Amos Oz : Judas

Judas
Originalausgabe: Habesorah al pi Yehuda Keter, Jerusalem 2014 Judas Übersetzung: Mirjam Pressler Suhrkamp Verlag, Berlin 2015 ISBN: 978-3-518-42479-7, 335 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ende 1959 gerät der Student Schmuel Asch durch das Scheitern einer Beziehung und den Konkurs des Vaters in eine Lebenskrise. Er bricht sein Studium in Jerusalem ab und lässt sich gegen Kost und Logis als Gesell­schafter des 70-jährigen Gerschom Wald einstellen. Mit im Haus wohnt eine 45 Jahre alte geheimnisvolle Frau, Atalja Abrabanel, von der Schmuel erst später erfährt, dass sie mit Walds 1948 gefallenen Sohn Micha verheiratet war. Ihr Vater hatte versucht, Ben Gurion von der Gründung eines israeli­schen Staates abzuhalten. Er galt deshalb als Verräter – wie Judas Ischariot ...
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Kritik

In seinem melancholischen Roman "Judas" entwickelt Amos Oz mit wenigen Figuren eine vielschichtige Handlung mit zahlreichen Spiegelungen. Zentrales Thema ist der tatsächliche bzw. vermeintliche Verrat. Amos Oz glaubt nicht, dass Judas Ischariot ein Verräter war.
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Ende 1959 gerät der 25-jährige Student Schmuel Asch in eine Lebenskrise. Seine Lebensgefährtin Jardena verlässt ihn und heiratet ihren früheren Verehrer Nescher Scharschawski, der als Hydrologe am Institut für Meeresforschung tätig ist. Der sozialistische Arbeitskreis, in dem Schmuel sich engagiert, bricht auseinander. Und der Vater verliert in letzter Instanz ein Gerichtsverfahren gegen seinen untreuen Geschäftspartner Laszlo Vermes. Wegen des Bankrotts muss er die finanzielle Unterstützung der in Rom studierenden Tochter Miri und des fünf Jahre jüngeren Sohnes Schmuel einstellen.

Er war 1932 im Alter von 22 Jahren mit seinem Vater Antek aus Lettland nach Palästina gekommen und hatte in Haifa eine Familie gegründet. Antek Asch, der bei der Einwanderung 45 Jahre alt gewesen war, versorgte im Zweiten Weltkrieg die britische Geheimpolizei mit gefälschten Nazi-Ausweisen für ihre Agenten und beschaffte über diese Kontakte für die jüdische Untergrundorganisation wichtige Informationen. Weil ihn die Juden jedoch als Verräter verdächtigten, ermordeten sie ihn 1946. Sein Sohn – Schmuels Vater – hatte in Riga am Kartografischen Institut studiert. In Haifa arbeitete er zunächst im staatlichen Vermessungsamt und gründete dann zusammen mit Laszlo Vermes ein eigenes Büro für Kartografie und technische Zeichnungen, das nun aber von dem Geschäftspartner in den Ruin getrieben worden ist.

Während Miri ihr Medizin-Studium in Rom fortsetzt und zur Finanzierung als Apothekenhelferin und Telegrafistin jobbt, bricht Schmuel das Studium der Geschichte und der Religionswissenschaft in Jerusalem ebenso ab wie seine Abschlussarbeit „Jesus in den Augen der Juden“, mit der er bei Prof. Gustav Jom-Tow Eisenschloss an der Universität Jerusalem den Master-Titel erwerben wollte.

Auf einem Aushang liest er, dass ein Student der Geisteswissenschaft gesucht wird, der gegen Kost und Logis einem 70-Jährigen jeden Abend fünf Stunden Gesellschaft leistet. Schmuel meldet sich bei der angegebenen Adresse in der Rav-Albas-Gasse am Rand des Jerusalemer Viertels Sche’arei Chesed. Bei den Auftraggebern handelt es sich um einen kultivierten, im Rollstuhl sitzenden Mann namens Gerschom Wald und eine 45-jährige unnahbare Frau mit dem Namen Atalja Abrabanel, die beide in dem Haus wohnen, in dem sie Schmuel eine Mansardenkammer anbieten. In welcher Beziehung Gerschom Wald und Atalja Abrabanel miteinander stehen, ist zunächst nicht erkennbar. Schmuel sieht die Frau nur selten. Wenn sie zu Hause ist, hält sie sich zumeist in ihrem Zimmer auf, und sie hat ihm verboten, an die Tür zu klopfen. Einmal in der Woche kommt eine Haushaltshilfe, und die Nachbarin Sara de Toledo bringt jeden Tag Essen für Gerschom Wald.

