Isaac Rosa : Im Reich der Angst

Im Reich der Angst
Originalausgabe: El país del miedo Seix Barral, Barcelona 2008 Im Reich der Angst Übersetzung: Luis Ruby Klett-Cotta, Stuttgart 2011 ISBN: 978-3-608-93894-4, 317 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Sara und Carlos merken, dass ihr 12-jähriger Sohn Pablo vom Mitschüler Javier erpresst wird, beschwert sich der Vater beim Schulleiter. Javier sieht ihn aus dem Büro kommen und beschimpft ihn. Als Carlos ihn beim Einkaufen wiedersieht, möchte Javier Geld von ihm. Statt den Jungen in die Schranken zu weisen, glaubt Carlos, sich mit ein paar Euro freikaufen zu können. Aber Javier nützt seine dessen aus und schraubt seine Forderungen immer höher ...
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Kritik

Aufbau und Sprache des brisanten Romans "Im Reich der Angst" sind eigenwillig. Lesenswert ist das Buch, weil Isaac Rosa die psychologische Dynamik realistisch, differenziert und nachvollziehbar darstellt.
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Carlos wohnt mit seiner Ehefrau Sara und seinem zwölfjährigen Sohn Pablo in einer spanischen Stadt. Während Sara des Öfteren erst spät abends nach Hause kommt, arbeitet Carlos nur vormittags im Büro, nachmittags dann zu Hause. Vor dem Schlafengehen pflegt er einen Kontrollrundgang durch die Wohnung zu machen. Seit er sich einmal hinaussperrte und der Nachbar ihm die Türe mit einer Scheckkarte öffnete, ist er noch vorsichtiger. Aber als nach einer Einbruchserie auf einer Etage eine Sicherheitsfirma ein Geschäft mit der Angst machte und allen Mietern neue Wohnungstüren aufzuschwatzen versuchte, weigerten sich Sara und Carlos als einzige Partei, die ihre austauschen zu lassen.

Selbst vor der Polizei nimmt Carlos sich in Acht, denn seiner Meinung nach sind viele Polizisten brutal und korrupt. Sie könnten ihm gegenüber ihre Amtsgewalt missbrauchen.

Es gibt eine ganze Reihe von Orten, die für Carlos mit Angst verbunden sind, zum Beispiel Tiefgaragen, U-Bahn-Stationen, Unterführungen, Parkanlagen und Brachen am Stadtrand.

In der U-Bahn beobachtete er einmal einen Taschendieb. Der blickte ihn an und machte weiter. Statt die bestohlene Person zu alarmieren, stieg Carlos vorzeitig aus, weil er die Situation nicht länger ertrug.

Obwohl er sich für tolerant und vorurteilsfrei hält, fürchtet er sich vor Besitzlosen, zu kurz Gekommenen und Entrechteten, Kleinkriminellen, bettelnden Kindern, gewalttätigen Heranwachsenden. Er hofft, dass er nicht zum Opfer von Gaunern wird, die Notsituationen vortäuschen, um Autofahrer ausrauben zu können. Die Situation ist hier in Spanien nicht wie in Los Angeles, in den Banlieues von Paris oder gar in lateinamerikanischen Metropolen, aber Carlos rechnet damit, dass sich die Zustände auch hier verschlechtern werden. Das macht ihm Angst.

Als Sara und er noch nicht verheiratet waren, knutschten sie einmal hinter Büschen im Park. Da kam ein Fremder auf sie zu, ging vor ihnen in die Hocke und wollte Geld. Carlos wäre bereit gewesen, ihm etwas zu geben, aber Sara ließ das nicht zu und schickte den Bettler stattdessen fort. Der wurde zornig. Er beschimpfte Sara und ohrfeigte sie, bevor er weiterging. Carlos unternahm nichts weiter, als Sara anschließend zu trösten.

Bei Meinungsverschiedenheiten beschwichtigt Carlos seinen Kontrahenten, damit es nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen kommt.

