigen. Sie ließ sich im Nothilfelager der Vereinten Nationen (UNRRA) für Displaced People in Eschwege zur Damenmaßschneiderin ausbilden. 1950 erhielt die Familie Versup ein Visum für die Immigration in die USA, und Dr. Schlesinger bezahlte die Reise. Die drei Versups fuhren mit dem Zug nach Hamburg und schifften sich dort ein. Mirabelle nannte sich in den USA Mairebärli.

1952 lernte Rudolph Schlupfburg aus W. die siebzehnjährige Marguerite Hebenstreit aus dem benachbarten G. kennen. Im Jahr darauf zog Marguerite nach einer heimlichen Hochzeit zu ihrem Mann.

Bald darauf bekamen sie Besuch von einem Mann, der nach Carola Hebenstreit fragte und in Ohnmacht fiel, als er erfuhr, dass Marguerites Mutter inzwischen verstorben war. Es handelte sich um Willi Thalerthal. Unter seinem gierigen Blick schwollen Marguerite die Brüste. Weder er noch sie ahnten, dass sie Vater und Tochter waren. Thalerthal nahm sich ein Hotelzimmer in W. Von da an häuften sich die Meldungen über den Diebstahl von Muttermilch aus Entbindungskliniken.

Nachts schlich sich ein Unbekannter in die Räume, in denen gespendete Milch für schwächliche oder kranke Säuglinge aufbewahrt wurde, und machte sich über die Vorräte her. Zunächst wollte kaum jemand das glauben, man vermutete Agenten des CIA hinter den Aktionen, die es auf eine Schwächung des sozialistischen Nachwuchses abgesehen hatten. (Seite 138)

Am 17. Juni 1953 wurde Willi Thalerthal im Kühlraum der Entbindungsklinik am Geizenberg tot aufgefunden. Um die Leiche herum standen geleerte Milchflaschen. Er hatte sich selbst eingeschlossen und war erfroren.

Neun Monate später, am 27. März 1954, bekamen Marguerite und Rudolph Schlupfburg eine Tochter, der sie den Namen Josepha gaben. Die Mutter starb kurz nach der Niederkunft.

Rudolph heiratete in zweiter Ehe Birute Szameitat. Die Mutter zweier Söhne – Fjodor und Wasja, die von Birutes Onkel und früherem Liebhaber, dem Wilnaer Russen Wolodja Viktorowitsch Stjurkin, und dessen kinderloser Ehefrau Wassilissa Baldurowna aufgezogen wurden – war bei Kriegsende ohne Papiere in Leipzig aufgetaucht. Dort führte sie der älteren, zunehmend dementen Industriellen Ingeborg Viola Klommatzsch de Proskau zunächst den Haushalt und dann auch die Geschäftsbücher. Als die Unternehmerin Anfang 1947 starb, beherrschte Birute die deutsche Sprache, schrieb Maschine, konnte Steno und verstand etwas von Buchhaltung. Einige Zeit später erkundigte sich ein Offizier der Roten Armee nach einer Möglichkeit, „wie man in Leipzig denn ohne Gewalt ein wenig geschlechtlichen Frieden finden könne“ (Seite 392). Ein Soldat verwies ihn an Birute, die inzwischen bei der Stadtverwaltung beschäftigt war und sich als Deutsche ausgab.

Zu Fuß war er zu ihr hingelaufen, hatte ihre Hand gepackt und wortlos in seine Hose gedrängt, so schilderte er später vor Gericht, und statt eines Handels oder einer anständigen Ablehnung hatte sie sofort seine Entleerung bewerkstelligt mit einem einzigen Handgriff. Das habe ihn sehr verwundert, nu wuot, so etwas habe er von einer deutschen Frau nicht erwartet, sodass er ihr habe zeigen wollen, dass er auch anders könne und sie statt eines Lohnes oder der Ehre zumindest körperliche Hitze erführe in der Eiseskälte des Winters. Und wirklich habe er ihr derart aufspielen können, dass sie die gleichen wilden Sprüche und Flüche aus ihrem Mundloch tat, mit denen seine liebe Frau und Genossin im winterlichen Jakutsk auf ihn wartete, und dies habe ihn schließlich stutzig werden lassen. (Seite 392)

Der Offizier ließ Birute einsperren, und sie wurde als Verräterin zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt, dann aber doch nicht nach Sibirien deportiert, sondern in ein Gefängnis in Bautzen überstellt, wo sie Mitte der Fünfzigerjahre durch eine Amnestie freikam.

