Sergio Pitol : Eheleben

Eheleben
Originalausgabe: La vida conyugal Anagrama, Barcelona 1991 Eheleben Übersetzung: Petra Strien Nachwort: Antonio Tabucchi Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002 Wagenbach Taschenbuch, Berlin 2005 ISBN 3-8031-2513-8, 139 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine frustrierte Mexikanerin verzeiht ihrem Ehemann zeitlebens nicht, dass er sie von Anfang an mit anderen Frauen betrog und beruflich scheiterte, wodurch sie um ihren Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg gebracht wurde. Jeden ihrer eigenen Liebhaber stiftete sie dazu an, ihren Mann zu ermorden, aber die Anschläge gingen alle schief ...
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Kritik

Tragik und Komik, Ernst und Banalität liegen in der schwarzen Komödie "Eheleben" nahe beieinander.
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Jacqueline Cascorro, von der diese Geschichte handelt, hatte einen guten Teil ihres Lebens nichts anderes als den üblichen Ehealltag kennen gelernt. Aufregung, Streit, Seitensprünge, Krisen und Versöhnungen. All das änderte sich in einem Moment, in dem sie gerade ein Krabbenbein knackte und hinter ihrem Rücken einen Sektkorken knallen hörte. Da verfiel sie plötzlich auf einen Gedanken, der sie von nun an immer wieder heimsuchen sollte; und so entwickelte sich Jacqueline zu einer Frau mit sehr üblen Ideen. (Seite 5)

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman „Eheleben“ von Sergio Pitol.

Jacqueline hieß eigentlich María Magdalena, und ihren Nachnamen Cascorro versah sie gern mit einem Accent aigu: Cascarró. Ihr inzwischen verstorbener Vater war ein unbedeutender Angestellter im mexikanischen Erziehungsministerium, und ihre Mutter führte eine armselige Zahnarztpraxis. Jacqueline hatte zwei Schwestern (María Dorotea, María del Carmen) und zwei Brüder (Marcelo, Adrián). Während des Studiums lernte sie den ein Jahr jüngeren Kommilitonen Nicolás Lobato kennen. Als sie etwa ein Jahr zusammen gingen, erkrankte sein Vater und trug ihm auf, die Eisenwarenhandlung der Familie im Zentrum von Mexiko-Stadt weiterzuführen. Das war für Nicolás ein willkommener Anlass, sein Politikwissenschafts-Studium abzubrechen. Als sein Vater starb, verkaufte Nicolás die Eisenwarenhandlung, stieg ins Hotelgeschäft ein und erwarb auch noch ein Reisebüro.

Alles lief gut, bis sie plötzlich, während sie ein Krabbenbein knackte und hörte, wie hinter ihr eine Sektflasche entkorkt wurdem, auf einen schlimmen Gedanken verfiel […] Und dieser Gedanke sollte sie den Rest ihres Lebens in regelmäßigen Abständen ereilen und sie endgültig in eine Frau mit üblen, nein, mit den allerübelsten Ideen verwandeln. (Seite 25)

Das bereits zweimal erwähnte Ereignis geschah am 23. April 1960 bei der Feier ihres siebten Hochzeitstages.

Von Anfang ihrer Ehe an wurde Jacqueline durch Nicolás‘ lesbische, betont maskulin gekleidete Sekretärin Alicia Villalba über seine amourösen Affären auf dem Laufenden gehalten. Sie selbst war an ihrem siebten Hochzeitstag seit zehn Monaten die Geliebte ihres knapp vier Jahre jüngeren Cousins Gaspar Rivero.

Wäre Jacqueline nach ihrem ersten Seitensprung gefragt worden, hätte sie wohl „Gaspar Rivero“ gesagt. Aber der Autor weiß es besser: Davor hatte es bereits einen Ingenieur aus Guanajuato gegeben. Der war nach einer Party bei Jacquelines Freundin Márgara Armengol von der Gastgeberin gebeten worden, Jacqueline nach Hause zu begleiten, aber er hatte sie stattdessen in die Wohnung eines Freundes mitgenommen. Danach hatten sie noch zweimal eine Nacht zusammen verbracht.