Hin und wieder malt er sich aus, wie eine Frau die Angst vor einer möglichen Vergewaltigung empfindet.

Oder er stellt sich vor, wie er sich auf eine Wochenendaffäre mit einer neuen Kollegin einlässt, die sich danach an ihn klammert und ihn mit der Drohung, seine Ehefrau zu informieren, zum Weitermachen erpresst.

Die Vaterrolle war für ihn von Anfang an mit neuen Ängsten verbunden. Zuerst sorgte Carlos sich um seine schwangere Frau und das ungeborene Kind, dann um den heranwachsenden Sohn, den er nach Möglichkeit nicht aus den Augen ließ.

Carlos hat von einem psychologischen Test gehört, bei dem Kinder aufgefordert werden, ein Land der Angst und ein Land der Freude zu beschreiben. Weil er mit niemandem darüber reden möchte, beginnt er zu schreiben: „Im Reich der Angst“.

–   –   –

Sara hat im Büro mehrmals den Eindruck, dass ihr ein Geldschein aus dem Portemonnaie abhanden gekommen ist. Zu Hause stellt sie fest, dass CDs und DVDs, Schmuckstücke und zwei Flaschen Likör fehlen. Ist die junge marokkanische Putzfrau Naima, die seit drei Monaten für sie arbeitet, eine Diebin? Sara berichtet ihrem Ehemann Carlos, was sie beobachtet hat. Er hört ihr zu, überlässt aber das weitere Vorgehen ihr.

Am nächsten Tag wirft Sara die Marokkanerin hinaus. Als sie vom Büro nach Hause kommt, steht Naima mit einem Begleiter vor der Tür. Der Afrikaner beteuert, dass seine Freundin unschuldig sei und fleht Sara an, sie weiter zu beschäftigen. Aber Sara lässt sich nicht erweichen.

Es dauert nicht lang, bis weitere Sachen verschwinden. Sara sieht im Zimmer ihres zwölfjährigen Sohnes Pablo nach. Dort fehlen Bücher und Computerspiele, ein Fernglas, ein Fußball mit Autogrammen und anderes. Wieder spricht Sara mit ihrem Mann.

Carlos versteckt sich am nächsten Tag bei Schulschluss in der Nähe des Tors und beobachtet, wie Pablo mit einem ungefähr gleichaltrigen Mitschüler herauskommt. Auf der Straße bleiben sie stehen; Pablo nimmt etwas aus seinem Rucksack und gibt es dem anderen. Dann trennen sich die Wege der beiden Jungen.

Auf die Frage, was er dem Mitschüler gegeben habe, behauptet Pablo, er habe eine DVD verliehen. Aber als Carlos auf die anderen fehlenden Gegenstände und das Geld zu sprechen kommt, schweigt er. Am Abend entdecken Sara und Carlos an Pablos Körper Hämatome und kleine Stichverletzungen. Offenbar wird er von dem anderen Jungen erpresst. Dessen Namen gibt Pablo allerdings nicht preis.

Während Sara vorschlägt, die Polizei einzuschalten, zieht Carlos es vor, mit dem Schulleiter und dem Klassenlehrer zu reden.

Der Direktor verspricht, sich mit dem Lehrer zu beratschlagen.

Als Carlos das Schulgebäude verlässt, hört er seinen Namen rufen. Der Schüler, dem Pablo etwas aus seinem Rucksack gab, kommt auf ihn zu. Der Junge weiß, dass er Pablos Vater ist, und weil er ihn beim Verlassen des Direktorenbüros sah, nimmt er an, dass Carlos mit dem Schulleiter über ihn sprach. Er ereifert sich darüber, dass Pablo ihn verriet und beschimpft auch Carlos als Petzer. Schließlich beginnt er, den Erwachsenen zu stoßen. Damit hört er erst auf, als ihn ein greiser Passant zur Ordnung ruft.

