Christoph Peters : Der Arm des Kraken

Der Arm des Kraken
Der Arm des Kraken Originalausgabe: Luchterhand Literaturverlag, München 2015 ISBN: 978-3-630-87320-6, 376 Seiten ISBN: 978-3-641-16388-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Berlin wird die Leiche des erschossenen und zuvor gefolterten Japaners Yuki Ozawa gefunden. Die Polizei ermittelt, aber die Arbeit der Kommissarin Annegret Bartsch wird nicht nur durch Kompetenz-Streitigkeiten, sondern auch durch familiäre Probleme beeinträchtigt. Im Gegensatz zu ihr geht Fumio Onishi, der im Auftrag der Jakuza nach Berlin kommt, um den Mord zu rächen, diszipliniert und effizient vor ...
mehr erfahren

Kritik

Der Roman "Der Arm des Kraken" spielt in der Berliner Unterwelt, in der Vietnamesen das Sagen haben. Christoph Peters geht es vor allem um den Gegensatz zwischen einer ineffizienten deutschen Kommissarin und einem disziplinierten Jakuza, den er auch sprachlich spiegelt.
mehr erfahren

Im Sommer 2013 wird im Erich-Mühsam-Park in Berlin die Leiche eines Japaners gefunden. Bevor man ihn mit einem aufsetzten Schuss in den Hinterkopf tötete, hatte man ihn gefoltert. Die Tätowierungen – darunter ein purpurner Krakenarm, der eine Riesenmuschel zerquetscht – lassen darauf schließen, dass der Tote zur Jakuza gehörte.

Der Name des Toten lautet Yuki Ozawa. Nach dem Abbruch seines Studiums schloss er sich der zur Jakuza gehörenden Nekodoshi-Gumi an und wurde wegen seiner Sprachkenntnisse im Januar 2011 nach Berlin geschickt, in den von der vietnamesischen Konkurrenz beherrschten Stadtteil Prenzlauer Berg. Er wurde nur 27 Jahre alt.

Sein Aniki war der nur wenig ältere Japaner Fumio Onishi, der seit 16 Jahren zur Nekodoshi-Gumi gehört und nun damit rechnen muss, dass ihn das Versagen seines Schützlings ein Fingerglied kosten wird. Der Oyabun beauftragt ihn, die Gründe für den Mord herauszufinden und Yuki Ozawa zu rächen. Zu diesem Zweck fliegt Fumio Onishi von Amsterdam nach Berlin.

Selbstverständlich ermittelt auch die Polizei in dem Mordfall. Allerdings bleibt dabei zunächst unklar, ob Axel Reimann von der Mordkommission oder Annegret Bartsch vom Vietnam-Dezernat zuständig ist, denn der Verdacht liegt nahe, dass der Japaner von jemandem aus der vietnamesischen Verbrecherorganisation getötet wurde. Die Hauptkommissarin Annegret Bartsch ist bei dem 1996 gegründeten Vietnam-Dezernat der Berliner Polizei fast von Anfang an dabei und weiß eine Menge über das Geflecht „aus Firmen, Scheinfirmen, Geschäftsleuten, vorgeblichen Privatpersonen, in dem legale und illegale Aktivitäten unentwirrbar miteinander verwoben sind, so geschickt, dass immer nur die legalen Segmente sichtbar werden“. Dreh- und Angelpunkt ist das Thanh Hoa Center an der Rostocker Straße. Trotz ihrer Kenntnisse hat Annegret Bartsch in den letzten zehn Jahren niemanden festgenommen.

Die 46-jährige Hauptkommissarin ist seit zwölf Jahren mit Volker Bartsch verheiratet. Er arbeitet beim Grünflächenamt der Stadt. In seiner Freizeit sitzt er vor dem PC oder schraubt an alten Kameras herum. Annegret und Volker Bartsch haben eine achtjährige Tochter: Elisabeth („Lizzy“). Die Schülerin nervt die Mutter mit „Prinzessinnengehabe“, und ihren Mann hält Annegret inzwischen für eine „Nulpe“. Als er von dem Mordfall erfährt, befürchtet er, seine Frau könnte ein Opfer gewaltsamer Auseinandersetzungen des organisierten Verbrechens werden.

