Die innere Sicherheit

Die innere Sicherheit

Die innere Sicherheit

Originaltitel: Die innere Sicherheit - Regie: Christian Petzold - Drehbuch: Christian Petzold und Harun Farocki - Kamera: Hans Fromm - Schnitt: Bettina Böhler - Musik: Stefan Will - Darsteller: Julia Hummer, Richy Müller, Barbara Auer, Bilge Bingül, Günther Maria Halmer, Katharina Schüttler, Noberto Paula, Marc Sönnichsen, Bernd Tauber, Rogério Jacques, Ingrit Dohse, Henriette Heinze, Vasco Machado, Inka Löwendorf, Manfred Möck u.a. - 2000; 100 Minuten

Inhaltsangabe

Wir erfahren nicht, warum Hans und Clara in den Untergrund abgetaucht sind. Es könnte sich um die Mitgliedschaft in einer politischen Terrororganisation gehandelt haben. Vermutlich sind die Ideale von damals längst kaputt. Geblieben sind nur die ständige Flucht und die Isolation. Hans und Clara wollen mit Jeanne in Brasilien ein neues Leben anfangen, aber sie müssen ihre letzte Kraft und Zuversicht aufbieten, als sie versuchen, das erforderliche Geld durch einen Banküberfall zu beschaffen ...
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Kritik

Die Terroristen Hans und Clara werden in "Die innere Sicherheit" nicht als böse Verbrecher dargestellt, sondern als Eltern, die sich und ihre Tochter Jeanne lieben wie es auch in "normalen" Familien der Fall ist. Aus der Sicht Jeannes erleben wir die Verzweiflung der drei Menschen auf der Flucht in kargen Bildern ohne Effekthascherei.

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Allein sitzt die 15-jährige Deutsche Jeanne (Julia Hummer) in einer portugiesischen Strandkneipe an einem wackligen Holztisch, raucht und nippt zwischendurch an einem Glas Cola. Der kaum ältere Surfer Heinrich (Bilge Bingül) setzt sich zu ihr und versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber sobald er etwas über Jeanne wissen möchte, schweigt sie. Für den Abend verabreden sie sich am Strand. Während Jeanne auch jetzt nichts von sich preisgibt, erzählt ihr Heinrich von der jetzt leer stehenden Villa bei Hamburg, in der er angeblich wohnte, bis seine Mutter Schlaftabletten schluckte und sich im Pool ertränkte.

Jeanne ist mit ihren Eltern in Portugal: Hans (Richy Müller) und Clara (Barbara Auer) sind vor mehr als 15 Jahren untergetaucht und verstecken sich an wechselnden Orten. Da sie ständig damit rechnen müssen, erkannt zu werden, halten sie sich von allen Leuten fern. Jeanne besuchte nie eine Schule, konnte keine Freundschaften schließen und nirgendwo Fuß fassen. Als Hans beobachtet, wie sie mit einem Portugiesen spricht, ruft er sie sofort zu sich und fragt sie über den Mann aus. Er habe sie nur gebeten, orthographische Fehler in seiner deutschen Speisekarte zu korrigieren, erwidert sie gereizt.

Als die drei abends zu ihrem Ferienapartment zurückkehren, läuft ihnen die Vermieterin aufgeregt entgegen. Man hat bei ihnen eingebrochen. Die Polizei ist gerade da. Hans prüft als erstes, ob die falschen Pässe noch da sind und der Schlüssel für das Bahnhofschließfach, in dem er die Ersparnisse aufbewahrt. Die Diebe haben nichts übersehen! Einer der Polizisten entdeckt eine Pistole, stutzt und greift zum Handy.

Hals über Kopf laufen Hans, Clara und Jeanne zum Auto. Sie rasen zum Bahnhof. Während Clara hinter dem Steuer sitzen bleibt, pirschen sich Hans und Jeanne zu den Schließfächern. Gerade räumt einer der Diebe ihr Fach aus. Hans bedroht ihn mit einer Eisenstange und nimmt ihm die Reisetasche mit dem Geld ab. Aber der Komplize, der sich von hinten genähert hat, schlägt ihn nieder, und Jeanne hat gegen die zwei Ganoven keine Chance.