Am nächsten Tag sucht Carlos erneut den Direktor auf, um ihm von der unangenehmen Begegnung mit dem Schüler zu berichten. Diesmal blicken ihm der Schulleiter und der Klassenlehrer durchs Fenster nach. Wie erwartet, passt ihn der Junge auf der Straße ab und attackiert ihn. Der Direktor und der Lehrer kommen aus dem Gebäude. Als sie den Jungen bei seinem Namen Javier rufen, läuft dieser fort.

Um Pablo zu beschützen, fährt Carlos ihn morgens auf dem Weg ins Büro zur Schule und holt ihn mittags wieder ab. Nach zwei Wochen meint der Schulpsychologe, es sei an der Zeit, Pablo wieder allein nach Hause gehen zu lassen. Der Junge weigert sich, denn er hat noch immer Angst, obwohl Javier inzwischen von der Schule relegiert wurde. Carlos verspricht seinem Sohn, er werde ihn weiterhin abholen, schärft ihm aber ein, Sara nichts davon zu verraten. Wenn seine Frau abends nach Hause kommt, lügt Carlos ihr vor, Pablo habe neuen Mut gefasst und wage sich wieder allein auf die Straße.

Wenn Carlos und Pablo am Nachmittag zu Fuß unterwegs sind, biegen sie in eine Seitenstraße ab, sobald sie Javier sehen. Einmal bemerkt er sie, bevor sie verschwinden können. Sie kehren um. Er kommt ihnen nach. Pablo flieht in ein nahes Einkaufszentrum. Carlos läuft hinter ihm her und hofft, dass es so aussieht, als folge ein besorgter Vater seinem Sohn.

Ein paar Tage später kauft Carlos in Begleitung seines Sohnes ein. Während er den Einkaufswagen zurückbringen will, setzt Pablo sich ins Auto. Plötzlich taucht Javier auf. Er drängt sich Kunden auf, schiebt deren leere Einkaufswägen zurück und kassiert das Pfand. Auch Carlos überlässt ihm den Wagen. Seinem Sohn erklärt er, der Junge mache sich nützlich und verdiene dabei etwas Geld.

Beim nächsten Mal lässt Carlos den Einkaufswagen im Gebäude stehen und trägt die Tüten zum Auto. Wie befürchtet, nähert sich Javier, bietet ihm an, beim Tragen zu helfen und zerrt auch schon an einer der Tüten. Carlos bittet darum, in Ruhe gelassen zu werden. Eine Tüte fällt zu Boden und zerplatzt. Endlich erreicht er sein Auto. Javier will Geld von ihm, und mit den drei Euro, die Carlos aus dem Portemonnaie nimmt, gibt er sich nicht zufrieden. Notgedrungen hält Carlos ihm noch einen Zehn-Euro-Schein hin, aber Javier verlangt außerdem den Zwanziger, den Carlos versehentlich mit herausnahm. Dafür verspricht der Junge dem Erwachsenen, ihn von nun an nicht mehr zu belästigen.

Es dauert allerdings nicht lange, bis Javier erneut auftaucht. Carlos flieht mit Pablo ins nächste Café. Aber als Javier an der Glastüre stehen bleibt, sieht Carlos sich gezwungen, zu ihm hinauszugehen. Er nimmt den Jungen zur Seite, sodass Pablo sie nicht mehr sehen kann und gibt ihm 10 Euro. Seinem Sohn erklärt er danach, er habe ein ernstes Wort mit Javier geredet.

Die nächste Begegnung zwischen Carlos und Javier findet wieder vor dem Einkaufszentrum statt. Aus Sorge vor Kratzern und einem abgebrochenen Außenspiegel hat Carlos das Auto zu Hause gelassen. Javier verspricht erneut, er werde ihn in Ruhe lassen, sobald er ihm ausreichend Geld gegeben habe. Carlos, der in beiden Händen Einkaufstüten hat, weigert sich. Javier greift ihm in die Manteltaschen und sucht nach dem Portemonnaie. Dabei fällt Carlos‘ Handy auf den Boden. Als Javier sich danach bückt, stößt Carlos ihn, und der Junge fällt auf den Hintern. Er springt wieder auf und prügelt auf Carlos ein, bis ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma herbeieilt.

