Jud Süß. Film ohne Gewissen

Jud Süß. Film ohne Gewissen

Jud Süß. Film ohne Gewissen

Originaltitel: Jud Süß. Film ohne Gewissen – Regie: Oskar Roehler – Drehbuch: Michael W. Esser, Klaus Richter, Oskar Roehler, Franz Novotny, nach dem Buch "Ich war Jud Süß" von Friedrich Knilli – Kamera: Carl-Friedrich Koschnick – Schnitt: Bettina Böhler – Musik: Martin Todsharow – Darsteller: Tobias Moretti, Martina Gedeck, Moritz Bleibtreu, Justus von Dohnányi, Armin Rohde, Paula Kalenberg, Ralf Bauer, Robert Stadlober, Heribert Sasse, Martin Butzke, Milan Peschel, Erika Marozsán, Anna Unterberger, Gudrun Landgrebe, Martin Feifel, Rolf Zacher u.a. – 2010; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Nachdem einige Schauspieler die Hauptrolle in dem geplanten Propagandafilm "Jud Süß" abgelehnt haben, weil sie nicht auf die Verkörperung von Juden festgelegt werden möchten, bringt Joseph Goebbels den Österreicher Ferdinand Marian durch Schmeicheleien und Drohungen dazu, sie zu übernehmen. Nach der Premiere in Berlin bewirbt die Filmcrew den Film auf einer Tournee. In Posen erfährt Marian, dass seine Frau Anna in Berlin abgeholt wurde, weil sie eine jüdische Großmutter hat. Er verfällt zunehmend dem Alkohol ...
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Kritik

"Jud Süß. Film ohne Gewissen" ist eine zynische Groteske. Oskar Roehler konzentriert sich auf die tragische Hauptfigur Ferdinand Marian, und v. a. durch den Gegenspieler Joseph Goebbels veranschaulicht er das Perfide einer Diktatur.
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Joseph Goebbels (Moritz Bleibtreu) besucht Ende 1939 eine Probe des Shakespeare-Stücks „Othello“ am Deutschen Theater in Berlin. Dabei fällt ihm der österreichische Schauspieler Ferdinand Marian (Tobias Moretti) auf, der den Jago spielt. Der Reichspropagandaminister beschließt, dass Ferdinand Marian die Titelrolle in dem Kinofilm „Jud Süß“ zu spielen habe und gibt dem Regisseur Veit Harlan (Justus von Dohnányi) entsprechende Anweisungen.

Namhafte Schauspieler haben die Rolle abgelehnt. Ferdinand Marian sträubt sich ebenfalls dagegen, einen Juden zu spielen, weil er befürchtet, darauf auch im weiteren Verlauf seiner Karriere festgelegt zu werden. Ihm liegt es mehr, Frauenhelden und Schlawiner zu spielen.

Ferdinand Marian ist mit der früheren Schauspielerin Anna Altmann (Martina Gedeck) verheiratet, die von einer jüdischen Großmutter abstammt und dadurch als „Vierteljüdin“ gilt. Das Ehepaar bewohnt mit der kleinen Tochter Maria (Fanny Altenburger) einen Gutshof und hat in einem Nebengebäude den als Gärtner getarnten Kollegen Wilhelm Adolf Deutscher (Heribert Sasse) untergebracht, der sich vor den Nationalsozialisten verstecken muss, weil er Jude ist. Mit im Haus wohnt die Blondine Britta (Anna Unterberger), die als Dienstmädchen der Marians ihr Haushaltsjahr absolviert. Ferdinand Marian treibt es heimlich mit ihr, so wie mit anderen Frauen auch, und Anna ahnt zumindest etwas von den Affären.

Britta ist mit dem SA-Mann Lutz (Robert Stadlober) liiert. Nachdem sie ihm von dem versteckten Juden berichtet hat, wird Wilhelm Adolf Deutscher abgeholt.

