Bernhard Schlink : Sommerlügen

Sommerlügen
Sommerlügen Originalausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 2010 ISBN: 978-3-257-06753-8, 279 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Geschichten:

Nachsaison – Die Nacht in Baden-Baden – Das Haus im Wald – Der Fremde in der Nacht – Der letzte Sommer – Johann Sebastian Bach auf Rügen – Die Reise nach Süden
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Kritik

In den von Bernhard Schlink unter dem Titel "Sommerlügen" vereinten Geschichten geht es um (Lebens-)Lügen, Eheprobleme, Generationskonflikte, Kommunikationsschwierigkeiten, Versagensängste, Alter, Krankheit und Freitod.
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Nachsaison

Richard, ein aus Berlin stammender Flötist des New York Philharmonic Orchestra, der sich den kleinen Finger der linken Hand brach, erholt sich auf Cape Cod im Südosten von Massachusetts, und zwar in der Nachsaison, weil er es sich sonst nicht leisten könnte. Statt im Hotel wohnt er in einer Privatunterkunft („Bed & Breakfast“). In einem Fischrestaurant spricht er eine Amerikanerin an, die ihm bereits bei Wanderungen begegnete. Susan Hartman trägt Turnschuhe, Jeans und Sweatshirt. Als es um die Wahl des Weins geht, schlägt sie eine billige Flasche Sauvignon Blanc vor. Für den nächsten Tag lädt sie ihn zum Frühstück in ihr kleines Haus ein.

Von seinen Gastgebern Linda und John erfährt Richard, dass es sich bei Susan Hartman um eine steinreiche Erbin handelt.

Er ärgert sich darüber, dass er sich von ihr täuschen ließ, und ihr Reichtum verunsichert ihn. Trotzdem holt er seine Sachen aus dem Privatquartier und zieht zu ihr in das große Haus auf der Halbinsel, das sie nur benutzt, wenn sie Gäste hat. Richard und Susan lieben sich, schmieden Pläne für ein gemeinsames Leben in New York, wo sie ebenfalls ein Haus besitzt. Aber vorerst hat Susan ein paar Wochen in Los Angeles zu tun, und Richard kehrt nach dreizehn Tagen auf Cape Cod in seine Wohnung in New York zurück. Beim Abschied am Flughafen wissen sie, dass ihre Liebe keinen Bestand hat und nur eine Sommerlüge war.

Er merkte, dass er, als er Susan die nächsten Tage und Wochen beschrieben hatte, den zweiten Oboisten ausgelassen hatte. Sie trafen sich einmal in der Woche zum Abendessen beim Italiener an der Ecke, redeten über das Leben als Europäer in Amerika, berufliche Hoffnungen und Enttäuschungen, Orchestertratsch, Frauen – der Oboist stammte aus Wien und fand die amerikanischen Frauen ebenso schwierig, wie Richard sie bislang gefunden hatte. Er hatte auch den alten Mann ausgelassen, der in seinem Haus unter dem Dach wohnte und abends manchmal auf eine Partie Schach zu ihm kam und so einfallsreich und tiefsinnig spielte, dass es Richard nichts ausmachte, immer zu verlieren. Er hatte nicht von Maria erzählt, einem der Kids von der Straße, die irgendwie an eine Flöte gekommen war, sich von ihm beim Ansatz und bei den Griffen und beim Notenlesen helfen ließ und ihn zum Abschied umarmte, ihre Lippen auf seine gedrückt, ihren Körper an seinen gepresst. Er hatte ihr auch nicht vom Spanischunterricht bei dem salvadorianischen Lehrer im Exil erzählt, der eine Straße weiter wohnte, und nicht von dem gammeligen Fitnesscenter, in dem er sich wohl fühlte […] Er hatte ihr nichts verheimlichen wollen. Es hatte sich einfach so ergeben.