Am Abend erzählt Carlos seiner Frau, er sei unachtsam gewesen und mit dem Gesicht gegen ein Straßenschild geprallt.

Pablo, der die Lüge durchschaut, schützt am nächsten Morgen eine Erkrankung vor, weil er Angst davor hat, in die Schule zu gehen. Carlos versichert Sara, er werde zu Hause bleiben und sich um den Sohn kümmern. Als sie später anruft, lügt er, sie seien beim Arzt gewesen. Der habe einen derzeit grassierenden Magenvirus diagnostiziert und empfohlen, Pablo für einen weiteren Tag in der Schule krankzumelden.

Carlos öffnet nicht, wenn jemand an der Tür klingelt und nimmt nicht ab, wenn er die Telefonnummer des Anrufers auf dem Display nicht kennt. Das Mietshaus verlässt er nur noch durch die Garagenausfahrt, und auf demselben Weg kommt er zurück. Statt ins Einkaufszentrum fährt er von jetzt an zu einem weiter entfernten Supermarkt und redet sich ein, das mache er nur, weil auf dem Weg dorthin weniger Verkehr sei.

Der Ehemann von Saras Schwester ist Polizist. Bei einem Familienbesuch erzählt Carlos seinem Schwager unter vier Augen, was Pablo und er mit Javier erlebten. Der Schwager erklärt ihm, dass ein Minderjähriger nicht befürchten müsse, gerichtlich verurteilt zu werden. Deshalb sei eine Anzeige zwecklos. Stattdessen müsse man so einem jugendlichen Erpresser eine Lektion erteilen. Das wolle er gern übernehmen. Carlos bittet ihn erschrocken, erst einmal nichts zu unternehmen.

Eines Tages fährt Pablo unter Aufsicht seines Vaters im Park ein paar Runden mit dem Fahrrad. Als er glaubt, Javier zu sehen, stürzt er. Nachdem Carlos die Schürfwunden seines Sohnes in der Wohnung verpflastert hat, geht er hinunter, um das Fahrrad zu holen. Drei Jugendliche haben es aufgehoben und gegen einen Baum gelehnt. Sie sitzen auf der Bank daneben. Carlos rechnet damit, dass die Kerle das Rad nicht herausgeben, aber wider Erwarten bleiben sie friedlich. Vor der Haustüre stellt er das Fahrrad ab, nimmt den Schlüsselbund heraus und will aufsperren. Da taucht Javier mit zwei Kumpanen auf.

Cooles Rad, sagt der Junge und grinst zu seinen Kumpels hinüber. Gib es her, sagt Carlos, der den Schlüssel loslässt, er lässt ihn mit dem ganzen Bund am Schloss hängen und dreht sich zu dem Provokateur um. Ach komm, leih’s mir halt kurz, nur für ’ne Runde durch den Park, sagt er und sieht seine Begleiter an, die den Kommentar mit beifälligem Gelächter aufnehmen. Nein, tu ich nicht, ich bin in Eile, sagt Carlos halblaut und versucht rasch, die möglichen Auswege aus der Situation durchzuspielen […]
Was willst du?, fragt er schließlich in der Absicht, die Situation so schnell wie möglich aufzulösen, denn er rechnet damit, dass seine Frau jetzt jeden Moment da sein wird […] Der Junge braucht einige Sekunden, bis er antwortet, mit dieser Frage hat er nicht gerechnet, und er hat darauf keine Antwort parat, vielleicht weiß er gar nicht, was er will, doch am Ende reagiert er mit einem einzigen, unmissverständlichen Wort: Geld.