[…] ich hatte den Eindruck, als ginge es bei seiner Panik überhaupt nicht um mich als Person, er fürchtet sich davor, allein nicht zurechtzukommen, rein logistisch, denn dann müsste er sich neben der Arbeit ja mal wirklich um Lissy kümmern, nicht bloß Spaßpizza backen, sondern einkaufen, Überweisungen machen, Wäsche waschen, mit der Putzfrau reden, all diese Sachen, von denen er annimmt, dass sie ein natürliches Freizeitvergnügen der Frau sind, während der Mann nach der Arbeit seine Hobbys pflegt, schließlich trägt er ja die Last der Gesamtverantwortung für das familiäre Wohl, „Es geht nicht“, hat er mir allen Ernstes gesagt, „dass ich mir, sobald du morgens das Haus verlässt, Sorgen mache, gleich ruft einer von deinen Leuten an und teilt mir mit, dass du bei einem Einsatz ums Leben gekommen bist – so kann ich nicht arbeiten“, ich meine, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, er kann sich nicht auf seine Rhododendronbüsche konzentrieren, weil er Angst hat, dass ich von einem Vietnamesen abgeknallt werde – da bedankst du dich doch, wenn du so eine Nulpe als Mann hast […]

Die Polizei findet heraus, dass Yuki Ozawa seit Anfang 2011 nicht nur jeden Monat 2300 Euro aus Tokio bekam, sondern auch alle zwei bis vier Wochen zwischen 60 000 und 80 000 Euro von der japanischen Firma NihonInterFish, Gelder, die er spätestens am folgenden Tag an die Briefkastenfirma MarocSeatrade auf Guernsey weiterleitete.

Fumio Onishi sucht nach seiner Ankunft in Berlin als Erstes seinen Freund und Hauptgeschäftspartner Hassan Shakush auf, den marokkanischen Besitzer des Restaurants „Al Kasbah“, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, verheiratet ist und zwei Kinder hat: den vierjährigen Mohammed und die zweijährige Leila.

Seine Aufgabe war es, für tragfähige Beziehungen zwischen der Nekodoshi-Gumi und der Shakush-Familie zu sorgen, Zahlungen aus Japan auf die Konten des marokkanischen Trusts in Guernsey weiterzuleiten.

Hassan ist auch mit einem Landsmann namens Amr Safi befreundet, der eine Sushi-Bar am Prenzlauer Berg betreibt. Von ihm hörte Hassan unlängst, dass der zur Berliner Unterwelt gehörende, vor zwei Jahren kaltgestellte Vietnamese Duc Hai Nguyen ins große Geschäft zurück wolle und bereits einige ehemalige Marinekampftaucher aus Vietnam nach Berlin geholt habe. Dass Yuki Ozawa im Auftrag von Duc Hai ermordet wurde, hält Hassan Shakush für wahrscheinlich.

Als Nächstes klingelt Fumio Onishi bei Nikola Weber, Yukis 27 Jahre alter deutscher Freundin. Sie ist überzeugt, dass Yuki aussteigen und mit ihr zusammen ein neues Leben anfangen wollte. Fumio, für den das undenkbar ist, erklärt ihr, dass es auch in ihrem Interesse sei, ihm bei seinem Vorhaben zu helfen:

„Es ist auch für deine Sicherheit besser, wenn wir zusammenhalten, verstehst du. Niemand weiß, was sie vorhaben, weshalb sie Yuki umgebracht haben. Aber dass du seine Freundin warst, das wissen alle, oder?“

Nachdem Fumio von Nikola erfahren hat, dass Yuki des Öfteren bei dem vietnamesischen Lebensmittelhändler Kieu Ngoc war, geht er zu dem nahegelegenen Laden. Als er ihn betritt, merkt er, dass der mit zwei Deutschen sprechende Inhaber abrupt das Thema wechselt. Offensichtlich handelt es sich bei seinen Gesprächspartnern nicht um Kunden, und Fumio Onishi ahnt, dass sie von der Polizei sind. Tatsächlich gehört Kieu Ngoc zu den Kontakten von Annegret Bartsch in der Berliner Vietnamesen-Szene. Sie und ihr Kollege Ingo Michalski nutzen die Angst des Ladeninhabers aus.