Die Nacht in Baden-Baden

Ein Dramatiker nimmt statt seiner Lebensgefährtin Anne seine fröhliche platonische Freundin Therese mit zur Premiere seines neuen Stücks in Baden-Baden und übernachtet mit ihr einem Doppelzimmer in Brenner’s Park Hotel. Obwohl es danach nichts zu beichten gibt, verschweigt er Anne am Telefon, dass Therese bei ihm war. Bei Anne handelt es sich um eine auf feministische Rechtstheorie spezialisierte Juristin, die gerade im Rahmen eines Lehrauftrags einen Kurs in Oxford hält. Seit sieben Jahren sind sie ein Paar, aber aus beruflichen Gründen wohnt Anne nicht bei ihm in Frankfurt am Main.

Anne hatte in Amsterdam eine Wohnung und einen Lehrauftrag, von dem sie nicht leben, den sie aber jederzeit ruhen lassen konnte, um in England oder Amerika oder Kanada oder Australien oder Neuseeland zu unterrichten. Dann besuchte er sie dort und blieb mal länger und mal kürzer.

Anne rief allerdings in Brenner’s Park Hotel an, während er und Therese schliefen, und die Hotelangestellte fragte Anne, ob „die Herrschaften“ geweckt werden sollten. Das sagt sie ihm erst, als er sie in Oxford besucht. Er redet ihr zwar ein, das Personal verwende den Plural auch für einzelne Gäste, aber Anne bleibt skeptisch. Nachdem sie sich geliebt haben, wacht er mitten in der Nacht von ihrem Weinen auf.

„Ich muss die Wahrheit wissen, immer. Ich kann nicht mit Lügen leben. Mein Vater hat meine Mutter belogen, und er hat sie betrogen, und er hat meinem Bruder und mir Versprechungen über Versprechungen gemacht, die er nicht gehalten hat […] Meine ganze Kindheit hatte ich keinen sicheren Boden unter den Füßen. Du musst mir die Wahrheit sagen, damit ich sicheren Boden unter den Füßen habe. Verstehst du das? Versprichst du es mir?“
Einen Augenblick lang dachte er daran, Anne die Wahrheit über die Nacht in Brenner’s Park-Hotel zu sagen. Aber was für ein Theater würde das geben!

Während eines Kurzurlaubs in der Provence liest sie in einem Internet-Café heimlich seine E-Mails und findet heraus, dass er mit Therese in Baden-Baden war. Selbstverständlich nimmt sie an, dass er mit der Frau in seinem Zimmer Sex hatte, und sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, sondern ohrfeigt ihn und spuckt ihm ins Gesicht. Sie versöhnen sich, aber Anne warnt ihn:

Ich weiß nicht, ob ich, was geschehen ist, wegstecken kann. Aber ich weiß, dass ich es nicht wegstecken kann, wenn du mir weiter vormachen willst, da sei nichts gewesen. Es sieht aus wie eine Ente, es quakt wie eine Ente, und du willst mir weismachen, es sei ein Schwan? Ich hab deine Lügen satt, ich hab sie satt, ich hab sie satt.

Sie will ihn erst am Abend wiedersehen. Er fährt ein Stück, wandert und isst dann in einem Dorfgasthof. Die Bedienung heißt Renée. Die Studentin ist nur im Sommer hier, um ihren Großeltern zu helfen. Er ist der einzige Gast, unterhält sich mit ihr, und als sie die Gaststätte nachmittags schließt, folgt er ihr ins Zimmer.

Auch im Bett lachte Renée viel. Lachend nahm sie den blutigen Tampon heraus und legte ihn neben das Bett auf den Boden. Sie machte Liebe mit der Sachlichkeit und Gewandtheit, mit der man Sport treibt. Erst als sie beide erschöpft waren, wurde sie zärtlich und mochte ihn küssen und von ihm geküsst werden. Beim zweiten Mal hielt sie ihn fester als beim ersten, aber als es vorbei war, sah sie bald auf die Uhr und schickte ihn weg. Es war halb fünf. Ihre Großeltern würden bald zurück sein. Und er müsse nicht wiederkommen; in drei Tagen sei ihre Zeit in dem, wie habe er gesagt, gottverlassenen Dorf in den Bergen vorbei.


Das Haus im Wald

Für ihn waren Liebe und Familie die Erfüllung eines Traums, den er zu träumen begann, als die Ehe seiner Eltern, der Vater ein Verwaltungsangestellter und die Mutter eine Busfahrerin, immer tiefer in einen Strudel von Gehässigkeit, Geschrei und Gewalt gezogen wurde.