Als bei der sechzigjährigen Witwe Ottilie Wilczinski im bayerischen N. die Bildschirmröhre des Fernsehgeräts implodiert, lässt sie den fünf Jahre jüngeren Fernsehmechanikermeister Franz Reveslueh kommen. Bevor er sich an die Arbeit macht, lässt er sich erst einmal von der Auftraggeberin dazu verführen, mit ihr zu kopulieren. Sie wundert sich darüber, dass er statt in ihrer Vagina auf ihren Nabel ejakuliert. Reveslueh erklärt ihr, er habe mit seiner Ehefrau neun ungewollte Kinder und könne bei dem Gedanken daran nicht mehr anders zum Orgasmus kommen.

Trotz Coitus interruptus wird Ottilie schwanger. Während der Untersuchung in der gynäkologischen Abteilung des St.-Georgen-Krankenhauses in N. überlegt sie, wie das geschehen konnte.

Der rasche Herzschlag des Kindes riss Ottilie aus ihrer Versunkenheit, sie blickte zum Bildschirm und wusste plötzlich, dass dieses Geschöpf die späte Erfüllung des Bodo Wilczinskischen Kinderwunsches bedeutete. Eine seiner an die Tausende zählenden Ejakulationen musste doch erfolgreich gewesen sein, das befruchtete Ei aber über die Jahre in ihrem Eileiter gesteckt haben, vergessen wie eine Reisetasche im Schließfach. Als die trockenen Stöße Franz Revesluehs die dorrenden Kanäle zwischen Eierstock und Gebärmutter in Bewegung brachten und das in die Nabelmulde fließende Sperma seine Energie durch die Bauchdecke Ottilies in die Uterusregion sandte, erinnerte sich das begonnene Kind seiner selbst und machte sich auf in die entscheidenden neun Monate, um in jene Welt einzutreten, vor der Bodo Wilczinski eine verhütende Angst gehabt haben musste. (Seite 62)

Nach drei Monaten Schwangerschaft bringt die Sechzigjährige am 26. Mai 1976 ihr zweites Kind zur Welt, dem sie den Namen Abraham Bodofranz gibt. Als Revesluehs Ehefrau davon erfährt, springt sie aus „Wut gegen ihren fortgevögelten Gatten“ noch am selben Tag vom Dach ihres Hauses. Ein Flieder-Strauch bremst den Sturz ab, aber der rasch herbeigeholte Arzt rät ihr, sich bis zum Eintreffen des Krankenwagens nicht zu bewegen.

Kaum ist er fort, öffnet die Frau Reveslueh ihr Geschlecht und zieht den Gatten hinein, dem ganz schwarz wird vor Augen. Es drückt ihn tatsächlich und schließlich zu lange, und er bekommt eine große Lust auf seine Angetraute, fährt ihr durch den Leib in hellem Entzücken. Plötzlich kommt die Frau Reveslueh wider jahrzehntelange Gewohnheit ihrem Mann in halsbrecherischem Orgasmus entgegen und zwingt ihn durch Festhalten des Gliedes mit der Scheidenmuskulatur, tief in ihrem Körper zu ejakulieren. Reveslueh schreit vor Erlösung und spürt, wie der Samen noch schwallweise aus seiner Öffnung nachstößt, als die Frau Reveslueh sich schon davongemacht hat in einen lächelnden Freitod. (Seite 142)

Einige Wochen nach dem Suizid seiner Frau implodiert das Fernsehgerät von Franz Reveslueh.

Im Juli 1976 fahren Josepha Schlupfburg und ihre Urgroßmutter Therese Schlupfburg zur Erholung nach Usedom. Josephas Kollegin Carmen Salzweder beim „VEB Kalender und Büroartikel Max Papp“ hat ihnen dort ein Quartier besorgt, ein Gartenhäuschen mit Plumpsklo und Beerenobst. Sie brauchen nichts zu bezahlen, müssen nur die Kaninchen füttern.

Während Josepha auf ihrer Luftmatratze in den Wellen schaukelt, wird sie von einem unachtsamen Schnorchler gerammt.