[…] vor gut zwölf Jahren, als die Verteilungskriege zu Ende gegangen sind, war er noch jung, inzwischen ist er Mitte vierzig und hat sich irgendwo im Grenzbereich von Zwischenhandel und Geldwäsche eine schöne Existenz aufgebaut […] ob Kieu Ngoc überhaupt eine Berufsausbildung hat, wage ich zu bezweifeln, seine Frau arbeitet bei ihm im Laden als Sekretärin, die Töchter gehen zur Schule […]

Gelassen wählt Fumio Onishi ein paar Artikel, bezahlt und verlässt den Laden, wirft die Einkäufe in eine Mülltonne und wartet in der Nähe, bis die beiden Deutschen fort sind. Dann zieht er weiße Baumwollhandschuhe an und betritt erneut das vietnamesische Lebensmittelgeschäft. Die Frau, die auf ihn zukommt, schlägt er nieder. Die Wucht des Hiebs auf die Stirn lässt die Haut aufplatzen.

Während sie zur Seite kippte, griff Fumio Onishi mit der Linken ihre Schulter, seine Rechte fasste sie bei der Hüfte, damit sie nicht krachend ins Regal stürzte. In einer einzigen fließenden Bewegung legte er sie bäuchlings auf dem Boden ab. Einen Moment später stand er mit entsicherter Pistole in der Tür zum Büro.

Mit der Waffe in der Hand zwingt er Kieu Ngoc, die Ladentüre abzuschließen. Erst als er damit droht, dem Vietnamesen die Kniegelenke zu zerschießen, beginnt dieser zu reden. Yuki Ozawa habe ihn gefragt, ob es in Vietnam Interesse an Haifischflossen gebe, sagt er. Offenbar hätte der Japaner welche besorgen können. Kieu Ngoc beteuert, er sei an dem Geschäft nicht interessiert gewesen und habe Yuki Ozawa deshalb zu Duc Hai Nguyen geschickt.

Als die Töchter von Kieu Ngoc und seiner Frau von der Schule nach Hause kommen, finden sie die Eltern ermordet vor.

Fumio Onishi besucht Amr Safi in dessen Sushi-Bar. Der Marokkaner stammt aus einer Fischerfamilie und fing vor 20 Jahren in einem japanischen Restaurant in Frankfurt am Main als Spüler an. Er ist stolz darauf, dass sein Restaurant sowohl in einem deutschen als auch in einem japanischen Berlin-Reiseführer als Geheimtipp empfohlen wird. Selbst Japaner schätzen seine Sushi als die besten, die es in Berlin zu essen gibt.

„Die Einzigen, die bei Fisch dieselben Maßstäbe hatten wie ich, waren die japanischen Sushiköche. Und deswegen wollte ich lieber im Sakura spülen, als bei einem Araber kochen.“

In Berlin steht Amr Safi unter dem Schutz seines mächtigen Freundes Hassan Shakush.

Fumio Onishi fragte sich, wie es dieser sonderbare Araber geschafft hatte, hier im Zentrum des Vietnamesengebiets seine Sushibar zu behalten, während fast alle Japaner vertrieben worden waren. Kaum zu glauben, dass es ausschließlich auf Hassans Macht und Einfluss zurückzuführen war, zumal Hassan keinen erkennbaren Grund hatte, sich für Amr auf kostspielige Kompromisse einzulassen.

Amr Safi erzählt Fumio Onishi von Yuki Ozawas Plänen.

„Yuki hatte die Idee … Ich habe ihm gesagt, dass es Selbstmord ist, aber er wollte es trotzdem probieren, keine Ahnung, was diese Frau mit ihm gemacht hat. Seine Idee war, Duc Hai und die Königin so gegeneinander auszuspielen, dass sie ihn beide für eine Ware bezahlen, die es nicht gibt: Duc Hai sollte denken, er könnte sich mit Yukis Hilfe das nötige Geld für seine Rückkehr ins große Business beschaffen, und die Königin sollte das Gefühl haben, dass sie über jeden von Duc Hais Schritten informiert ist. Dann hätte sie nur den richtigen Moment abwarten müssen, um ihn hochgehen zu lassen. Richtig – nicht nur finanziell oder im übertragenen Sinne. Jeder hätte dann für alles Verständnis gehabt, was sie mit Duc Hai tut: Ein Vietnamese, der sich mit einem abtrünnigen Japaner und einem Araber gegen seine eigenen Landsleute verbündet, hat sein Leben verwirkt. Dafür hätte sie Yuki bezahlt. Sowieso nur Kleingeld für ihre Verhältnisse. Angeblich gehört ihr die halbe Vietnamesenbank. Aber irgendetwas muss schiefgelaufen sein.“

Die Vietnamesin, die alle „die Königin“ nennen, heißt Tran Mai Hoang. Kieu Ngoc gehörte zu ihrer Organisation.