Er wurde Schriftsteller. Bei einem Dinner auf der Buchmesse in Monterey saß der deutsche Nachwuchsautor, dessen Debütroman ins Amerikanische übersetzt worden war, neben einer ebenso jungen amerikanischen Schriftstellerin, deren Erstling man gerade ins Deutsche übersetzte. Er zog zu ihr nach New York, und ein halbes Jahr später heirateten sie.

Dann kam Kates zweites Buch und wurde ein Bestseller. Jetzt trat nur noch sie auf. Nach ihrem dritten Buch ging sie weltweit auf Reisen. Er begleitete sie oft, mochte an den offiziellen Ereignissen aber nicht mehr teilnehmen. Zwar stellte Kate ihn immer als den bekannten deutschen Schriftsteller vor. Aber niemand kannte seinen Namen oder sein Buch, und er hasste die Höflichkeit, mit der man ihm begegnete, nur weil er Kates Mann war.

Während Kate berühmt wurde, machte er sich für seinen zweiten Roman gerade mal ein paar Notizen. Weiter kam er nicht. Stattdessen kümmerte er sich um die Tochter Rita und den Haushalt, während Kate schrieb. Vor einem halben Jahr zogen sie aufs Land, in ein abgelegenes Haus fünf Stunden von New York City entfernt, an der Grenze zu Vermont.

Hier kann Kate ungestört schreiben. Einmal in der Woche fährt er mit dem Geländewagen in die nächste Kleinstadt, um einzukaufen, die Post abzuholen und in die New York Times zu schauen. Er liebt Kate und Rita und fühlt sich auch von ihnen geliebt.

Sein Glück hält, bis er in der New York Times liest, dass die Verleihung des National Book Award bevorsteht. Er weiß, dass Kate gute Chancen hat, ihn zu kriegen. In diesem Fall muss er damit rechnen, dass die Idylle zu Ende ist. Man wird Kate für Interviews, Talkshows und Empfänge in die Stadt holen. – Auf dem Rückweg reißt er mit seinem Geländewagen eine Kiefer so um, dass sie auf die zum Haus führende Telefonleitung stürzt. Handy-Empfang gibt es in der Gegend ohnehin keinen.

Als er wieder in die Stadt fährt, sieht er Kates Foto in der New York Times. Sie hat den Preis bekommen. Er befürchtet, dass es nicht lange dauern wird, bis die Medien sie hier aufspüren.

In der Nacht stiehlt er sich heimlich aus dem Schlafzimmer, fährt in die Stadt, lädt ein Absperrgitter auf und blockiert damit den Weg zum Haus, und zwar in einer schlecht einsehbaren Kurve, damit der Sheriff die Absperrung nicht sieht, wenn er auf der Straße vorbeifährt.

Ohne etwas von dem Preis zu ahnen, vollendet Kate ihren neuen Roman.

Als sie nun selbst mit der Tochter in die Stadt fahren möchte, versucht ihr Mann sie davon abzuhalten, aber es gelingt ihm nicht: Mit Rita, die unangeschnallt neben ihr sitzt, fährt sie los. Aufgeregt rennt er hinterher. Ein Krachen ist zu hören. Kurze Zeit später sieht er das Auto: Kate war gegen die Absperrung geprallt, und ein Teil davon hatte sich mit der Stoßstange verkeilt. Der Zündschlüssel steckt. Kate und Rita sind fort. Er kriegt den Wagen wieder flott und fährt zum Krankenhaus in der Stadt.

Rita hat eine Platzwunde an der Stirn, Kate ein paar Frakturen. Der Arzt, der die Schriftstellerin aufgrund des Zeitungsfotos sofort erkannte, gratulierte ihr zum National Book Award. So erfuhr sie davon.

Vergeblich beteuert ihr Mann, er habe nur ihre heile Welt zusammenhalten wollen. Kate hat vor, ihn nach dem Krankenhausaufenthalt zu verlassen und die Tochter mitzunehmen.