Tschuldjen se, tschuldjgen se, dit war nich so jemeent. Sintse ooch vonne Laijenspieljruppe Rotklöppel ausn Erzjebürje? Haikse nich jestan int Westibül jeseen ohm innet Restorang von die Fischköppe? Josepha schließt ihm den Mund mit den Lippen, das Gerade des Kerls ist ihr unerträglich angesichts des harten Gegenstandes, den sie in seiner knappen Badehose unter ihrem Hintern fühlt, und sie bittet ihn höflich, ihr Spaß zu machen, statt sie mit Vorreden anzuöden. (Seite 180)

Als die Wirtsleute die beiden „von den verschiedenen Meeren aufgeschäumten und brauner als nötigen“ (Seite 197) Urlauberinnen nach zwei Wochen zum Bahnhof in Anklam bringen wollen, wird ihr klitzekleines Auto kurz vor der Brücke über die Peene von einem Mercedes gerammt.

Nicht Wartburg noch Skoda, nicht Sapo noch Dacia riss das Pappgefährt seitlich auf im Überholen, ein ziemlich gewaltiges Auto westlicher Bauart schnitt die Fahrertür durch, als wär sie aus Schmalz. Die Wucht des Erschreckens riss Josepha vom Sitz und beförderte sie auf unbekannt gebliebene Weise in die Arme einer des Schwäbischen mächtigen Dichterin, während Therese und die Wirtsleute im Auto sitzengeblieben waren und sich mühsam, auf ihre jeweiligen Weisen, vom Zusammenprall zu erholen suchten. (Seite 197)

Ein weißer Wartburg hält an der Unfallstelle.

Auf wunderliche Weise konnten die beiden Männer, die dem Wartburg entstiegen, alle Umstehenden beinahe wortlos dazu bringen, zu ihren Autos zurückzukehren und den Unfallort zu verlassen. Josepha nahm sie erst wahr, als einer von ihnen sich über sie beugte und die Bürgerin Schlupfburg aufforderte, den Kontakt zur schwäbischen Dichterin sozusagen zu vergessen. Hier handele es sich um ein Ereignis, das auf höhere Weisung keinerlei Aufsehen erregen durfte […] Es hätte vermutet werden können, dass der Wagen der gläubigen Wirtsleute einem Totalschaden anheimgefallen sei. Als aber von der Inselseite her ein von den Beteiligten keineswegs georderter Werkstattwagen sich näherte, wurde die Reparatur an Ort und Stelle vorgenommen, Tür und Kotflügel in passender Farbe ersetzt und alles instandgesetzt, was zu wünschen übriggelassen hatte seit längerer Zeit. Nicht einmal eine Rechnung wurde ausgestellt. (Seite 198f)

Nach ihrer Rückkehr erhält Therese einen Brief ihrer Tochter Ottilie:

Lb. Mami, das war ein schöner Schreck, wie ich hörte dass am Leben bist nach der langen Flucht wir Ostpreußer, was! Sind gleich nach Sachsen gekommen damals die Traute Jewrutzke und ich zum Pferdefleischer Albin Brause wo wirklich gut war für uns […] Die Traute hat Brauses Sohn geheiratet und blieb in Sachsen ich bin rübergemacht wie grüne Grenze noch war […]
Habe, lb. Mami, kein schlechtes Leben gehabt kannst Dir denken. Hier immer alles in Hülle und Fülle, Butter und Brot und Wurst. (Halbpfund Kaffe gleich mitgeschickt, dass Dich freust.) Inne Fünfziger war ich verheiratet mit Bodo Wilczinski, Anstaltspförtner. Lb. Mann gewesen, starb schon 64 leider. Dann gute Pension gehabt […] Neulich nu schwanger geworden, lb. Mama, konnt es selber nicht glauben […] Habe nun wieder lb. Mann bekommen und dein Enkelchen, den lb. Avraham Bodofranz, s. Foto […] ist Rudolphche denn auch da, wenn ich komme? […]
Nie wieder von Bruder Fritz gehört lb. Mami […]
Will nun Schluss machen dass antworten kannst. Schöne Grüße auch von meinem lb. Mann (noch nicht verheiratet soll aber bald folgen). (Seite 215f)

Wie angekündigt, heiraten Ottilie Wilczinski und Franz Reveslueh bald darauf. Für das Hochzeitsessen hat der Bräutigam einen Tisch im „Dornstübl“ in N. reserviert. Bei der „fesch verdirndlten“ Annamirl Dornbichler, der Ehefrau des Wirts Hubertus Dornbichler, handelt es sich um die Heimliche Hure Rosanne Johanne, aber an diesem Tag hat Franz Reveslueh nicht die Traurigkeit, die erforderlich ist, um ihre wahre Identität zu durchschauen.