Fumio Onishi überfällt erst einmal Duc Hai Nguyen, den er für Yuki Ozawas Mörder hält. Mit einer Pistole in der rechten und einem Tantō in der linken Hand stürmt er in den Laden des Vietnamesen, der von drei ehemaligen Marinetauchern aus seiner Heimat beschützt wird. Dem Japaner gelingt es zwar, die mit Pistolen bewaffneten Leibwächter zu töten, aber Duc Hai Nguyen entkommt ihm.

Der Vietnamese meldet sich kurz darauf bei der Polizei und verlangt von Annegret Bartsch Polizeischutz für sich, seine Familie und das Geschäft. Die in seinem Laden getöteten Vietnamesen habe er nicht gekannt und noch nie zuvor gesehen, lügt er, die Männer hätten nur etwas kaufen wollen. Möglicherweise habe es sich um die Mörder des im Erich-Mühsam-Park tot aufge­fundenen Japaners und um einen Racheakt gehandelt. Die Kommissarin spielt mit, weist ihren Besucher darauf hin, dass der rächende Japaner möglicherweise aufgrund der Anwesenheit der drei Männer in seinem Laden annimmt, dass Duc Hai auch etwas mit Yuki Ozawas Ermordung zu tun habe. Sie könne ihm auf die Schnelle keinen Polizeischutz beschaffen, fährt sie fort und schlägt Duc Hai Nguyen vor, ihr stattdessen auch in seinem eigenen Interesse bei der Festnahme des fünffachen Mörders zu helfen. Um den Japaner in eine Falle zu locken, soll er ihm auf irgendeine Weise die Nachricht zuspielen, dass er bereit sei, ihm bei einem persönlichen Treffen Yuki Ozawas Mörder zu verraten. Annegret Bartsch will Duc Hai Nguyen als Köder benutzen.

Der Berliner Polizeipräsident Dr. Andreas Möller setzt eine Sonderkommission ein und überträgt die Leitung Axel Reimann. Annegret Bartsch nimmt es frustriert zur Kenntnis. Dass die Herren davon ausgehen, es könne sich bei den Gewalt­verbrechen um ausländerfeindliche Straftaten handeln, hält sie für abwegig, aber der Polizeipräsident denkt an den NSU und will sich nicht nachsagen lassen, er sei auf dem rechten Auge blind.

Fumio Onishi passt „die Königin“ Tran Mai Hoang auf dem Weg von einem Restaurant im Thanh Hoa Center zu ihrer Limousine ab. Sie fährt ein Stück mit ihm und sagt, sie habe sich nicht für die von Yuki Ozawa vor drei Monaten angebotenen Haifischflossen aus Marokko interessiert.

„Aber Sie haben abgelehnt. Genau wie Nguyen Duc Hai.“
„Ich habe abgelehnt. Nguyen Duc Hai hat nicht abgelehnt.“

„Ich kann Ihnen nicht sagen, woher Yuki die Information hatte, jedenfalls wusste er, dass Nguyen Duc Hai etwas Größeres plante und dass er dafür vor allem Geld, viel Geld brauchte. Startkapital, mit dem er einen Neuanfang versuchen wollte.“

Tran Mai Hoang schlug Yuki Ozawa schließlich vor, das Geschäft mit Duc Hai abzuwickeln und sie auf dem Laufenden zu halten.