Erst nach einiger Zeit erfährt Schmuel, dass Ataljas Vater Schealtiel Abrabanel hieß. 1947 versuchte er Ben Gurion davon zu überzeugen, sich mit den Palästinensern gegen die Briten zu verbünden und einen gemeinsamen Staat zu gründen. Die Ausrufung eines jüdischen Staates, warnte er, würde zu blutigen Kriegen führen. Man hielt Schealtiel Abrabanel deshalb für einen araberfreundlichen Verräter, und er wurde ausgegrenzt.

Als seine Tochter Atalja zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter ihn und das Kind wegen eines griechischen Kaufmanns verlassen, der von Schealtiel Abrabanel wie ein eigener Sohn gefördert worden war. Atalja Abrabanel heiratete 1946 Micha Wald, das einzige Kind Gerschom Walds. Sie wohnten bei Ataljas Vater in dem Haus in der Rav-Albas-Gasse, und Schealtiel Abrabanel nahm auch den Vater seines Schwiegersohns auf. Micha Wald studierte Mathematik. Als Ende 1947 der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, hielt er es für seine Pflicht, sich zu melden, und Atalja konnte ihn nicht davon abhalten. Beim Einberufungsrat verschwieg Micha, dass er seit seinem neunten Lebensjahr mit nur einer Niere lebte. Er fiel am 2. April 1948 im Kampf um das Sha’ar HaGai. Als seine Leiche gefunden wurde, steckte in seinem Mund das abgeschnittene Gemächt.

Gerschom Wald fühlt sich schuldig am Tod seines Sohnes, weil er ihm die Überzeugung vermittelt hatte, dass die Juden Krieg gegen die Palästinenser führen müssen. Micha hörte nicht auf seinen Schwiegervater, der ein friedliches Miteinander von Juden und Palästinensern in einem gemeinsamen Staat für möglich und erstrebenswert hielt. Nach Michas Tod diskutierten Gerschom Wald und Schealtiel Abrabanel nicht mehr über Politik und sprachen nur noch das Nötigste miteinander. Obwohl Schealtiel Abrabanel viel geschrieben hatte, fand Atalja nichts mehr davon, nachdem er zwei Jahre nach Micha gestorben war. Er hatte alle Aufzeichnungen vernichtet.

Keiner von Schmuel Aschs Vorgängern hielt es länger als ein paar Monate in dem Haus in der Rav-Albas-Gasse aus. Gerschom Wald warnt Schmuel davor, sich wie die anderen in Atalja zu verlieben. Aber es ist zu spät: der 25-Jährige ist bereits auf die 20 Jahre ältere Frau fixiert, die ihn auf Distanz hält und ihr Geheimnis nicht preisgibt. Unvermittelt nimmt sie eines Tages seinen Vorschlag an, mit ihm ins Kino und anschließend in ein Restaurant zu gehen. Sie arbeitet in einer Detektei und nutzt Schmuel bei Beschattungen als Tarnung, aber sie mag ihn tatsächlich, auch wenn sie nicht vorhat, sich auf ein Verhältnis mit ihm oder einem anderen Mann einzulassen.

Bei einem der von Atalja bearbeiteten Fälle geht es um den Dichter Hiram Nechoschtan, der vor zwei Jahren einen Geldbetrag von einem Mann namens Elija Schwarzbojm lieh und das nun abstreitet. Allerdings gibt es eine Zeugin, die dabei war, als er das Geld in Empfang nahm. Sie heißt Esther Levi.

Nicht nur die Eltern, sondern auch die Schwester drängen Schmuel Asch in ihren Briefen, sein Studium fortzusetzen. Tatsächlich nimmt er die Beschäftigung mit der Abschlussarbeit „Jesus in den Augen der Juden“ wieder auf. Dabei fasziniert ihn vor allem Jehuda bzw. Judas Ischariot, dessen Name zum Synonym für einen niederträchtigen Verräter geworden ist. Leone da Modena (1571 – 1648) hielt Judas dagegen für den eigentliche Gründer der christlichen Religion. Während Jesus an seiner Mission zweifelte, glaubte Judas fest daran und war überzeugt, dass Jesus Gottes Sohn sei. Er betrieb die Kreuzigung, denn er ging davon aus, dass Jesus unsterblich sei und im richtigen Augenblick seine Göttlichkeit beweisen und zahlreiche Anhänger gewinnen würde. Weil sich die Römer nicht für Jesus interessierten, fiel es Judas schwer, dessen Gefangennahme herbeizuführen. Das gelang ihm nur, weil er wohlhabend war und über entsprechende Beziehungen verfügte. Vielleicht zahlte er sogar Schmiergeld. Dass er Jesus für 30 Silberlinge verraten haben soll, gehört in den Bereich der Legenden. Als Jesus dann wider Erwarten qualvoll am Kreuz starb, verlor Judas den Glauben und folgte ihm als einziger der Jünger in den Tod, indem er sich erhängte.