Franz und Ottilie Reveslueh reisen mit ihrem Sohn Avraham Bodofranz nach Thüringen. Therese und Josepha Schlupfburg holen die „West-Familie“ vom Bahnhof ab.

Während Josepha bei der Arbeit ist, empfängt Therese im September einen Mann namens Richard Rund.

Das Kätzchen schubbert den Buckel am Tischbein vor und zurück und versetzt das nicht sonderlich standfeste Möbel in Schwingungen, die Richard Rund wohl gleich aufgreifen möchte: vor und zurück drängt er den Unterleib und pellt ihn umständlich aus der Wäsche. Therese aber will zuvor Zeitung lesen, Geschirr in die Spüle räumen, das Tier füttern, die Fenster schließen, ihr Geschlecht waschen, den Vögeln zuhören, die Fingerspitzen in Richards Falten ausführen, nach Post schauen, Buttermilch trinken, den Küchenboden fegen, an Ottilie denken, die Fuchsien am Hügelgrab wässern, Ambivalentia, der Göttin der Doppelwertigkeit, opfern, weich werden, sich schäumen. Eineinhalb Stunden braucht sie so bis zu Richard, der dann nicht mehr warten mag und zur Sache kommt zwischen Flur und Thereses Zimmer, im Türrahmen sieht man ihn stehen mit winkend erhobenem Glied, doch Therese bittet ihn, auf ihren Kreislauf Rücksicht zu nehmen und die Schlafstatt zu bevorzugen. (Seite 228)

Als Josepha abends nach Hause kommt, findet sie ihre Urgroßmutter und deren Liebhaber schlafend vor.

In ihrer Vorstellung gibt es inzwischen eine russische Tortenbäckerin namens Ljusja Andrejewna Wandrowskaja.

ljusja andrejewna wandrowskaja
lagebericht aus der besucherritze des jahrhunderts in der übersetzung des fliegenden hundes (Seite 231)

[…] meinem vater der nicht mehr so gut zugange war mit dem schwanz geriet es zur ehre der sinnenfreudigen frau die meine mutter gab außerehelichen beischlaf zu gestatten zwischen den kaschamahlzeiten. oft habe ich’s kommen sehen aus meiner ritze heraus und war froh das land tat als brauche es kinder aus fleisch und aus blut dabei brauchte es eher fleisch und blut ohne kindliche haut drum herum wie hätte ich das ahnen sollen […] ich fürchtete das männliche zeugungsorgan das ich immer aus ungünstiger perspektive zu sehen bekam in seiner wucht […] vorm reichsgericht ich war elf und sah aus wie neunzehn das kommt schon mal vor allerdings war ich nur daumengroß vorm reichsgericht jedenfalls konnte ich mich retten im haar eines durchschnittlichen haushaltsvorstandes beim sonntagsspaziergang er bemerkte mich nicht erst als ich im schlaf in sein ohr drang und mich durchs trommelfell in sein hirn drehte ich schmerzte ihn wohl fiel ihm was auf […] als er einmal seiner ehefrau heftig aufstieß beim freitagsverkehr rutschte ich durch den dafür eigentlich zu klein geratenen penis hinüber in seine weibliche hälfte. sie schrieen beide er vor schmerz sie in bis dahin unbekannten sphären sich tummelnd […] ich klammerte mich als eine hebamme nachsah derb an deren finger und ließ mich ans licht ziehen wo ich sogleich fallengelassen werden sollte vor schreck. ich war eine frau geworden halbmeterlang mit pflaumengroßen milchdrüsen einem schwärzlich umwollten schamberg und bleibenden zähnen, vor allen anderen dingen aber sprach ich mein heftigstes russisch zur begrüßung […] mein platz in der ritze des bettes wurde mir niemals streitig gemacht ich lebte zwischen den matratzen und beobachtete nicht nur meine schlafenden dritteltern sondern vor allem wie die verschiedenen völker über mir miteinander ins bett gingen und sich eine zukunft herbeizuficken gedachten. meine mutter aber besann sich ganz auf ihren beruf: sie war feinbäckerin und verzierte torten, ehe sie in kartons verpackt und unter den ladentischen der zirkulation eingespeist wurden. nach neun jahren die denen in moskau ein wenig ähnelten was die kinderheiten betraf hatte ich etwas abstand genommen von meiner frühen furcht vor dem männlichen rohr mein drittvater hatte das ficken verlernt in der angst vor dem tod seiner frau die methoden des abtreibens rauhten sich auf man spritzte sich rinderhormone stach mit bloßen nadeln nach unseresgleichen stocherte uns aus dem buttrigen uterus heraus wo man kurze zeit später uns wieder anzusiedeln begann in hohem bogen dass es ein graus war […] (Seite 235)