Gaspar tauchte eines Tages als Begleiter ihres Bruders Adrián bei ihr auf. Der Cousin hatte den Besuch der Hotelfachschule vorzeitig abgebrochen und in den letzten Jahren in verschiedenen Hotels in Veracruz gearbeitet. Jacqueline überredete Nicolás, Gaspar einzustellen. Bald darauf folgte sie ihm unaufgefordert in sein Zimmer im Hotel und entkleidete sich. Gaspar hatte Familie: Ein Bild seiner Frau Rosario und seiner Tochter stand auf dem Kaminsims. Während er dann duschte, durchsuchte Jacqueline seine Taschen, stieß auf ein dickes Geldbündel und das Foto einer jungen Frau, die wohl seine Geliebte war.

Nun gut, damit die Geschichte endlich Gestalt annimmt, muss man mit diesem Moment beginnen, der von einem knackenden Krabbenbein und einem knallenden Sektkorken begleitet war. Der entscheidende Wendepunkt im Schicksal unserer lieben Jacqueline! (Seite 42f)

An ihrem siebten Hochzeitstag kam Jacqueline auf die Idee, ihren Mann umzubringen und überredete Gaspar, dabei mitzumachen. Von diesem Augenblick an verspürte sie unbändige Lust, mit Nicolás zu schlafen und er wunderte sich über ihre sexuelle Gier.

Als sie nach der Pistole ihres Mannes suchte, fand sie in der Schublade einen Umschlag mit Fotos: Nicolás, Gaspar und ein ihr unbekannter Mann, jeder von ihnen mit einer Geliebten im Arm. Plötzlich wurde Jacqueline argwöhnisch: Wollte Gaspar bei dem geplanten Mordanschlag nur mitmachen, um sie heiraten, ebenfalls umbringen und danach das geerbte Vermögen mit diesem Flittchen verprassen zu können?

Impulsiv griff sie zur Pistole. Ein schrecklicher Schrei entfuhr ihrer Kehle und dann noch einer und noch einer. Sie wollte ins Wohnzimmer stürmen, doch in ihrer Verwirrung nahm sie die falsche Tür und befand sich plötzlich im Garten, völlig im Dunkeln. Da gab sie den ersten Schuss in die Luft ab. Sie schrie, heulte, spürte ihr tränenüberströmtes Gesicht und wollte sterben, doch zuvor wollte sie es sich nicht nehmen lassen, den tückischen Geliebten zu töten. Wie eine Schwachsinnige war sie in seine Fänge geraten! (Seite 49f)

In einem Krankenhaus kam sie nach dem Nervenzusammenbruch wieder zu sich. Gaspar verschwand aus ihrem Leben.

Márgara Armengol verwandelte ihr Haus in Coyoacán schließlich in eine „Akademie“, in einen „Tempel der Gelehrsamkeit“ mit einer von Julián Barreda geleiteten Werkstatt für kreatives Schreiben, einer kunstgeschichtlichen Abteilung unter Gianni Ferraris und mit Exkursionen in die mexikanische Vergangenheit, die von Marina Villalobos durchgeführt wurden. Jacqueline, die sich auch schon an den von ihrer Freundin arrangierten kunst- und kulturbeflissenen Zirkeln beteiligt hatte, schrieb sich bei Julián Barreda und Gianni Ferraris ein.

Im dritten Jahr nahm sie an einer Exkursion von Marina Villalobos nach Yucatán teil. Als sie eine Pause dazu nutzte, in einem Straßencafé Ansichtskarten zu schreiben, wurde sie von einem Fremden angesprochen. Er hieß David Carranza, war eitel und träumte von einer politischen Karriere. In der Nacht wurde er Jacquelines Geliebter, und sie setzten ihr Verhältnis auch nach der Exkursion in Mexiko-Stadt fort.