Bei einem Sturz auf der Treppe verletzt Schmuel sich am Knöchel. Im Krankenhaus wird der Fuß eingegipst. Weil er damit nicht zur Mansarde hinaufsteigen kann, stellt Atalja ihm das bisher verschlossene, sakrosankte Zimmer ihres Vaters zur Verfügung.

Dort geht sie zweimal mit ihm ins Bett, nachdem sie vorher das Bild ihres Vaters abgedeckt hat.

Als der Gips abgenommen wird und abzusehen ist, dass Schmuel bald wieder ohne Krücken gehen kann, wartet er vergeblich darauf, dass Atalja ihm vorschlägt, wieder in die Mansarde zu ziehen. Nach vier Monaten ist seine Zeit in dem Haus in der Rav-Albas-Gasse abgelaufen. Atalja hilft ihm beim Packen.

Schmuel lässt das verrostete Tor halb offen bzw. halb geschlossen hinter sich. Mit einem Bus fährt er zunächst von Jerusalem nach Be’er Scheva und von dort weiter zum Ramon-Krater in der Negev-Wüste, in die gerade erst entstehende Kleinstadt Mitzpe Ramon.

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In seinem melancholischen Roman „Judas“ entwickelt Amos Oz mit einer überraschend geringen Anzahl von Figuren mehrere Geschichten parallel: über Väter und Söhne, einen Vater und seine Tochter, über Liebe und Selbstfindung. Die Menschen in „Judas“ sind einsam, und das zentrale Thema ist der Verrat: Antek Asch, der Großvater des Protagonisten, wird für einen Doppelagenten gehalten und deshalb ermordet, Schmuel Aschs Vater geht nach dem Betrug eines Geschäftspartners bankrott, Schealtiel Abrabanel gilt wegen seiner politischen Überzeugungen als Verräter, seine Frau verlässt ihn mit einem von ihm protegierten Mann, Hiram Nechoschtan streitet ab, von Elija Schwarzbojm einen Kredit bekommen zu haben, und Schmuel Asch beschäftigt sich in seiner Abschlussarbeit für den Master-Titel mit Judas Ischariot, der als Inbegriff des Verräters gilt.

Amos Oz‘ Großonkel Joseph Gedalja Klausner (1874 – 1958) sah in Judas Ischariot dagegen einen Überzeugungstäter, der fest an Jesus glaubte und dessen Kreuzigung herbeiführte, weil er nicht daran zweifelte, dass er Jesus auf diese Weise die Möglichkeit verschaffen würde, seine Göttlichkeit spektakulär zu beweisen.

Auch mit der israelischen Staatsgründung beschäftigt sich Amos Oz in „Judas“. Dazu lässt er Schealtiel Abrabanel auftreten, eine fiktive Romanfigur, die Ben Gurion vergeblich davon abzuhalten versuchte, einen israelischen Staat auszurufen und stattdessen für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern eintrat.

Es wird deutlich, dass Amos Oz der Ansicht ist, dass es in einer Welt ohne religiöse Fanatiker und Weltverbesserer weniger Gewalt geben würde:

[…] wäre es besser für uns, […] uns vor den Weltverbesserern zu hüten, die immer mit Gemetzel, mit Kreuzzügen, mit heiligen Kriegen, mit sibirischen Arbeitslagern oder dem Kampf Gog gegen Demagog einhergehen.

Amos Oz entwickelt die Handlung aus der Perspektive des 25-jährigen Studenten Schmuel Asch. In einer Passage weicht er davon ab und lässt Judas Ischariot in der Ich-Form von der Kreuzigung berichten.

Der hebräische Originaltitel ließe sich wörtlich mit „Das Evangelium nach Judas“ übersetzen.

Den Roman „Judas“ von Amos Oz gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Brückner (Berlin 2015, ISBN 978-3-941004-67-2).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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