Sven Regener : Wiener Straße

Wiener Straße
Wiener Straße Originalausgabe: Verlag Galiani, Berlin 2017 ISBN: 978-3-86971-136-2, 297 Seiten ISBN: 978-3-462-31749-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erwin Kächele betreibt das Café Einfall in der Wiener Straße in Kreuzberg. Als seine Frau Helga schwanger wird, duldet er die vier Mitbewohner nicht länger: seine Nichte Chrissie und den Arbeitslosen FrankLehmann, die Künstler Heinz Rüdiger ("H. R.") Ledigt und Karl Schmidt. Er bringt sie in der Wohnung über dem Café unter. Chrissie weigert sich zwar, im Café zu putzen, obwohl sie von dem Geld die Miete bezahlen könnte, aber sie regt an, schon am Vormittag zu öffnen und rechnet damit, mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen viel Geld zu verdienen ...
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Kritik

Die Episoden von "Wiener Straße" spielen in Berlin-Kreuzberg, und zwar 1980, als die Kunstszene dort von Individualisten geprägt wurde, die nicht von einer Akademie kamen und sich mit Aushilfsjobs durchschlugen. Sven Regener versteht es, die Figuren in schnoddrigen Dialogen lebendig zu machen.
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Café Einfall

Berlin, November 1980. Erwin Kächele betreibt das Café Einfall in der Wiener Straße im Stadtteil Kreuzberg. Als seine Frau Helga schwanger wird, duldet er die vier Mitbewohner nicht länger: seine Nichte Chrissie und den Arbeitslosen Frank Lehmann, die Künstler Heinz Rüdiger („H. R.“) Ledigt und Karl Schmidt. Er übernimmt für die drei Männer und die junge Frau die Wohnung über dem Café, organisiert den Umzug und lässt keinen Zweifel daran, dass er auch Miet­zah­lun­gen erwartet. Chrissie könnte die monatlichen Beträge aufbringen, wenn sie das Angebot ihres Onkels, im Café zu putzen. annehmen würde. Aber ein Putzjob kommt für sie nicht in Frage. Den übernimmt stattdessen Frank Lehmann. Die Wohngemeinschaft besorgt Raufasertapeten, um die matt schwarz gestrichenen Wände und Decken der Räume zu überkleben. Die Arbeit wird von dem Nachbarn Marko unentgeltlich übernommen. Eigentlich schlägt er sich mit Taxifahren durch, aber er tapeziert lieber.

Chrissie weigert sich zwar, im Café ihres Onkels zu putzen, überredet ihn aber, nicht erst um 18 Uhr, sondern schon vormittags zu öffnen, denn sie rechnet damit, mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen viel Geld zu verdienen. Der Kuchen, den sie backt, ist allerdings zusammengefallen und angebrannt, als sie ihn aus dem Rohr holt. H. R. hält Chrissie davon ab, ihn wegzuwerfen, erklärt ihn zum Kunstwerk und stellt dieses in die Vitrine des Cafés Einfall, zusammen mit einem Schild „Deutscher Kuchen, verbrannt, Stück 2 Mark“.

Im Café faucht Chrissie zwar die Gäste an, statt sie zu bedienen, aber als eine japanische Touristengruppe den ausgestellten Kuchen entdeckt, verkauft sie die 12 Stücke für 24 DM – obwohl H. R. gegen die Zerstörung des Exponats protestiert.

Chrissies Mutter Katrin reist mit dem Zug aus Schwaben an, und weil ihr Pass am 14. Oktober abgelaufen ist, muss sie am Grenzbahnhof Griebnitzsee 10 DM für eine Identitätsbescheinigung zahlen. In Berlin will sie nach ihrer Tochter sehen und ihrer schwangeren Schwägerin beistehen.

Nur zu gern überlässt Chrissie ihr die Arbeit im Café Einfall und das Backen der Apfelkuchen. Katrin versteht es, das Geschäft in Schwung zu bringen.

Kunsthaus Artschlag

H. R. und Karl Schmidt wollen sich an einer geplanten, kommunal geförderten Ausstellung im Kunsthaus Artschlag mit dem Titel „Haut der Stadt“ beteiligen.

Karl Schmidt platziert deshalb Gegenstände in ein paar Kisten und vernagelt sie. Die potenziellen Käufer werden nichts über den Inhalt erfahren, und wenn sie die Kisten öffnen, zerstören sie die Kunstwerke. Das ist so ähnlich wie bei Schrödingers Katze.

Weil H. R. für sein Kunstprojekt eine Säge benötigt, sucht er einen Baumarkt auf. Bei den Grabgabeln wird er von einem Mitarbeiter angesprochen:

„Kann ick helfen oder wollnse bloß mal allet anfassen?“
[…]
„Ich brauche eine Kettensäge“, sagte er.
„Dit ist keene Kettensäge, dit ist ’ne Grabgabel, sa’ick ma! […]
Kettensägen sind zwei Regale weiter“, sagte der Baumarkt-Mann unsicher und ins Normaldeutsche wechselnd. „Da sind die Kettensägen, die stehen zwei Regale weiter.“
„Ja, wenn Sie dann so nett wären und mir eine herüberbringen würden“, sagte H. R. […]
„Wattn ditte? Spinnick? Bin ich hier die gute Fee oder was? […] Binnick hier die Wohlfahrt? Hol ich hier die Kettensäjen oder wat?“
H. R. hob die Gabel und richtete sie auf den Mann. „ICH DACHTE, SIE WOLLTEN HELFEN!! DAS HABEN SIE DOCH GESAGT: KANNICK HELFEN! […] DA HAT MAN EINMAL EINE BITTE, UND WAS PASSIERT? GAR NICHTS! WENIGER ALS GAR NICHTS! DUMME SPRÜCHE UND DAS WAR’S DANN! […]“
„40, 53 oder 62 Kubik?“
„Was Kubik?“
„Kubikzentimeter. Hubraum. Von der Kettensäge. Das muss ich wissen, dann bring ich eine: 40, 53 oder 62?“
„Bringen Sie ruhig alle drei“, sagte H. R., der sich wieder beruhigte. „Ich such mir dann eine aus!“