Der Fremde in der Nacht

Für den Flug von New York nach Frankfurt am Main erhält der auf Verkehrsströmungslehre spezialisierte Physiker Jakob Saltin von der Universität Darmstadt einen Upgrade in die First Cass, weil die Business Class überbucht ist. Neben ihm sitzt ein etwa fünfzigjähriger Passagier, der sich als Werner Menzel vorstellt und ihm seine Geschichte erzählt.

Vor dem Irakkrieg war er im Wirtschaftsministerium in Berlin tätig. Bei einem Empfang flirtete ein Attaché der kuwaitischen Botschaft mit seiner attraktiven Freundin Ava, einer Ärztin. Sie nahmen die Einladung des Diplomaten nach Kuwait an. Dort wurden sie an einem der Vormittage von zwei Herren, die am Tisch neben ihnen gefrühstückt hatten, mit in die Stadt genommen. Unterwegs hielten sie neben einem Briefkasten an und baten Menzel, rasch einen Brief einzuwerfen. Da er auf der rechten Seite saß, dachte er sich nichts dabei, doch als er den Wagen verlassen hatte, fuhren die Kuwaiter mit seiner Freundin weiter und ließen ihn zurück.

Der deutsche Botschafter, an den er sich hilfesuchend wandte, erzählte ihm, was er über den Handel mit europäischen Frauen im Vorderen Orient wusste. Schließlich kehrte Menzel allein nach Deutschland zurück.

Ein Jahr später begann der Irakkrieg. Reiche Familien verließen Kuwait. So kam Ava nach Genf. Dort kletterte sie aus einem Fenster, ließ sich von einem Autofahrer mitnehmen, rief mit dessen Handy Menzel an und brachte sich in der Universitätsbibliothek in Sicherheit. Menzel flog sofort in die Schweiz.

Sie wandten sich zusammen an den deutschen Botschafter in Bern. Der sprach mit der Polizei und riet ihnen dann, die deutsche Polizei einzuschalten, aber die verwiesen sie an ihre Schweizer Kollegen. Niemand wollte politischen Ärger mit Kuwait verursachen.

Nach diesem schrecklichen Erlebnis zogen Ava und Menzel zusammen. Ava weigerte sich allerdings, mit Menzel zu schlafen. Das führte er zunächst auf ein Trauma zurück. Aber dann hielt er es für möglich, dass sie dem Attaché verfallen war.

„Sie haben Ihre Freundin verdächtigt, obwohl sie …“
„Obwohl sie geflohen ist?“ Er nickte ein paarmal. „Ich verstehe Ihre Frage. Ich habe es mich selbst immer wieder gefragt. Aber überwältigt werden, genommen werden, benutzt werden kann seinen sexuellen Reiz haben, für Frauen wie für Männer […] Sie hat auch mich verdächtigt. Ich hätte sie mit der Reise nach Kuwait in Gefahr gebracht, und ich hätte nach der Entführung nicht alles getan, was ich hätte tun können.“
[…] Mein Nachbar redete weiter, aber ich horchte auf das Brummen der Motoren, das falsch klang, und hörte ihm nicht mehr zu. Bis ich ihn sagen hörte:
„Aber sie war tot.“
„Tot?“
„Es waren nur zwei Stockwerke, und ich dachte, dass sie sich was gebrochen hat, die Beine, einen Arm. Aber sie war tot. Sie ist mit dem Kopf aufgeschlagen.“

Sie hatten sich auf dem Balkon gestritten. Er habe sie gestoßen, gesteht Menzel, und da sei sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Körpergröße übers Geländer gekippt.

„Da war noch die Sache mit dem Geld.“
„Geld?“
„Nun“, er redet langsam und bekümmert, „der Attaché hat ihr erzählt, dass er sie von mir gekauft hat. Sie hat es nicht wirklich geglaubt, aber es hat sie doch beschäftigt […]“

Die Polizei fand die 3 Millionen, die ihm der Attaché überwiesen hatte, auf seinem Konto. Inzwischen waren es sogar 5 Millionen, weil er erfolgreich mit dem Geld spekuliert hatte („Wem hätte es genützt, wenn das Geld nicht gearbeitet hätte?“). Saltin glaubt sich verhört zu haben, aber Menzel fährt fort:

„Als wir uns kennenlernten, hat der Attaché manchmal Witze gemacht und den Beduinen gespielt, der noch nach seinen Gepflogenheiten lebt. Ah, schöne blonde Frau! Tauschen Frau? Wollen Kamele? Ich habe das Spiel mitgespielt, und wir haben gehandelt und gefeilscht. Den Preis eines Kamels haben wir mit dreitausend angesetzt, und den Preis meiner Freundin habe ich auf tausend Kamele hochgetrieben. Es war ein Spiel.“

Das Gericht habe kein Verständnis für ihn gehabt, klagt er.