Carlos, der seine Frau kommen sieht, gibt ihm die 10 Euro, die er bei sich hat und um ihn rechtzeitig loszuwerden, verspricht er ihm mehr Geld am nächsten Tag.

Zur vereinbarten Zeit wartet Carlos jedoch vergeblich auf Javier.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Wenn er mit dem Auto fährt, achtet er darauf, dass die Zentralverriegelung betätigt ist. Einmal unterlässt er es, den Knopf zu drücken, nachdem Pablo vor dem Schulgebäude ausgestiegen ist. Die Türen werden aufgerissen. Javier und seine beiden Freunde steigen ein. Carlos fordert sie auf, den Wagen zu verlassen. Als sie nicht darauf reagieren, gibt er ihnen Geld. Sie stecken es ein, bleiben jedoch sitzen. Da drückt Carlos das Gaspedal durch. Am Ende der Straße befindet sich ein Polizeirevier. Das wissen auch die drei Jugendlichen. Sie protestieren, schreien ihn an. Carlos rast weiter – bis ihm einer der Kerle von hinten ein Messer an die Kehle hält. Erschrocken bremst er. Die Jugendlichen springen aus dem Wagen und laufen davon.

Mit zitternden Knien fährt Carlos weiter bis zur Polizei und erstattet Anzeige. Weil er zu aufgeregt ist, um ins Büro zu fahren, kurvt er ziellos herum. Dabei gerät er in einen Stau und kommt deshalb zu spät, um Pablo von der Schule abzuholen. Er fährt ihm nach. Als er ihn sieht, hält er Abstand. Von da an holt er Pablo nicht mehr ab, sondern fährt jeden Tag hinter ihm her. Er nimmt an, dass der Junge das weiß, aber sie reden nicht darüber.

Javier muss in ein Heim. Wie den meisten Jugendlichen ist es ihm erlaubt, die Schule zu besuchen. Auch zu anderen Tageszeiten findet er Möglichkeiten, das Heim zu verlassen.

Einmal sieht Carlos, wie Javier hinter Pablo herrennt. Da gibt er Gas, überholt Javier, fordert seinen Sohn zum Einsteigen auf und fährt rasch weiter.

Danach bringt Carlos seinen Sohn wieder mit dem Auto zur Schule und holt ihn von dort ab.

Schließlich wendet Carlos sich erneut an seinen Schwager. Nachdem sie sich besprochen haben, verabredet er sich mit Javier auf einem abgelegenen Parkplatz im Industrieviertel. Zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit tauchen zwei Motorräder auf. Javier hat drei Kumpane mitgebracht. Als Carlos behauptet, bei der Beschaffung des versprochenen Geldbetrages habe es Schwierigkeiten gegeben, schlagen sie ihn zusammen und treten auf ihn ein – bis sein Schwager, der zweihundert Meter entfernt in seinem Wagen wartete, herbeieilt. Er trägt Zivilkleidung, verbirgt sein Gesicht hinter einer Maske und schlägt mit einer Eisenstange auf die Jugendlichen ein. Drei von ihnen fliehen. Javier wird festgehalten. Carlos‘ Schwager legt ihm Handschellen an. Der Junge beginnt zu weinen und fleht Carlos an, ihm zu helfen. Der Polizist zwingt ihn, in den Kofferraum seines Autos zu steigen und fährt mit ihm los.

Wochen vergehen. Javier bleibt verschwunden.

Was sein Schwager mit dem Jungen machte, erfährt Carlos nicht. Und er will es auch gar nicht wissen. Die beiden Männer reden nicht darüber.