Im Vorfeld der Kunstausstellung stellen sich P. Immel (eigentlich: Peter von Immel), der Chef der ArschArt-Galerie, und sein Freund Kacki (eigentlich: Karsten) für Fernsehaufnahmen zur Verfügung und täuschen dem Kulturredakteur André Prohaska mit verbarrikadierten Türen und als Punks verkleideten Bekannten eine Hausbesetzung vor, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem gibt P. Immel die von ihm übernommenen Räume neben dem Café Einfall, die früher zu einem Intimfrisur-Salon gehörten, als „legalen Arm“ der ArschArt aus. Dort sollen Kunstaktionen und Ausstellungen stattfinden. Weil die Künstler auch Getränke anbieten, ist Erwin entsetzt über die Konkurrenz.

Wiemer, der Kurator der Ausstellung „Haut der Stadt“, studierte Sozialpädagogik und war Punkmusiker. Inzwischen wird er von der Kommune als Sozialarbeiter bezahlt. Wenige Stunden vor der Vernissage im Kunsthaus Artschlag wendet Wiemer sich an Erwin Kächele und bittet ihn, am Abend die Gastronomie zu übernehmen. Das Geschäft will sich Erwin nicht entgehen lassen, obwohl er an diesem Tag einen Schwangerschaftssimulator trägt, einen mit Wasser gefüllten, auf dem Bauch geschnallten Sack. Er fährt mit Frank Lehmann, der den Weinausschank übernehmen soll, zum Getränkegroßhandel und besorgt ein paar Kartons Chateau Strunzinger, Languedoc, weiß und rot. Dass die Flaschen Schraubverschlüsse statt Korken haben, wird den Gästen hoffentlich nicht auffallen. Der Weißwein wird in eine Wanne mit Wasser und Eiswürfeln gelegt, aber bis zur Vernissage bleibt nicht genügend Zeit, um ihn auf die richtige Temperatur zu bringen.

H. R. fällt für sein Kunstwerk „Mein Freund der Baum“ eine Linde am Straßenrand und transportiert sie ins Kunsthaus Artschlag.

Bei der Vernissage stellt Kacki zu Mariachi-Musik vom Band ein lebendes Bild dar: „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“. Aber die Show wird ihm von dem Kontaktbereichsbeamter gestohlen, der nach dem fehlenden Alleebaum sucht und dafür sorgt, dass H. R. in Handschellen abgeführt wird.

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Die Figuren in „Wiener Straße“ kennen wir aus Sven Regeners Herr-Lehmann-Trilogie („Herr Lehmann“, „Neue Vahr Süd“, „Der kleine Bruder“) und dem Roman „Magical Mystery Tour oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“, aber man braucht die anderen Bücher nicht gelesen zu haben, um „Wiener Straße“ zu verstehen.

Die Handlung spielt mit einer Ausnahme (Katrins Anreise) in Berlin-Kreuzberg, und zwar 1980, als die Kunstszene in diesem Stadtteil von Individualisten geprägt wurde, die nicht von einer Akademie kamen und sich mit Aushilfsjobs durchschlugen, weil sie für ihre Bilder und Aktionen kaum etwas bekamen.

Der zuständige Kontaktbereichsbeamte rät zwar Erwin Kächele, die Teelöffel in seinem Café anzubohren, damit sie nicht von Junkies auf dem Klo verwendet werden können, aber der Drogenhandel ist 1980 noch kein großes Thema in Berlin.

Sven Regener entwickelt in „Wiener Straße“ nur eine rudimentäre Handlung. Eigentlich reiht er Episoden aneinander. Aber er versteht es, die Figuren in schnoddrigen Dialogen lebendig zu machen. Für Unterhaltung sorgt auch zum Beispiel ein Running Gag: Immer wieder reißt ein Passant die Tür des Cafés Einfall auf und fragt, ob schon geöffnet sei. Das bringt Chrissie auf die Idee, schon am Vormittag zu öffnen – aber daraufhin bleiben die Gäste erst einmal aus.

„Wiener Straße“ schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises.

Den Roman „Wiener Straße“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sven Regener (ISBN 978-3-86484-449-2).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Verlag Galiani / Kiepenheuer & Witsch

Sven Regener: Herr Lehmann (Verfilmung)
Sven Regener: Neue Vahr Süd (Verfilmung)
Sven Regener: Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt
Sven Regener: Glitterschnitter

Hape Kerkeling - Ich bin dann mal weg
"Ich bin dann mal weg" ist eine Mischung aus Tagebuch und Reisebericht. Hape Kerkeling schreibt humorvoll und unterhaltsam, selbstironisch, mitunter nachdenklich, erwähnt auch Zweifel, psychische und physische Schwierigkeiten. Die gewonnenen Einsichten sind allerdings nicht besonders tiefschürfend.
Ich bin dann mal weg