Als ein intriganter Konkurrent erreichte, dass David bei seinem Förderer in Ungnade fiel, schwärmte Jacqueline von dem Vermögen ihres Mannes, mit dem David sich eine eigene, für seine politische Karriere nützliche Zeitung hätte kaufen können. Er zögerte nicht, auf ihren Mordplan einzugehen. Erneut erlebte Jacqueline von da an im Bett mit ihrem Mann einen erotischen Rausch.

Am vereinbarten Tag mischte sie Nicolás drei starke Valium-Tabletten ins Essen, las in dem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ von Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos, bis er eingeschlafen war, stand dann auf und sperrte die Haus- und die Gartentür für David auf. Eigentlich sollte sie ihm ein Zeichen geben, wann er gefahrlos heraufkommen konnte, aber sie schlief selbst ein und wachte erst auf, als ihr Mann mit einer Pistole herumschlich. Er bedeutete ihr, ruhig zu sein, er habe einen Einbrecher gehört. Um David zu warnen, fing Jacqueline laut zu schreien an. Im Dunkeln klammerte sie sich an ein Bein ihres Mannes. Ein Schuss. Jacqueline verspürte einen heftigen Schmerz und verlor das Bewusstsein.

In einem Krankenbett kam sie wieder zu sich. Den Daumen und den Zeigefinger der linken Hand hatte man ihr aufgrund der Schussverletzung amputieren müssen. Nicolás bewunderte die Tapferkeit, mit der sie auf den Einbrecher losgegangen war, den sie – wie er annahm – allerdings mit ihm verwechselt hatte.

Nie wieder hörte Jacqueline etwas von David. Offenbar gab es da keine politische Karriere.

Vier Jahre später, im Mai 1968, war nachts in dem von Nicolás für ein paar Wochen gemieteten Ferienhaus bei Pie de la Cuesta ein Schuss zu hören. Gegenüber dem Hausmädchen Elena tat Jacqueline so, als sei sie überrascht und erschrocken. Dabei hatte sie ihren Liebhaber Adolfo, einen Schauspieler, selbst dazu angestiftet, Nicolás zu erschießen. Sie fand ihren Mann ausgestreckt am Boden neben dem Swimmingpool. Verwundert und offenbar unverletzt erhob er sich. Jacqueline umarmte ihn. Da traf sie der zweite Schuss ihres Liebhabers in die rechte Schulter.

Nach der Operation kam sie in einem Krankenhaus in Acapulco wieder zu sich.

Am 15. April 1974 feierte Jacqueline ihren 45. Geburtstag. Unerwartet tauchte der Kunsthistoriker Gianni Ferraris wieder auf, den sie jahrelang nicht gesehen hatte. Inzwischen wurde er von Angstzuständen gequält und war mit den Nerven am Ende. Ohne darüber nachzudenken, schliefen er und Jacqueline miteinander. Sie flüsterte ihm ein, dass er sich mit dem Geld ihres Mannes bessere Ärzte, teure Kunstbildbände und Bildungsreisen leisten könne. Angeregt durch die Mordabsicht gab Jacqueline sich ihrem Mann wieder mit neuer Leidenschaft hin. Schließlich planten sie und Gianni, Nicolás mit Schlaftabletten zu betäuben und ihn in seinem Auto von der alten Landstraße nach Cuernavaca in eine Schlucht zu stoßen.

Unmittelbar vor dem geplanten Mord drang ein Polizeikommando ins Haus ein, fragte nach Nicolás, durchwühlte die Schubladen und beantwortete keine von Jacquelines Fragen. Erst nach einiger Zeit fand sie heraus, dass ihr Mann wegen betrügerischen Bankrotts gesucht wurde. Als Gerüchte darüber auftauchten, Jacqueline und ihr Liebhaber Gianni hätten Nicolás umgebracht, wurden sie verhaftet. Zum Glück schaltete Nicolás‘ bisherige Sekretärin Alicia Villalba, die als Geschäftsführerin eines französischen Restaurants eine neue Stelle gefunden hatte, den Rechtsanwalt Marcelino Paredes ein, und der fand nach einigen Monaten Beweise, dass der Gesuchte in Madrid lebte, also gar nicht ermordet worden war. Daraufhin wurden Gianni und Jacqueline aus der Haft entlassen.

