José Saramago : Eine Zeit ohne Tod

Eine Zeit ohne Tod
Originalausgabe: As Intermitências da Morte Editorial Caminho, Lissabon 2005 Eine Zeit ohne Tod Übersetzung: Marianne Gareis Rowohlt Verlag, Reinbek 2007 ISBN: 978-3-498-06389-4, 253 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2009 ISBN: 978-3-499-24342-4, 253 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einem Land stirbt sieben Monate lang niemand. Eine Maphia genannte Organisation übernimmt es, Todkranke über die Grenze zu schmuggeln, aber für Bestattungsunternehmer, Pflegeheime, Lebensversicherungen, Rentenkassen und die Kirche ist die neue Lage katastrophal. Dann kündigt tod in einem Brief an den Fernsehintendanten an, dass wieder gestorben wird. Von jetzt will tod allerdings die Betroffenen vorwarnen ...
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Kritik

Der Gesellschaftssatire "Eine Zeit ohne Tod" fehlt es an formaler Geschlossenheit, und José Saramago schildert das Geschehen, statt es zu inszenieren.
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In einem Land mit zehn Millionen Einwohnern sterben vom 1. Januar an keine Menschen mehr. Auch die todkranke Königinmutter, von der man annahm, dass sie die Silvesternacht nicht überleben würde, verharrt in ihrem Zustand. Der Premierminister beteuert in einer offiziellen Stellungnahme,

die Regierung sei auf alle nur erdenklichen Eventualitäten vorbereitet und fest entschlossen, sich mutig den vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und moralischen Problemen zu stellen, die eine endgültige Auslöschung des Todes unweigerlich mit sich brächte, sollte diese sich denn bestätigen, worauf derzeit alles hindeute.

Im Dienstwagen, der ihn nach Hause bringt, erreicht ihn ein Anruf des Kardinals:

Guten Abend, Herr Premierminister, Guten Abend, Eminenz, Ich rufe an, um Ihnen mitzuteilen, dass ich zutiefst schockiert bin, Ich auch, Eminenz, die Lage ist sehr ernst, so ernst wie noch nie, Das meine ich nicht, Was meinen Sie dann, Eminenz, Es ist in jeder Hinsicht bedauerlich, dass Sie, Herr Premierminister, bei der Abfassung der Erklärung, die ich soeben vernommen habe, nicht an das gedacht haben, was die Grundlage, den tragenden Pfeiler, den Eckstein des Gewölbes unserer heiligen Religion ausmacht, Verzeihen Sie, Eminenz, ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, Ohne den Tod, und nun hören Sie mir gut zu, Herr Premierminister, ohne den Tod gibt es keine Auferstehung, und ohne Auferstehung gibt es keine Kirche […]

Was macht der Staat, wenn nie wieder jemand stirbt, Der Staat wird versuchen zu überleben, auch wenn ich ernsthaft daran zweifle, dass er das schafft, aber die Kirche, Die Kirche, Herr Premierminister, hat sich so sehr an die ewigen Antworten gewöhnt, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie sie je andere geben könnte, Auch wenn die Wirklichkeit dem widerspricht, Wir haben doch von Anfang an nie etwas anderes getan, als der Wirklichkeit zu widersprechen, und hier stehen wir nun […]

Krankenhäuser, in denen noch mehr Patienten in den Fluren liegen als sonst, beschweren sich ebenso wie Alten- und Pflegeheime, die an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Die Bestattungsunternehmer fordern als Ausgleich die gesetzliche Einführung einer obligatorischen Bestattung bzw. Einäscherung aller verendeten Haustiere und weisen darauf hin, dass die Umstellung mit beträchtlichen Investitionen verbunden sei. Weil immer mehr Menschen ihre Lebensversicherungen kündigen, schlägt der Verband der Versicherungsgesellschaften einen Zusatz zur Police vor, der das theoretische Lebensalter auf 80 Jahre festlegt.

So könnten die Versicherungen wieder ganz regulär ihre Beiträge erheben, bis der glückliche Versicherte das achtzigste Lebensjahr vollende und, da er sich in einen virtuellen Toten verwandele, die komplette Versicherungssumme erhalte […].

Die Regierung setzt eine aus acht Herren bestehende interdisziplinäre Kommission ein, die über die neue Situation berät. Während der konstituierenden Sitzung behauptet der Älteste der pessimistischen Philosophen, die Religionen hätten ohne den Tod keine Daseinsberechtigung.