„Die Richter redeten mit mir, als hätte ich meine Freundin tatsächlich verkauft […] Als hätte ich sie umgebracht […] Der Staatsanwalt konnte es nur nicht beweisen. Bis die Nachbarin auftauchte.“

Eine alte Dame, eine im Kopf noch ganz wache pensionierte Lehrerin, hatte gesehen, wie Ava vom Balkon gestoßen worden war. Weil er nur wegen fahrlässiger Tötung angeklagt war, hatte man weder sein Vermögen beschlagnahmt noch ihn festgenommen. Er transferierte das Geld auf die Virgin Islands, setzte sich am Abend vor der Zeugenaussage der Nachbarin aus Deutschland ab und ließ sich nach einer Odyssee in Kapstadt nieder.

Wegen eines Triebwerkschadens nach heftigen Turbulenzen landet das Flugzeug außerplanmäßig in Reykjavik. In der Lounge, wo die Passagiere auf eine Ersatzmaschine aus Frankfurt warten müssen, macht Menzel seinen Zuhörer auf einen Mann aufmerksam, der sie beobachtet. Der habe ihn in Kapstadt aufgespürt und angeschossen, sagt er, offenbar im Auftrag des Attachés. Der hatte es zwar hingenommen, dass Ava von ihm fortgelaufen war, aber als er dann von ihrem Tod erfuhr, wollte er Rache. Menzel war nach seiner Genesung von Kapstadt nach Kalifornien gezogen und hatte dort mit einer Frau namens Debbie ein neues Leben angefangen. Als nun der Verfolger wieder auftauchte, beschloss Menzel, nach Deutschland zu fliegen und sich zu stellen, um einem weiteren Anschlag zu entgehen.

Bevor er zur Polizei gehe, wolle er allerdings noch seine Mutter besuchen, erklärt er und fragt Saltin, ob dieser ihm seinen Pass leihen und bei der Kontrolle als gestohlen melden würde. Aber er wartet die Antwort nicht ab und wechselt das Thema.

Nach der Landung umarmen sich die beiden Männer zum Abschied. Menzel stürmt los, sobald die Tür offen ist. Saltin stellt an der Passkontrolle fest, dass seine Brieftasche fehlt. Er zeigt den Beamten sein Foto auf der Website der Universität Darmstadt, und der Dekan bestätigt am Telefon seine Identität. Nach einer Woche erhält er die Brieftasche mit der Post zugeschickt.

Aus den Nachrichten erfährt Saltin, dass die Nachbarin, die das Geschehen auf dem Balkon beobachtet hatte, kürzlich verschwand und deshalb im neuen Prozess gegen Menzel nicht aussagen kann. Der Angeklagte wird zu acht Jahren Haft verurteilt.

Fünf Jahre später steht er vor der Tür. Den Rest der Strafe habe man zur Bewährung ausgesetzt, erklärt er. Er sei auf dem Weg nach Amerika. Ob Saltin ihm 5000 Euro leihen könne. Sie fahren zum Flughafen, wo Saltin an verschiedenen Automaten Geld abhebt, bis er Menzel den gewünschten Betrag mitgeben kann.


Der letzte Sommer

Seit fünfundzwanzig Jahren ist Thomas Wellmer als Medizinprofessor in New York tätig. Er weiß, dass er unheilbar krebskrank ist, verschweigt es jedoch den Angehörigen. Stattdessen lässt er sich von einem Kollegen einen Giftcocktail beschaffen, und den nimmt er mit in sein Haus am See, in dem er diesen letzten Sommer mit seiner Frau Barbara, dem Sohn Helmut, der Tochter Dagmar und den fünf Enkeln verbringen möchte, den Menschen, die er liebt, die er jedoch in seiner Arbeitswut vernachlässigte. Die Flasche mit dem Gift versteckt er hinter dem Champagner im Kühlschrank. Er beabsichtigt, sein Leben selbst zu beenden, wenn die Schmerzen unerträglich werde oder spätestens gegen Ende der Ferien [Suizid].