Fumio Onishi schläft inzwischen mit Nikola, obwohl sich dieses Trieb- bzw. Gefühlsleben nicht mit der von ihm verlangten Disziplin verträgt. Er vertraut der Deutschen und spricht mit ihr über die Zusammenhänge, die zur Ermordung ihres Freundes führten, der ebenfalls gegen Maximen ihres gemeinsamen Lehrmeisters verstieß und jetzt tot ist. Inzwischen ist Fumio überzeugt, dass Yuki im Auftrag von Duc Hai Nguyen gefoltert und ermordet wurde. Die Fäden zog jedoch Tran Mai Hoang: Sie spielte Duc Hai und Yuki gegeneinander aus. Sie erwartete zwar, dass der Japaner den abtrünnigen Vietnamesen umbringen würde, rechnet aber jetzt damit, dass Duc Hai einem Racheakt zum Opfer fällt. Und das würde ihr nützen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Als Tran Mai Hoang an einem der nächsten Tag vor dem Thanh Hoa Center in ihren Mercedes steigt, beobachtet Fumio Onishi sie und zündet über sein Handy die zuvor angebrachte Bombe, die sie und das Fahrzeug zerfetzt.

Amr Safi ruft Fumio Onishi an und sagt zunächst, er wolle gar nicht wissen, ob der Japaner etwas mit dem Tod der „Königin“ zu tun habe, sondern nur ausrichten, dass Duc Hai die Information habe, die er sucht und ein Treffen im Restaurant von „Mayer’s Markt“ vorschlage.

„Wer war das“, fragte Nikola.
„Amr Safi.“
„Was wollte er?“
„Mich in eine Falle locken.“
„Ernsthaft? Ich dachte, er ist auf unserer Seite. Also Yuki hat immer gesagt, auf Amr Safi kannst du dich verlassen, wenn irgendetwas ist.“
„Vielleicht weiß er nicht, dass er mich in eine Falle locken soll, sondern glaubt sogar, dass er mir hilft. Und das stimmt auch.“

Zur vereinbarten Zeit betritt Duc Hai Nguyen das Restaurant von „Mayer’s Markt“ und nimmt Platz. An einem anderen Tisch isst Annegret Bartsch mit drei Kollegen. Sie verhalten sich möglichst unauffällig. Eine weitere Kollegin sitzt draußen im Auto. Deren Aufgabe ist es, die Straße zu beobachten und Annegret Bartsch über einen Ohrhörer vor verdächtig aussehenden Passanten zu warnen. Damit der Japaner keinen Verdacht schöpft, hat Annegret Bartsch auch weder Axel Reimann informiert noch Verstärkung angefordert. Von der geplanten Festnahme erhofft sie sich nicht zuletzt die Aufklärung der Mordfälle, denn bisher tappt die Polizei im Dunkeln und weiß nicht einmal, wer die drei ermordeten Vietnamesen im Laden von Duc Hai Nguyen waren.

[…] scheint die Bombe gestern extrem professionell gebaut gewesen zu sein, wenn sie denn vom selben Täter stammt, was ich für fragwürdig halte, warum sollte jemand, der Duc Hai ausschalten will, dessen ärgste Gegnerin in die Luft jagen? Das ergibt einfach überhaupt keinen Sinn, andererseits – wenn ich es von der Seite aus betrachte – ist auch der Mord an Kieu Ngoc nicht zu erklären […]

[…] vielleicht waren die Toten im Laden von Duc Hai tatsächlich ein Kollateralschaden und in Wirklichkeit hatte es der Japaner auf Tran Mai Hoang abgesehen, dann ist er längst über alle Berge, ich meine, dass ich Duc Hai Polizeischutz angeboten habe, wenn er hier mitmacht, da kann einen ja im Endeffekt keiner drauf festnageln, bei seiner Vorgeschichte sowieso nicht, ich würde trotzdem pro forma noch mal versuchen, jemanden bewilligt zu bekommen, wenigstens für drei, vier Tage, wobei im Grunde klar ist, dass daraus nichts wird […]

Fumio Onishi denkt ebenso wie die Kommissarin über die Situation nach:

Er fragte sich, was Duc Hai veranlasst haben mochte, sich mit ihm zu verabreden. Dass er Yuki umgebracht hatte oder hatte umbringen lassen, stand außer Zweifel. Vielleicht hatte er die Schuld ihm gegenüber auf Tran Mai Hoang abwälzen wollen, aber Tran Mai Hoang war inzwischen tot. Er überlegte, ob es möglich war, dass Duc Hai sich mit der Polizei verbündet, dass die Polizei ihm Strafnachlass für den Mord an Yuki angeboten hatte, wenn er sich kooperativ zeigte. Ausschließen konnte man es nicht, aber dass die deutsche Polizei eine Schießerei in einem gut besuchten Supermarkt riskierte, war sehr unwahrscheinlich.