Der Vorfall hat sie in der Tat verbunden, denn der Schwager scheint ihm jetzt mehr Vertrauen entgegenzubringen, bei Bedarf bittet er ihn um die eine oder andere Gefälligkeit, ob es um ein Darlehen geht, das er bald zurückzuzahlen verspricht, oder ob er ihn um die Kopie seines Wohnungsschlüssels bittet, er bräuchte da manchmal vormittags einen Ort, genauer möchte er darauf natürlich nicht eingehen, wegen der Familienbande, die ihre beiden Ehefrauen miteinander verbinden. Carlos weiß sich diesen Ansinnen nicht zu verweigern, und durch die zahlreichen Heimlichkeiten verstärkt sich das Band zwischen den beiden Männern immer mehr, und er erwartet, er weiß schon, dass die Bitten, die Ansinnen, die Forderungen weiter zunehmen werden, denn beide häufen sie Verbindlichkeiten an, du schuldest mir was, du mir auch, eine Rechnungsführung, von der Carlos nicht weiß, ob sie eines Tages ein Ende haben, ob unten auf der Seite irgendwann eine Null stehen wird. Wir alle haben unbezahlte Rechnungen, und jetzt ist es an ihm, die seine zu begleichen.

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Der Aufbau des Romans „Im Reich der Angst“ ist eigenwillig: In jedem zweiten Kapitel entwickelt Isaac Rosa die Handlung ein Stück weiter. Dazwischen lässt er die Hauptfigur Carlos über verschiedene Formen der Angst reflektieren.

In die „Zwischenkapitel“ hat Isaac Rosa seitenlange Zitate aufgenommen, etwa aus der Internet-Präsenz einer Organisation, die Selbstverteidigungskurse anbietet, aus Sicherheitshinweisen des spanischen Außenministeriums für Guatemala-Reisende und aus einer Zusammenstellung von Ratschlägen des spanischen Innenministeriums über das Verhalten auf der Straße, den Schutz von Minderjährigen und die Sicherung der Wohnung. Mit drei weiteren Zitaten zum Thema Sicherheit in der modernen Gesellschaft beendet Isaac Rosa seinen Roman „Im Reich der Angst“. Diese retardierenden Einschübe sind meines Erachtens zu lang, und einige davon wirken darüber hinaus so, als habe Isaac Rosa sie nur deshalb aufgenommen, um sein formales Konzept durchzuhalten.

Dennoch ist „Im Reich der Angst“ lesenswert, denn Isaac Rosa lässt uns intensiv miterleben, wie ein Vater (Carlos), der seinen zwölfjährigen Sohn (Pablo) vor einem gleichaltrigen Erpresser (Javier) beschützen will, selbst zum Opfer des Jugendlichen wird, weil er anfangs glaubt, sich mit ein paar Euro freikaufen zu können und es versäumt, Javier in die Schranken zu weisen. Der Junge nützt die Schwäche des Erwachsenen erbarmungslos aus und schraubt seine Forderungen von Stufe zu Stufe höher. Die Dynamik wird von Isaac Rosa differenziert und facettenreich dargestellt. Das wirkt sehr realistisch, um nicht zu sagen: authentisch. Als Leser versetzt man sich unwillkürlich in die Lage von Carlos. Auch die Handlungsweise von Pablo und Javier lässt sich leicht nachvollziehen. Pablos Mutter bleibt dagegen schemenhaft, und die Figur spielt in der zweiten Hälfte des Romans kaum noch eine Rolle.

Isaac Rosa beschreibt, statt in Szene zu setzen. Dialoge gibt er in indirekter Rede wieder. Damit verstößt er bewusst gegen wichtige Regeln, die auf Schreibseminaren gelehrt werden. Trotzdem können wir uns die beklemmenden Situationen sehr gut vorstellen, und die Handlung der brisanten psychologischen Studie zieht uns in ihren Bann.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Bruce Chatwin - Traumpfade
In 39 skizzenhaften und reportageartigen Episoden bzw. Kapiteln berichtet Bruce Chatwin von seinen Begegnungen mit Aborigines während einer mehrtätigen Reise in Australien. Sensibel und humorvoll beschreibt er die Charaktere und Verhaltensweisen einiger Aborigines.
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