Nach ihrem letzten Arbeitstag vor der Entbindung hilft Josepha Ljusja, deren Sohn zu suchen, der unter dem Namen Adam Rippe in Lutzschen bei Leipzig zu finden sein soll. Als sie bei der ermittelten Adresse klingelt, öffnet eine blinde Frau, die sich als Mutter des Fleischermeisters Adam Rippe ausgibt. Unter dem Vorwand, er habe in einer Lotterie gewonnen, verschafft Josepha sich Zutritt. Bei Adam Rippe handelt es sich um ein Findelkind: Er lag nackt in einer Ackerfurche, als seine Pflegemutter ihn entdeckte. Sie nahm ihn mit und legte ihn zu ihren Schweinen in den Koben: Da hatte er es warm. Er war bereits fünfzig, als sie ihn adoptierte, um ihm das kleine Häuschen ihres gefallenen Gatten gegen ihre Verwandten zu sichern. Adam Rippe hat es zum Abteilungsleiter in der Döbelnder Wurstfabrik gebracht, aber wegen seines Asthmas kann er inzwischen nur noch im Büro arbeiten. Als Josepha ihm ein Foto seiner leiblichen Mutter Ljusja zeigt, will Adam Rippe nichts weiter hören und verlässt den Raum.

Das hat ihm wohl noch gefehlt, dass eine die Mutter geben will nach so langer Zeit und ihn womöglich erziehen von der Liebstemutter fort in ein anderes Leben? Das er gar nicht mehr wünscht? (Seite 410)

Enttäuscht nimmt Josepha das Bild mit ins Gästezimmer.

Eigentlich, wähnt Josepha im Einschlafen noch, hat sie ihr Soll ja erfüllt und Ljusja nach Lutzschen gebracht zum halbgöttlichen Rippenkind, aber das Resultat erfüllt sie nicht gerade mit Frohsinn, gar Stolz. Was hatte sie sich auch für ein Bild gezeichnet des Mannes Adam? Ein kühner Schlachter hatte er sein sollen mit festem Stich und scharfen Würzmischungen für die verschiedenen Wurstmassen […] Stattdessen ist sie einem gewöhnlichen, gebeutelten Kniffling begegnet, der mit dem Herzen in der Kniekehle schwanger geht und dem die Verwaltung von Wurstmassen tatsächlich als eine Aufgabe erscheinen kann […] So saftlos kann es zugehen diesseits der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze, dass selbst das Göttliche lieber banal wird als ein Türlein zu öffnen, Muskeln zu zeigen. (Seite 411)

Vor Sonnenaufgang packt Josepha ihre Sachen, küsst Ljusja zum Abschied und reist nach Hause. Als Adam Rippe ein Kännchen Tee ins Gästezimmer bringt, erblickt er den zerbrochenen Bilderrahmen, und beim Aufräumen schneidet er sich an den Glasscherben.

Josephas Niederkunft kündigt sich am 19. November an. Die Wehen setzen ein. Sie vertraut die beiden Ratten, die sie stets mit sich herumträgt, ihrer Urgroßmutter an und begibt sich in die Klinik eines nahe gelegenen Luftkurorts. Der Krankenschwester erklärt sie, das Kind solle Rema Andante oder Shugderdemydin heißen, je nachdem, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.

Sie setzt einen schwarzweißen Sohn mit strohblondem Kraushaar in die Welt.

Am 30. November fordert Therese ihre Urenkelin auf, eine Näharbeit aus dem unteren Fach des Kleiderschranks zu holen. Es handelt sich um einen riesigen gurkenförmigen Sack: ein Luftschiff. Die beiden Frauen ziehen damit am Abend hinaus zu Schröders Teichen. Therese setzt sich in eine Obstwiese, bittet Josepha, sich, dem Kind und dem Gepäck die Stoffhülle überzuziehen und bläst dann mit dem mitgebrachten Rohr eines Staubsaugers warme Luft in den Sack, bis Josepha und Shugderdemydin aufsteigen. Dann stirbt Therese.