Das Geld, das Hans aus seinen Hosentaschen kramt, reicht gerade, um mit dem Wagen zurück nach Deutschland zu fahren. Dort hoffen sie auf Hilfe von ehemaligen Gesinnungsgenossen. Der erste Besuch endet mit einer handfesten Auseinandersetzung. Mit Claras ehemaligem Freund und Verleger Klaus (Günther Maria Halmer) treffen sie sich konspirativ auf einer Autobahnraststätte. Klaus ist alkoholabhängig und wird nur noch wegen seines guten Namens in der Branche als Angestellter in seinem Verlag geduldet. Er besitzt nicht genügend Geld, aber er verspricht welches zu besorgen. Drei Wochen benötigt er dafür.

Aus einem vor vielen Jahren vergrabenen Metallbehälter holt Hans ein Bündel Hundertmarkscheine – die längst ungültig geworden sind. Wovon soll die Familie drei Wochen lang leben? Clara ist völlig fertig, und Hans steht hilflos neben ihr. Da fällt Jeanne die Villa bei Hamburg ein, von der Heinrich gesprochen hat. Dort schlüpfen sie unter.

Weil Hans und Clara sich nicht aus dem Haus wagen, schicken sie Jeanne zum Einkaufen. Auf dem Rückweg entdeckt sie Heinrich und läuft rasch weg, damit er sie nicht sieht. Sie findet heraus, dass er in einem Jugendheim in der Nähe der Villa wohnt. Bei einem ihrer nächsten Einkäufe kann sie es nicht vermeiden, dass er sie bemerkt. Nachts schleicht sie sich heimlich aus der Villa und steigt bei Heinrich durchs Fenster. Sie lieben sich, und er verrät ihr, dass die Geschichte von der Villa erlogen war. Tatsächlich kann er sich an seine Eltern nicht erinnern; er hat gerade eine Lehre als Heizungsbauer abgebrochen und schlägt sich als Tellerwäscher durch.

Entsetzt stellt Hans eines Tages fest, dass Jeanne während der Einkäufe CDs und Kleider gestohlen hat. Wie leicht hätte sie dabei ertappt werden können! Er ist wütend, weil sie damit sich und ihre Eltern gefährdete, aber er versteht auch, dass sich seine Tochter in dem billigen Pullover schämt, den er auf dem Rückweg aus Portugal in einer Tankstelle für sie kaufte. Die Eltern appellieren an ihre Tochter, noch ein paar Tage durchzuhalten. Sobald sie das Geld von Klaus bekommen, werde alles anders; dann würden sie nach Brasilien reisen und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Dort könne Jeanne zur Schule gehen und Freundschaften schließen.

Als Klaus zur vereinbarten Zeit am Rasthof mit dem Geld im Aktenkoffer aus dem Auto steigt, wird er von einer Anhalterin angesprochen, die von der Polizei observiert wird. Im nächsten Augenblick halten mehrere schwarze BMWs mit quietschenden Reifen. Beamte springen heraus, richten ihre Pistolen auf das Mädchen, werfen es zu Boden und verhaften auch Klaus.

In ihrer Verzweiflung überfallen Hans und Clara eine Bank. Jeanne wartet im Wagen. Als sie Heinrich sieht, duckt sie sich, aber er hat sie entdeckt und klopft an die Seitenscheibe. „Hau ab!“, schreit sie. Sie wolle nichts mit ihm zu tun haben. Verwirrt über ihre Beschimpfungen ohrfeigt Heinrich sie und geht dann weiter. Hans und Clara kommen angerannt. Clara fährt los. Sie hat in der Bank einen Menschen erschossen. Hans wurde von einer Kugel in die Schulter getroffen. Die Nacht wollen sie noch in der leer stehenden Villa verbringen, aber am nächsten Morgen müssen sie spätestens los.

Noch einmal schleicht sich Jeanne zu Heinrich und weint sich bei ihm aus. Sie habe es nicht so gemeint; sie liebe ihn. „Ihr habt die Bank überfallen“, vermutet Heinrich. Jeanne lügt etwas von einer strengen Sekte, der sie und ihre Eltern angehörten, aber er glaubt ihr nicht, bis sie ihm schließlich die Wahrheit gesteht. Unter dem Vorwand, am Getränkeautomaten eine Cola ziehen zu wollen, verlässt er sein Zimmer und ruft von einem öffentlichen Fernsprecher die Polizei an. Währenddessen klettert Jeanne durchs Fenster und läuft durch den Wald zur Villa.