Joseph Goebbels redet persönlich mit Ferdinand Marian, um ihn für die Rolle des „Jud Süß“ zu gewinnen. Anfangs umschmeichelt er die Eitelkeit des Schauspielers, aber als der Erfolg ausbleibt, schreit er ihn an und stellt ihn vor die Wahl: entweder eine glänzende Karriere oder die berufliche Vernichtung. Wütend wirft Ferdinand Marian einen Aschenbecher auf den Boden und stürmt aus dem Raum. Aber das imponiert dem Minister, der seinen Zorn ohnehin nur theatralisch gemimt hat und stolz auf seine schauspielerischen Fähigkeiten ist.

Schließlich gibt Ferdinand Marian dem Druck nach und erliegt der Versuchung. Goebbels lädt ihn und Anna zu einem großen Fest ein, bei dem er ihn seiner Frau Magda (Lena Reichmuth) und prominenten Gästen als den Hauptdarsteller des Großprojekts „Jud Süß“ vorstellt. Hans Moser (Johannes Silberschneider) nutzt die Gelegenheit und bittet den Minister, seine nach Ungarn emigrierte jüdische Ehefrau Blanca Hirschler wieder einreisen zu lassen. Joseph Goebbels macht sich lustig über den populären österreichischen Schauspieler und vertröstet ihn lachend auf die Zeit nach dem Endsieg.

Bei den Proben weigert Ferdinand Marian sich, die Anweisungen des Regisseurs zu befolgen. Während Veit Harlan die Figur des Juden so abstoßend wie möglich anlegen möchte, versucht Ferdinand Marian, ihr auch sympathische Züge zu geben und Mitgefühl zu erzeugen. Während einer Probe taucht Goebbels auf und bekommt etwas von dem Streit mit. Ihm gefällt Marians Vorstellung. Er will den „Jud Süß“ nicht als Monster, denn er strebt keine platte Propaganda an, sondern einen mitreißenden Unterhaltungsfilm, in dem der Hass gegen Juden unterschwellig geschürt wird.

Die Uraufführung von „Jud Süß“ erfolgt am 5. September 1940 im Rahmen der Filmfestspiele in Venedig. Dort bietet der begeisterte italienische Filmproduzent Donadoni (Alexander Strobele) dem Ehepaar Marian an, es über Casablanca nach New York zu bringen. Aber Ferdinand Marian genießt es, umjubelt zu werden und will sich die Premiere am 24. September im Ufa-Palast am Zoo in Berlin nicht entgehen lassen. Sie findet in Anwesenheit von Joseph Goebbels und anderer Reichsminister statt.

Bei der Premierenfeier macht Joseph Goebbels den Schauspieler mit der Ehefrau (Gudrun Landgrebe) des SS-Hauptsturmführers Eberhard Frowein (Waldemar Kobus) bekannt und beobachtet dann die beiden. Frau Frowein erkundigt sich erregt, wie Ferdinand Marian sich in der Rolle des Juden gefühlt und ob er in der Hinrichtungsszene eine Erektion gehabt habe. Während die anderen Gäste zum Schutzraum aufbrechen, weil die Sirenen einen Luftangriff ankündigen, folgt Ferdinand Marian der geilen Frau auf dem Weg zum Dachboden, und während draußen die Bomben fallen, bringt sie den Schauspieler dazu, mit ihr am offenen Fenster die Vergewaltigungsszene aus dem Film nachzuspielen.

Um „Jud Süß“ zu promoten, organisiert das Propagandaministerium eine Tournee der Filmcrew. Joseph Goebbels sitzt in Posen mit seiner Frau und einigen Gästen bei einer privaten Vorführung des kleinen Films, den Heinz Rühmann mit den Goebbels-Kindern als Geburtstagsgeschenk für den Minister drehte. Da platzt Ferdinand Marian herein, der soeben durch einen Telefonanruf erfuhr, dass man Anna in Berlin abgeholt habe und nun wissen möchte, was das bedeutet. Aber Goebbels lässt ihn kurzerhand hinauswerfen.

Marian eilt nach Berlin. Vor seinem Haus steht eine Wache. Seine Frau habe man in Schutzhaft genommen und die Tochter sei bei Nachbarn untergebracht, heißt es. Der verzweifelte Schauspieler erhält den Befehl, unverzüglich zur Filmcrew zurückzukehren, wenn er nicht als Deserteur festgenommen werden wolle.