Die Vertreter der Religionen machten sich nicht einmal die Mühe zu widersprechen. Im Gegenteil, einer von ihnen, ein angesehener Vertreter des katholischen Lagers, sagte, Sie haben Recht, Herr Philosoph, genau dafür sind wir da, damit die Menschen ihr Leben lang mit der Angst im Nacken leben und, wenn ihre Stunde geschlagen hat, den Tod als Befreiung ansehen, Das Paradies, Paradies oder Hölle oder auch das Nichts, was nach dem Tod geschieht, ist uns weit weniger wichtig als allgemein angenommen, die Religion, Herr Philosoph, ist eine irdische Angelegenheit, sie hat nichts mit dem Himmel zu tun, Das haben wir aber anders gelernt, Irgendetwas mussten wir schließlich sagen, um unsere Ware attraktiv zu machen […]

Bei einer nahe der Grenze lebenden Bauernfamilie sind sowohl der Großvater als auch ein wenige Monate altes Kind todkrank. Die Angehörigen bringen die beiden eines Nachts heimlich über die Grenze, wo sie denn auch erwartungsgemäß sterben. Ein an Schlaflosigkeit leidender Dorfbewohner hat allerdings beobachtet, dass die Familie die Kranken fortbrachte und erzählt es weiter. Auch von anderen Grenzregionen gibt es Meldungen über entsprechende Vorgänge. Das bleibt den Regierungen der drei Nachbarstaaten nicht verborgen, und sie protestieren offiziell. Der Premierminister, der eigentlich froh über den Exodus war, weil er nicht weiß, wie die Renten all der nicht mehr sterbenden Menschen bezahlt werden sollen, kann die Beschwerden der Nachbarländer nicht ignorieren.

Auf Drängen der Regierungen der drei Nachbarstaaten und der internen Opposition verurteilte der Regierungschef diese unmenschlichen Machenschaften, appellierte an den Respekt vor dem Leben und verkündete, dass ab sofort entlang der Grenze Streitkräfte postiert würden, die sämtliche Staatsbürger, die sich im Zustand äußerster körperlicher Schwächung befanden, am Übergang hindern sollten, ganz gleich, ob es sich um Eigeninitiative oder einen Willkürentscheid ihrer Verwandten handelte.

In dieser Lage wendet sich eine neue Organisation, die sich Maphia nennt, an einen Regierungsvertreter und bietet an, Todkranke gegen Bezahlung diskret über die Grenze zu bringen, wenn die dort patrouillierenden Streitkräfte wegschauen. Als das Gerücht über die Tätigkeit der Maphia auch dem König zu Ohren kommt und er den Premierminister zur Rede stellt, weist ihn dieser auf die Renten-Problematik hin:

Majestät, falls wir nicht wieder sterben, haben wir keine Zukunft mehr.

Inzwischen verstärken die drei Nachbarstaaten ihre Grenztruppen und ordnen an, dass auf illegale Grenzgänger geschossen wird.

Nachdem sieben Monate lang niemand mehr in dem Land gestorben ist, findet der Generalintendant des Fernsehens einen violetten Brief auf seinem Schreibtisch vor. Er liest ihn. Dann ruft er die Regierung an und verlangt eine sofortige Unterredung mit dem Premierminister. Um 12 Uhr mittags nimmt der Premierminister den Inhalt des Briefes zur Kenntnis, in dem tod ankündigt, dass ab 24 Uhr wieder gestorben wird. Für alle, die noch nicht todkrank sind, führt tod eine Neuregelung ein: Sie sollen eine Woche vor ihrem Ableben per Post eine Vorwarnung erhalten. Der Regierungschef beschließt, den Brief bis 21 Uhr geheim zu halten. Dann sollen der Nachrichtensprecher im Fernsehen ein offizielles Kommuniqué der Regierung und der Intendant den Brief vorlesen.

Noch in der Nacht treffen sich Bestattungsunternehmer und Sargschreiner zu einer Krisensitzung, denn es gilt, auf einen Schlag alle 62 580 Toten zu bestatten, die unter normalen Umständen in den letzten sieben Monaten gestorben wären. Die Totengräber verlangen außer einer beträchtlichen Lohnerhöhung einen dreifachen Zuschlag für Überstunden. Die Maphia reagiert auf den Wegfall des Geschäfts mit dem Schmuggel der Todkranken durch die Eintreibung von Schutzgeldern von Bestattungsunternehmen.

Ehre, wem Ehre gebührt, die erste Institution, die eine klare Vorstellung von der allgemeinen seelischen Verfassung der Bevölkerung hatte, war die römisch-katholische und apostolische Kirche, der in Zeiten inflationären Abkürzungsgebrauchs in der täglichen Kommunikation, der privaten wie der öffentlichen, die vereinfachende Abkürzung rkaK nicht schlecht stehen würde. Gewiss ist auch, dass man blind sein musste, um nicht zu sehen, dass ihre Gotteshäuser sich beinahe schlagartig mit verzweifelten Menschen gefüllt hatten, die ein hoffnungsvolles Wort, Trost, Balsam, ein Schmerzmittel, eine spirituelle Beruhigung suchten. Menschen, die bislang in dem Bewusstsein gelebt hatten, der Tod sei etwas Unabdingbares, dem man nicht entrinnen kann, gleichzeitig jedoch auch gedacht hatten, dass es doch so viele Menschen gab, die sterben konnten, weshalb es sie selbst nur mit viel Pech erwischen würde, hielten nun ständig hinter dem Vorhang Ausschau nach dem Briefträger oder zitterten bei dem Gedanken, nach Hause zurückkehren zu müssen, wo vielleicht der gefürchtete violette Brief, schlimmer als ein blutrünstiges Monster mit aufgerissenem Maul, hinter der Tür lauerte und sie anspränge. In den Kirchen gab es keine Pause, die langen Schlangen reuiger Sünder, die sich wie am Fließband unaufhörlich erneuerten, zogen sich zweimal um das Mittelschiff. Die diensthabenden Beichtväter ließen die Arme nicht mehr sinken, waren zuweilen ganz abwesend vor lauter Müdigkeit, bis ein skandalöses Detail der Erzählung erneut ihre Aufmerksamkeit weckte, und am Ende verordneten sie eine Pro-Forma-Buße, soundso viele Vaterunser, soundso viele Ave-Marias, und erteilten eine schnelle Absolution. In der kurzen Pause zwischen dem Weggang des einen und dem Niederknien des nächsten Beichtenden bissen sie hastig von ihrem Hühnersandwich ab, ihrem einzigen Mittagessen, während sie sich vage eine Entschädigung für das Abendessen ausmalten.