Aber der gesellschaftliche Absturz durch den Ruin ihres Mannes war nicht aufzuhalten: Jacqueline konnte sich nur noch ein billiges, möbliertes Apartment leisten und begann in der Esoterik-Buchhandlung von Mario und Manuel Requena Geld zu verdienen.

Nach ihrem sechzigsten Geburtstag erfuhr sie von Alicia, dass Nicolás wieder in Mexiko sei. Jacqueline fand die Adresse heraus und fuhr zu seinem Eisenwarenladen in Veracruz. Nicolás lud sie zum Essen in ein Restaurant ein. Da hörte sie am Nebentisch Brasilianer.

Die kühnsten Visionen begannen sie zu erregen bis zur Schmerzgrenze. Sie begann unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Dann blickte sie wieder auf ihren Mann und entdeckte einen verzagten Alten, ohne Sinn für ihre Wünsche und Bedürfnisse, einen, der mit dümmlichem Grinsen versuchte, wie ein Junge zu wirken; und sie überlegte, ihre größere Dummheit sei gewesen, sich nicht einen oder mehrere Liebhaber gesucht zu haben, als sie, jahrelang in Cuernavaca gefangen, auf ein Lebenszeichen dieses armen Einfaltspinsels wartete. Voller Groll sagte sie sich, wenn einer auf dieser Welt ein Riesendummkopf war, dann Jacqueline Cascarró, weil sie die ganze Zeit auf diesen Nichtsnutz gewartet hatte, der einmal die Dreistigkeit besessen hatte, sich für einen Rothschild zu halten. (Seite 127)

Monate später suchten Nicolás und Jacqueline wieder ein Restaurant auf. Er schob sie im Rollstuhl.

Sie reagierte kaum auf die Worte ihres Mannes und beschränkte sich darauf, von Zeit zu Zeit verächtlich mit den Achseln zu zucken oder mit schwerfälligen Kopfbewegungen etwas zu verneinen. Die beiden feierten wieder einmal ihren Hochzeitstag. (Seite 129)

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„Eheleben“ lautet der lapidare Titel eines Romans von Sergio Pitol über eine frustrierte Mexikanerin, die ihrem Ehemann zeitlebens nicht verzieh, dass er sie von Anfang an mit anderen Frauen betrog und beruflich scheiterte, wodurch sie um ihren Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg gebracht wurde. Jeden ihrer eigenen Liebhaber stiftete sie dazu an, ihren Mann zu ermorden, aber die Anschläge gingen alle schief und endeten mit Krankenhauseinlieferungen der Ehefrau. Die verhinderte Mörderin war nicht wirklich eine femme fatale, sondern eher eine tragikomische Parodie darauf, und der Roman kann als Satire auf das mexikanische Bürgertum gelesen werden. Tragik und Komik, Ernst und Banalität liegen in der schwarzen Komödie „Eheleben“ nahe beieinander.

Sergio Pitol wurde 1933 in Mexiko Stadt geboren. Neben seiner Karriere als Diplomat übersetzte er Jane Austen, Giorgio Bassani, Kazimierz Brandys, Anton Cechov, Joseph Conrad, Nicolai Gogol, Witold Gombrowicz, Henry James, Vladimir Nabokov und andere Autoren ins Mexikanische und schrieb selbst Essays, Erzählungen und Romane. „Eheleben“ war sein erstes ins Deutsche übersetztes Buch. Es folgten „Defilee der Liebe“ („El desfile del amor“, 1984; Übersetzung: Petra Strien, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2002) und „Die Reise. Ein Besuch Russlands und seiner Literatur“ (Übersetzung: Christian Hansen, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2003).

2005 wurde Sergio Pitol mit dem Cervantes-Preis ausgezeichnet.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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