Immer stärker verfällt Ferdinand Marian dem Alkohol.

Im Sommer 1946 besucht er mit der Tschechin Vlasta (Erika Marozsán), die inzwischen seine Lebensgefährtin geworden ist, ein Volksfest am neuen Wohnort Freising. Dort trifft Ferdinand Marian unerwartet auf Wilhelm Adolf Deutscher und andere KZ-Häftlinge, die den Holocaust überlebt haben. Deutscher, der überzeugt ist, dass Marian ihn damals denunziert habe, klärt ihn über Annas Tod im Konzen­trations­lager auf, wirft ihm ein Medaillon zu, das Marian ihr geschenkt hatte und lässt ihn von seinen Begleitern zusammenschlagen, bis ein mit Vlasta flirtender amerikanischer Offizier eingreift.

Kurz darauf ertappt Ferdinand Marian seine Geliebte mit dem Amerikaner in flagranti. Obwohl er stark betrunken ist, geht er zu seinem Auto. Während der Fahrt betrachtet er ein Familienfoto aus glücklicheren Tagen. Dann lenkt er den Wagen gegen einen Baum.

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Oskar Roehler zeigt in seinem Kinofilm „Jud Süß. Film ohne Gewissen“, wie der antisemitische Propagandafilm „Jud Süß“ 1940 entstand. Dabei konzentriert er sich auf den Hauptdarsteller Ferdinand Marian, den Joseph Goebbels mit Schmeicheleien, Drohungen, Einschüchterungen und weiteren Manipulationen dazu bringt, die Rolle anzunehmen. Ferdinand Marian, der am liebsten Frauenhelden und Schlawiner spielt, geht es dabei weniger um ethische Bedenken als um sein Image: Er möchte nicht als Judendarsteller in eine Schublade gesteckt werden. Am Ende erliegt er dennoch der Verführung und genießt Erfolg, Jubel und Anerkennung.

„Jud Süß. Film ohne Gewissen“ ist weder Biopic noch historische Dokumentation. Oskar Roehler verbindet nicht nur Fakten und Fiktion, sondern weicht darüber hinaus von den Tatsachen ab. Im „wahren Leben“ war Ferdinand Marian mit der Schauspielerin Maria Byk (bürgerlich: Annemarie Albertine Böck bzw. Haschkowetz) verheiratet, die zwar aus ihrer ersten Ehe eine „halbjüdische“ Tochter hatte, aber selbst nicht von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammte. Maria Byk kam denn auch nicht in einem Konzentrationslager ums Leben, sondern starb 1949 im Alter von 45 Jahren. Ihr zweiter Ehemann war drei Jahre zuvor mit seinem Auto gegen einen Baum geprallt. Im Film handelt es sich dabei zweifellos um einen Selbstmord, aber in der Realität konnte nicht geklärt werden, ob Ferdinand Marian die Kontrolle über seinen Wagen verloren oder ihn absichtlich gegen den Baum gelenkt hatte.

Der Film „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ basiert auf der Biografie „Ich war Jud Süß. Die Geschichte des Filmstars Ferdinand Marian“ von Friedrich Knilli (Vorwort: Alphons Silbermann, Henschel Verlag, Berlin 2000, 2007 Seiten, ISBN 3-89487-340-X), aber der Medienwissenschaftler distanzierte sich von Oskar Roehlers Werk und warf ihm Legendenbildung vor.