Im bayerischen N. wird das Ehepaar Reveslueh über Thereses Tod und das Verschwinden Josephas mit ihrem kleinen Sohn benachrichtigt.

An Weihnachten berichtet das Fernsehen, die Bevölkerung bei Burj ‚Umar Idris in der algerischen Wüste sei durch die Landung eines silbrig glänzenden Luftschiffes in Panik geraten. Zeugen sahen eine verheiratete Frau mit zwei Kindern hinlaufen und einsteigen. Dann, so heißt es, sei das Luftschiff in südöstlicher Richtung weitergeflogen. – Bei der Frau und ihren Kindern handelt es sich um Annegret Benderdour (geborene Hinterzart), die es zu ihrem Unglück in die algerische Wüste verschlug, und ihre Töchter Magnolia und Kassandra. In der Kindheit war sie mit Josepha Schlupfburg befreundet, und ihr Bruder Manfred Hinterzart – der spätere Liebhaber von Josephas Kollegin Carmen Salzwedel – hatte seine Lehre im „VEB Kalender und Büroartikel Max Papp“ gemacht.

Ende der Achtzigerjahre erwirbt der Antiquitätenhändler Jerzy Oleszewicz im bayerischen N. ein Schränkchen aus dem Nachlass Dr. Schlesingers aus Eschwege und schenkt es seiner Ehefrau Agnieszka zur goldenen Hochzeit. Kurze Zeit später bietet ihm eine im „Dornstübl“ als Auszubildende beschäftigte Thüringerin namens Feodora Schlupfburg einige Sachen zum Kauf an, darunter ein kleines, schwarz eingebundenes Buch mit handschriftlichen Eintragungen. Es handelt sich um die Aufzeichnungen Thereses und Josephas über die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Jerzy Oleszewicz schließt es in Agnieszkas Schränkchen über dem Ehebett ein. Vielleicht wird er es einmal lesen.

Im Jahr 2000 gibt ein älterer Herr im thüringischen G. ein Päckchen auf. Das bekommt der Landschaftsgärtner Rudolph Schlupfburg in der Bezirkshauptstadt. Er findet darin ein kleines, schwarz eingebundenes Buch mit handschriftlichen Eintragungen.

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„Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ – dabei denkt man weniger an eine Familiensaga als an die Erkundung eines unerforschten Kontinents; mit dem Titel assoziiert man Gefahr und Wagemut, Abenteuer und Unternehmungsgeist. Tatsächlich erzählt Kathrin Schmidt in den elf Etappen der „Gunnar-Lennefsen-Expedition“ (11. März bis 13. Oktober 1976) und in den Abschnitten dazwischen die Geschichte der (fiktiven) Familien Schlupfburg, Hebenstreit und Wilczinski über vier Generationen hinweg. Sie beginnt im Ersten Weltkrieg in Ostpreußen bzw. in den Zwanzigerjahren in Thüringen und endet mit dem Jahrhundert. Die groteske, deftig-komische Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die sich im wesentlichen 1976 abspielt, aber in den Achtzigerjahren und 2000 noch ein Nachspiel hat. Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse und des Alltags in der DDR reiht Kathrin Schmidt in überbordender Fabulierlaune eine pittoreske Szene an die andere und lässt eine kaum zu überblickende Fülle von Figuren auftreten. (Das zweiseitige Personenverzeichnis ist wohl eher als Persiflage zu verstehen.) Körpersäfte spielen in „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ eine bedeutende Rolle, beim Kopulieren ebenso wie beim Stillen. Schwachen Männern stehen starke, sexuell leicht erregbare und vielfach unverheiratete Mütter gegenüber, die wissen, was sie wollen und sich auch durchsetzen. Dementsprechend erleben wir das Geschehen aus weiblicher Perspektive. Auch wenn „Die Gunnar-Lennefsen-Expedion“ wie eine Kreuzung aus „Die Blechtrommel“ und „Hundert Jahre Einsamkeit“ wirkt (das ist anerkennend gemeint), hat Kathrin Schmidt in ihrem Debütroman mit einer fulminanten Sprache einen eigenen Ton gefunden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht

Patrícia Melo - Der Nachbar
In dem Kriminalroman "Der Nachbar" veranschaulicht Patrícia Melo, wie ein ganz normaler Mensch durch Hass und egozentrische Rechtsansprüche zum Monster wird. Das ist nicht nur in der brasilianischen Gesellschaft ein brisantes Thema.
Der Nachbar