Barbara entdeckt das Gift. Offenbar hat er wieder eine wichtige Entscheidung ohne sie getroffen. Tief enttäuscht, stellt sie ihn zur Rede und verrät das Geheimnis auch Dagmar und Helmut:

„Ich fahre in die Stadt. Euer Vater will sich an einem der nächsten Abende im Kreis seiner Lieben umbringen. Ich habe es nur durch Zufall herausgefunden, er wollte mir und euch nichts davon sagen, sondern einfach das Mittel trinken und einschlafen und sterben. Ich will damit nichts zu tun haben. Was er sich alleine ausgedacht hat, soll er auch alleine zu Ende bringen.“

Auch die Kinder verlassen ihn mit den Enkeln. Wellmer bleibt allein zurück.

Als er auf der Kellertreppe stürzt, ist er zu betrunken, um aufzustehen. Erst am nächsten Morgen ruft er ein Taxi und lässt sich ins Krankenhaus fahren. Seine rechte Hand ist gebrochen.

Wieder zurück im Sommerhaus, schließt er die Giftflasche in einer Kassette ein, stellt sie in den Kühlschrank und schickt seiner Frau den Schlüssel zusammen mit einem Brief, in dem er ihr schreibt, er benötigte ihren Beistand, um sich das Leben zu nehmen. Kurz darauf findet er in der Schreibtischschublade einen zweiten Kassettenschlüssel, den er vergessen hatte. Den wirft er mit der linken Hand so kraftvoll wie möglich in den See.


Johann Sebastian Bach auf Rügen

Anlässlich eines Bach-Fests auf Rügen lädt er seinen Vater zu seiner kurzen Reise ein. Er will endlich mit ihm ins Gespräch kommen und mehr über ihn erfahren, ehe es zu spät ist. Warum musste er im Krieg nicht zum Militär? Warum gab er sein Richteramt auf und machte als Rechtsanwalt weiter? Aber der Sohn kommt dem Vater nicht näher.


Die Reise nach Süden

Der Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage.

Nina feiert in Hamburg ihren 80. Geburtstag. Sie wird von ihren vier Kindern, den Schwiegerkindern und Enkeln umsorgt, aber sie sind ihr fremd geworden. Der älteste Sohn ist Bundesrichter, der andere Museumsdirektor, die Töchter sind mit einem Professor bzw. einem Dirigenten verheiratet. Ihr Ehemann Helmut verließ sie wegen einer anderen Frau und ist wieder verheiratet. Nina ist überzeugt, dass sie Helmut nur geheiratet hatte, weil sie von der großen Liebe ihres Lebens verlassen worden war.

Ihre achtzehnjährige Enkelin Emilia, die auf einen Studienplatz für Medizin wartet, überredet sie, noch einmal nach Zürich zu reisen, wo sie Ende der Vierzigerjahre zu studieren begonnen hatte. Während der Autofahrt nach Süden erzählt Nina von dem einarmigen Studenten Adalbert Paulsen, der mit ihr auf einem Medizinerball in Zürich getanzt und sie danach geküsst hatte. Von der gemeinsamen Nacht in einem Landgasthaus verrät sie nichts.

Emilia telefoniert in Zürich mit Adalbert Paulsen. Der emeritierte Philosophieprofessor ist Witwer und hat eine Tochter, die in Amerika lebt. Ohne sich mit ihrer Großmutter abzustimmen, vereinbart Emilia ein Treffen der beiden alten Leute und lässt Nina keine Ruhe, bis sie die Absicht aufgibt, sofort abzureisen, und sich stattdessen bereit erklärt, Adalbert zur vereinbarten Zeit zu besuchen.