Derweil verschickt tod Tag für Tag 250 violette Briefe. Graphologen sind überzeugt, dass die Briefe von einer weiblichen Person geschrieben werden.

Wir sind verlässliche Zeugen dafür, dass unsere tod ein in Laken gefülltes Skelett ist, das zusammen mit einer alten, rostigen Sense, die nicht auf Fragen antwortet, in einem kalten Raum wohnt, umgeben von gekalkten Wänden, an denen zwischen zahlreichen Spinnweben ein paar Dutzend Karteikästen mit schweren Schubfächern voller Karteikarten aufgereiht sind.

Als einer der violetten Briefe dreimal zurückkommt, ohne dass der Briefträger einen Grund aufs Kuvert geschrieben hätte, sucht tod den Adressaten unbemerkt auf und schaut sich den Schlafenden an. Eigentlich hätte der unverheiratete Cellist im 49. Lebensjahr sterben sollen, aber inzwischen hat er bereits seinen 50. Geburtstag gefeiert.

Am nächsten Tag kauft tod an der Theaterkasse für die beiden Konzerte des Städtischen Sinfonieorchesters am Donnerstag und am Samstag jeweils eine Karte für ein und denselben Platz in einer Luxusloge. Dann kauft sich tod ein schickes Kleid und nimmt sich ein Hotelzimmer.

Die schöne Frau fällt am Donnerstagabend nicht nur dem Cellisten auf. Am Bühnenausgang erwartet sie ihn, bedankt sich für das schöne Konzert und kündigt ihr Wiederkommen für Samstag an. Aber zur Enttäuschung des Cellisten bleibt der Sitz in der Luxusloge am Samstag leer.

Als der Cellist jedoch am Sonntag mit seinem Hund in den Park geht, sitzt die Unbekannte bereits auf „seiner“ Bank und wartet auf ihn. Sie entschuldigt sich für ihr Ausbleiben, kündigt ihre Abreise für den folgenden Tag an und verabschiedet sich von ihm.

Überraschend besucht sie ihn am Abend besucht in seiner Wohnung. Nach einer Weile gehen die beiden miteinander ins Bett. Als der Cellist eingeschlafen ist, steht sie auf, nimmt den an ihn adressierten violetten Brief aus der Tasche und verbrennt ihn. Dann legt sie sich wieder zu ihm.

Am folgenden Tag stirbt niemand im Land.

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Denk z. B. mehr an den Tod – & es wäre doch sonderbar, wenn Du nicht dadurch neue Vorstellungen, neue Gebiete der Sprache, kennenlernen solltest.

Dieses Zitat von Ludwig Wittgenstein hat José Saramago als eines von zwei Mottos für sein Buch „Eine Zeit ohne Tod“ gewählt.

Der Roman, eine Gesellschaftssatire, besteht aus drei Teilen: Zunächst malt José Saramago sich aus, was geschieht, wenn niemand mehr stirbt. Im Mittelteil normalisiert sich die Lage in dem betroffenen Land wieder einigermaßen. (Allerdings wird den Menschen nun das Ableben eine Woche im Voraus angekündigt.) Den Abschluss bildet die Begegnung eines Cellisten mit einer schönen Frau, von der er nicht ahnt, dass sie tod ist. (Im Portugiesischen ist morte, Tod, weiblich.)

Nur im letzten Teil von „Eine Zeit ohne Tod“ gibt es zwei Hauptfiguren. In den ersten beiden Dritteln beschreibt José Saramago die Situation, ohne Protagonisten auftreten zu lassen oder das Geschehen zu inszenieren. (Der Premierminister und der Fernsehintendant sind nur Funktionsträger.) Durch diesen Unterschied zerfällt der Roman in zwei stilistisch verschiedene Bereiche und es mangelt ihm an formaler Geschlossenheit. Außerdem erschwert das Fehlen von Identifikationsfiguren die Lektüre.

Die Grundidee des Plots finde ich durchaus originell, aber die Darstellung ist nicht besonders geist- oder einfallsreich. Sprachliche Eleganz und hin und wieder aufblitzender Witz sind dafür kein ausreichender Ersatz.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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