Man kann „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ als zynische Groteske sehen, nicht zuletzt, weil die Figur Joseph Goebbels überzeichnet ist. Moritz Bleibtreu spielt diesen perfiden Machthaber, Manipulator und Verführer als teuflischen Charakter, von dem auch dann eine spürbare Bedrohung ausgeht, wenn er Ferdinand Marian jovial anstupst und sich gut gelaunt gibt. Mehrmals, wenn er sich unbeobachtet fühlt oder glaubt, es diene seinen Zwecken, verzerrt sich sein Gesicht zur Fratze. Auch seine Schadenfreude blitzt immer wieder auf. Die meisten Kritiker monieren, dass Moritz Bleibtreu die zeitgeschichtliche Person zwar sorgfältig studiert habe und perfekt imitiere, aber lächerlich wirke. Das stimmt wohl. Aber es gilt auch für die von Charlie Chaplin erdachte Hitler-Figur in „Der große Diktator“. Und ist das nicht gerade die Absicht? Sowohl bei Hitler als auch bei Goebbels kommt noch hinzu, dass sie ihre theatralischen Gesten wie Schauspieler einstudierten. Es passt schon, wenn Goebbels in „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ stolz auf seine schauspielerischen Fähigkeiten ist. Wie Moritz Bleibtreu diesen sardonischen Goebbels verkörpert, halte ich für treffsicher und schauspielerisch großartig. (Oskar Roehler soll gegen den Rat der Produzenten auf Moritz Bleibtreu als Besetzung der Figur Joseph Goebbels bestanden haben.)

Diesem ebenso lächerlichen wie gefährlichen Mann stellt Oskar Roehler eine tragische Figur gegenüber: den von Tobias Moretti gespielten Schauspieler Ferdinand Marian, einen Schlawiner, der seine Ehefrau liebt, sich aber keine Gelegenheit zu einem sexuellen Abenteuer entgehen lässt. Für Politik interessiert er sich nicht; er ist eitel, impulsiv, charakterschwach und nicht besonders klug. Tobias Moretti zieht alle Register, um Ferdinand Marians Wandlung vom Frauenschwarm zum menschlichen Wrack facettenreich und überzeugend darzustellen.

Zum Dreh- und Angelpunkt von „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ hat Oskar Roehler eine Sexszene in Veit Harlans Film „Jud Süß“ gemacht, die er zweimal aufgreift und variiert. Im Propagandafilm vergewaltigt der von Ferdinand Marian verkörperte Joseph Süß Oppenheimer die am offenen Fenster stehende Dorothea Sturm. Später bringt die erregte Ehefrau des SS-Hauptsturmführers Eberhard Frowein den Schauspieler dazu, die Szene mit ihr während eines Luftangriffs nachzuspielen. Und bei einer anderen Gelegenheit beginnt Ferdinand Marian einen Geschlechtsverkehr mit Vlasta aus einer ähnlichen Position.

Nicht alle Einzelheiten in „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ überzeugen, manches wirkt aufgesetzt wie die Szene mit einer bei Bauarbeiten eingesetzten jüdischen Gefangenen in Auschwitz, aber Oskar Roehler ist es gelungen, das Perfide einer Diktatur zu veranschaulichen, und zwar nicht mit einem Lehrstück, sondern mit einem ebenso mitreißenden wie beklemmenden Kinofilm.

Weitere Filmfiguren und deren Vorbilder: Ralf Bauer spielt den späteren Reichsfilmintendanten Fritz Hippler (1909 – 2002). Martin Feifel verkörpert Erich Knauf (1895 – 1944), einen Journalisten und Schriftsteller, der nach seiner wochenlangen Inhaftierung in den Konzentrationslagern Oranienburg und Lichtenburg aufgrund eines Berufsverbots in der Werbebranche arbeitete und Pressechef der Filmproduktionsgesellschaft Terra Film wurde. Die schwedische Filmschauspielerin Kristina Söderbaum (1912 – 2001) war ab 1939 mit dem Regisseur Veit Harlan verheiratet. Paula Kalenberg stellt sie in „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ dar. Milan Peschel, Rolf Zacher, Armin Rohde und Martin Butzke verkörpern die Schauspieler Werner Krauß (1884 – 1959), Erich Engel (1891 – 1966), Heinrich George (1893 – 1946) und Malte Jaeger (1911 – 1991).

Gedreht wurde „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ im Sommer 2009 in Hürth, München, Venedig und Wien.

Mehrere Szenen aus dem schwarz-weißen Propagandafilm „Jud Süß“ sind in „Jud Süß. Film ohne Gewissen“ zu sehen. Einige stammen aus dem Original, andere wurden nachgedreht.

Die Uraufführung fand am 18. Februar 2010 im Rahmen der 60. Berlinale statt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016

Veit Harlan: Jud Süß
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