Sie wirft ihm vor, sie damals verlassen zu haben und behauptet, wochenlang vergeblich auf ihn gewartet zu haben. Aber er korrigiert sie: Nach zehn Tagen sei er zurückgekommen und habe von ihrer Wirtin erfahren, dass sie fort war. Ein junger Mann aus Hamburg namens Helmut hatte ihre Sachen ins Auto eingeladen und sie mitgenommen. Adalbert war damals trotz des Kalten Krieges auf einem philosophischen Kongress in Budapest gewesen. Er habe wie wild an seiner Dissertation gearbeitet, erzählt er, denn er sei darauf aus gewesen, so bald wie möglich eine Anstellung zu bekommen und sie zu heiraten.

Ninas Lebenslüge bricht zusammen. Auf der Rückfahrt nach Hamburg gesteht sie ihrer Enkelin, dass nicht Adalbert sie verlassen hatte, sondern umgekehrt: Sie war vor einem Leben in Armut an seiner Seite zurückgeschreckt.

„Ich habe nicht ausgehalten, dass ich mich falsch entschieden habe.“

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Unter dem Buchtitel „Sommerlügen“ hat Bernhard Schlink sieben Geschichten zusammengefasst. Eigentlich erwartet man unter diesem Begriff Lügen, deren Bedeutung nicht über einen Sommer hinausgeht, aber hier geht es um Lügen mit schwerwiegenden Folgen. Die Geschichten drehen sich um Lebenslügen, Eheprobleme, Generationskonflikte, die Unfähigkeit zur Kommunikation, Versagensängste, Alter, Krankheit und Freitod. In sechs der Geschichten sind die Protagonisten männlich, nur die letzte Geschichte wird aus Sicht einer (alten) Frau erzählt. Der Schluss bleibt jeweils offen.

Die Figuren gehören der Mittelschicht an: Schriftsteller und Dramatiker, Philosophen, Juristen und Ärzte. Bei den Paaren sind die Männer schwächer und unsicherer als die Frauen. Die Erklärungsansätze, die Bernhard Schlink für die Entwicklung der Charaktere gibt, kommen nicht über Küchenpsychologie hinaus. Darüber hinaus wirkt manches konstruiert.

Die Atmosphäre ist melancholisch, die Tonlage moderat, die Sprache schlicht und schnörkellos. Bernhard Schlink setzt Stilmittel nur sparsam ein.

Irritierend sind schludrige Sätze wie dieser:

Wenn die Frauen mitspielen, geht es ihnen gut. Wenn sie nicht mitspielen, wechseln sie ein paarmal die Hände und enden in einem Bordell in Mombasa. (Es werden jedoch nicht die Hände der Frauen ausgewechselt, sondern sie gehen durch mehrere Hände.)

Gelungen ist die Geschichte „Der Fremde in der Nacht“: Hier überzeugt Bernhard Schlink mit einer skurrilen Handlung, amüsanten Auslassungen und Nachträgen, geschickten Steigerungen und überraschenden Wendungen.

Je mehr es menschelt, desto weniger braucht mitgedacht zu werden. Und die Frage, inwieweit der Routinier Schlink mit Klischees und Stereotypen arbeitet, beantwortet sich von selbst, wenn man etwa liest, was ihm zu Johann Sebastian Bach einfällt. Aber warum soll man ihm das alles vorhalten? Wer handwerklich solide, humorfreie Unterhaltung für Mußestunden am Meer oder im Gebirge sucht, ist gut bedient. Wer Literatur als Kunstform schätzt, muss Schlink schließlich nicht lesen. (Kristina Maidt-Zinke, „Die Zeit“, 23. September 2010)

Die Geschichten, die Bernhard Schlink unter dem Titel „Sommerlügen“ zusammengefasst hat, gibt es auch als Diogenes-Hörbuch, gelesen von Hans Korte (Regie: Detlef Fischer, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-80297-9).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Bernhard Schlink: Der Vorleser
Bernhard Schlink: Liebesfluchten
Bernhard Schlink: Das Wochenende (Verfilmung)
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe
Bernhard Schlink: Olga
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Dieter Wunderlich - Göring und Goebbels
Am Beispiel der beiden grundverschiedenen Charaktere Hermann Göring und Joseph Goebbels veranschaulicht Dieter Wunderlich, wie es zu den grauenvollen Verbrechen der Nationalsozialisten kommen konnte.
Göring und Goebbels