Plötzlich entdeckt Annegret Bartsch ein Loch in der Fensterscheibe. Das Geschoss hat eine Schläfe von Duc Hai Nguyen weggerissen. Die Kollegin im Auto meldet sich nicht mehr. Etwas wird hereingeworfen.

„Schalt die Sirene ein, Kerstin, ruf Verstärkung!“, „Raus hier, das ist eine Granate, da hat uns jemand eine Granate vor die Füße geschossen …“

Aber es ist zu spät. Wie aus großer Ferne nimmt die Kommissarin wahr, dass Ingo Michalski von der Explosion zerfetzt wird. Obwohl sie Menschen schreien sieht, hört Annegret Bartsch keinen Laut. Ihre Beine sind ganz verdreht. Es brennt. Auch aus ihrer Kleidung schlagen Flammen, aber sie spürt nichts.

[…] rings um mich herum Bilder, als könnte ich hineingehen, Menschen – Gesichter, die ich kenne, wann bin ich zuletzt in der Metzgerei von Frau Riemer gewesen, die ist seit zwanzig Jahren geschlossen […]

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Der Arm des Kraken“ ist eine Mischung aus Großstadtroman und Mafia-Thriller. Die Handlung spielt im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in dessen Unterwelt – so der Roman – eine von Vietnamesen organisiertes Verbrecherorganisation das Sagen hat.

Christoph Peters lässt in „Der Arm des Kraken“ mehrere Kulturen zusammenprallen. Da gibt es Vietnamesen und Marokkaner, die hinter Kulissen von Läden, Markthallen und Restaurants ihren kriminellen Geschäften nachgehen, aber auch einen japanischen Rächer, und auf der anderen Seite steht die machtlose Polizei. Die im Vietnam-Dezernat tätige Hauptkommissarin Annegret Bartsch versucht erfolglos, eine Mordserie aufzuklären. Sie fühlt sich vom Polizeipräsidenten ausgebootet, ist über Kompetenz-Streitigkeiten frustriert und vermutet, dass ihr Kollege Ingo Michalski alkoholkrank ist. In ihrem Privatleben herrscht kaum weniger Chaos als bei ihrer Arbeit. Anders als Annegret Bartsch und ihre Kollegen verfügt der Jakuza Fumio Onishi über eine Selbstdisziplin, wie man sie in Deutschland nicht kennt. Ohne Gefühlsregung, kühl und präzise erfüllt er seine Aufgabe.

Christoph Peters entwickelt die nicht durchgängig spannende Handlung im ständigen Wechsel zwischen der Perspektive des japanischen Verbrechers und der deutschen Kommissarin. In den klar strukturierten Kapiteln über Fumio Onishi tritt ein sachlicher Erzähler auf, der auktorial ist und deshalb den Überblick behält. Die Passagen über Annegret Bartsch bestehen im Gegensatz dazu aus inneren Monologen, in denen Halbsätze über ihre Empfindungen, Erinnerungen, Beobachtungen und Vermutungen assoziativ aneinandergereiht sind.

Obwohl sich Christoph Peters intensiv mit der japanischen Kultur beschäftigt hat, spielt er in „Der Arm des Kraken“ mit Klischees, sodass Fumio Onishi beinahe wie ein Superheld in einem Comic wirkt.

Vor allem mit dem Ende von „Der Arm des Kraken“ unterläuft Christoph Peters die Konventionen des Thriller-Genres und damit auch die Erwartungen der Leser.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Christoph Peters (Kurzbiografie)

Christoph Peters: Stadt Land Fluss
Christoph Peters: Das Tuch aus Nacht

Sándor Márai - Befreiung
Sándor Márai schrieb den Roman "Befreiung" in einem Furor unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gerade weil der Text nicht sorgsam poliert wurde, entwickelt er beim Lesen eine ungeheure Kraft und Intensität.
Befreiung