Am anderen Morgen steigen Hans, Clara und Jeanne ins Auto. Hans lehnt fast ohnmächtig vor Schmerzen im Fond; Clara fährt. Plötzlich nähert sich von hinten eine Kolonne schwarzer BMWs. Der erste überholt. Der Kofferraum öffnet sich: Eine Blendgranate wird abgefeuert. Im selben Augenblick rammt ein zweiter BMW das Fluchtfahrzeug. Es überschlägt sich und bleibt mit dem Dach nach unten im Feld neben der Straße liegen. Jeanne wurde herausgeschleudert. Nach einer Weile erhebt sie sich benommen. Im Autowrack kein Lebenszeichen.

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Wir erfahren nicht, warum Hans und Clara in den Untergrund abgetaucht sind. Es könnte sich um die Mitgliedschaft in einer politischen Terrororganisation gehandelt haben. Vermutlich sind die Ideale von damals längst kaputt. Geblieben sind nur die ständige Flucht und die Isolation. Hans und Clara wollen mit Jeanne in Brasilien ein neues Leben anfangen, aber sie müssen ihre letzte Kraft und Zuversicht aufbieten, als sie versuchen, das erforderliche Geld durch einen Banküberfall zu beschaffen.

Unter diesen beklemmenden Umständen wächst ihre Tochter auf. Nirgendwo ist sie zu Hause und Freunde darf sie nicht haben. Sie ist viel zu jung für die Verantwortung, die auch sie für die „innere Sicherheit“ der Familie trägt. Als sie sich verliebt, möchte sie mit Heinrich zusammen bleiben aber ihre Eltern weder verlassen noch gefährden. Was soll sie tun?

Unter dem Titel „Die innere Sicherheit“, der sich sowohl auf den Staat als auch auf die drei Protagonisten bezieht, verfolgen wir diese beklemmende Geschichte aus der Perspektive Jeannes. Um Schuld und Sühne geht es in diesem Film nicht. Hans und Clara werden nicht als böse Verbrecher dargestellt, sondern als verzweifelte Menschen, als Eltern, die sich und ihre Tochter lieben wie es auch in „normalen“ Familien der Fall ist. Es schmerzt sie, mit anzusehen, worauf Jeanne verzichten muss, um sie nicht zu gefährden, aber sie können nur hoffen, dass es ihnen gelingt, in Brasilien eine neue Existenz aufzubauen.

RAF-Terroristinnen wie Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof trennten sich von ihren Kindern. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Paar jahrzehntelang mit einer Tochter im Untergrund lebt. Aber was sich aus so einer ausweglosen Situation ergeben könnte, wird plausibel dargestellt. Christian Petzold hat die Verzweiflung dieser drei Menschen – vor allem die des Mädchens – in kargen, unspektakulären Bildern sensibel und nuanciert in Szene gesetzt. Obwohl die Familie ständig auf der Flucht ist, handelt es sich bei „Die innere Sicherheit“ weniger um einen Politthriller oder eine Familientragödie als um ein Kammerspiel, das nicht zuletzt von dem unaufgeregten Gestus der drei hervorragenden Hauptdarsteller getragen wird.

Christian Petzold und Harun Farocki schrieben das Drehbuch für „Die innere Sicherheit“, angeregt einmal durch die Nachrichten über die Erschießung des RAF-Terroristen Wolfgang Grams am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen, zum anderen durch Kathryn Bigelows Vampirfilm „Near Dark“ (1987).

„Die innere Sicherheit“ bildet zusammen mit „Gespenster“ und „Yella“ die so genannte „Gespenster-Trilogie“ von Christian Petzold.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

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Christian Petzold: Gespenster
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Gert Hofmann - Die kleine Stechardin
Es ist rührend, wie der 38 Jahre alte Universitätsprofessor und die 15-jährige Analphabetin sich einander vorsichtig nähern, bis sie sich endlich in den Armen liegen. "Die kleine Stechardin" ist ein naiv wirkender, skurriler, wehmütiger und melancholischer Roman.
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