Adolf Muschg : Der Zusenn oder das Heimat

Der Zusenn oder das Heimat
Der Zusenn oder das Heimat in: Liebesgeschichten Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1972
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein kaum des Lesens und Schreibens kundiger Mann, der offenbar einer Straftat angeklagt ist, versucht dem Gericht in einem Brief seine Lage zu erläutern und schreibt, wie er nach einem Brand, bei dem er seine Frau und den jüngsten Sohn verloren hatte, mit seinen beiden Töchtern eine einsame Alm bewirtschaftete ...
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Kritik

Auf geschickte Weise sorgt Adolf Muschg in "Der Zusenn oder das Heimat" für Spannung, indem er zunächst nur Andeutungen einstreut und erst allmählich deutlicher wird. Am Ende setzt er noch eins drauf.
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Vielleicht ist es dem Untersuchungsgericht nicht bewusst, dass ich mit meiner Frau Elisabeth sel. 15 Jahre auf dem Fröschbrunnen gewirtschaftet habe und dabei gut beleumdet war, auch zu leben hatte, bis derselbe anno einundfünfzig aus zweifelhaften Gründen mit unserem damals zweijährigen Christian abbrannte und ich auch unser sämtliches Vieh sowie Fahrhabe verlor, weil das Feuer zu schnell um sich griff, auch der Löschzug nicht rechtzeitig zur Stelle war.

Da schreibt offenbar ein Angeklagter einen Brief an das Gericht, in dem er seine Lage zu erklären versucht.

Ein Jahr nach dem Brand starb seine Frau, mit der er vierundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war, „weil sie sich während der Brunst erkältet hatte, welches sich aber als Krebs herausstellte“. Sie ließ ihn mit den beiden drei bzw. zweiundzwanzig Jahre alten Töchtern Lina und Barbara zurück. Er kam mit ihnen schließlich auf der einsamen Torggelalm unter, die er von der Gemeinde gepachtet hatte. Anfangs ließen ihn die Bauern jeden Sommer fünfzehn bis zwanzig Rinder betreuen, aber zuletzt wurden es immer weniger. Das hing wohl mit Ereignissen zusammen, die fünfzehn Jahre nach dem Tod seiner Frau begannen.

Ich wusste es ja selbst nicht, dass ich als 57-Jähriger nochmals geplagt würde, und war es auch ein kalter Morgen. Ich wollte zum Füttern und sah, dass sie [Lina] noch kein Feuer gemacht hatte, sondern die Küche leer war, und der Atem blieben Ihnen vor der Nase stehen. Ich war erschrocken, liebes Untersuchungsgericht, denn kann nur sagen, dass so etwas in 10 Jahren noch nicht passiert war, auch wenn sie Bauchweh hatte, sie schleppte sich hinunter und stellte den Kaffee auf den Herd. Alle Fenster waren gefroren und alles wie in einem Friedhof, da hätte ich Sie sehen sollen, denn so still war es seit dem Tod meiner Frau nie mehr gewesen.

Das Schlimmste befürchtend, ging er hinauf zur Kammer seiner inzwischen siebenunddreißigjährigen Tochter und öffnete die Tür. Da glaubte er seine verstorbene Frau vor sich zu sehen, im Nachthemd und sich die allmählich ergrauenden Haare bürstend.

[…] dass ich mich vom Schrecken her in einem abnormalen Zustand befand. Deshalb spielte sich alles so schnell ab, dass ich mich nicht mehr erinnern kann […] Ich weiß auf Ehre und Seligkeit nur noch, dass mir plötzlich leichter wurde und das Gesicht Linas mit einem rosigen und müden Ausdruck, den sie seit Kindesbeinen nie mehr gehabt hatte, neben mir auf dem Kissen lag, und wir beide atmeten.

Am Abend konnte er selbst nach ein paar Gläsern Branntwein nicht schlafen. Da ging er wieder hinüber zu Lina.

Einige Zeit später sorgte er sich um seine jüngere Tochter, die – nur durch eine dünne Wand von der Kammer Linas getrennt – alles mit anhörte. Auf keinen Fall wollte er, dass sie den Eindruck hatte, er zöge ihr Lina vor.

Drum musste ich sie drannehmen, und nicht, weil ich geplagt war. Nachher war Ordnung bei uns, da können Sie jeden fragen, und wenn es Sünde war und jetzt keiner mehr etwas von uns wissen will, so bitte ich Sie doch, aus dem geschl. Verkehr kein übertriebenes Wesen zu machen, welches wir auch nicht taten, sondern der Frieden war die Hauptsache, und haben wir ja keinen Menschen gestört […]

Der Briefschreiber versichert dem Gericht, dass er „den Verkehr niemals als solchen betrieb, sondern damit die Mädchen etwas Freundliches hatten im Leben“.

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Ein einfacher, kaum des Lesens und Schreibens mächtiger Senner, der offenbar einer Straftat angeklagt ist, schreibt dem Gericht und versucht seine Lage zu erläutern. Entsprechend ungelenk ist die Sprache, die Adolf Muschg ihm verleiht. Auf geschickte Weise sorgt Muschg in „Der Zusenn oder das Heimat“ für Spannung, indem er zunächst nur Andeutungen einstreut und erst allmählich deutlicher wird. Sobald dann klar ist, dass es sich um ein inzestuöses Verhältnis zwischen dem Vater und seiner älteren Tochter handelt, setzt Muschg noch eins drauf. Der Reiz der Erzählung „Der Zusenn oder das Heimat“ liegt auch in der Diskrepanz zwischen der Tat und ihrer Einschätzung durch den einfältigen Briefschreiber.

Die Erzählung „Der Zusenn oder das Heimat“ von Adolf Muschg gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Walo Lüönd (Regie: Christian Jauslin, ISBN 978-3-85616-414-0).

Friedrich Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon im Kanton Zürich geboren, und zwar als Sohn des Grundschullehrers Friedrich Adolf Muschg Senior (1872 – 1948) und dessen zweiter Ehefrau Frieda (geb. Ernst), einer Krankenschwester. Adolf Muschgs Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30. Ab 1946 besuchte Adolf Muschg das Kantonale Literargymnasium in Zürich. Nach zwei Jahren im Internat der Evangelischen Lehranstalt Schiers schloss er die Schulbildung 1953 mit der Matura am Literargymnasium Rämibühl in Zürich ab. Adolf Muschg studierte von 1953 bis 1959 Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und zwischendurch in Cambridge. 1959 promovierte er mit einer Dissertation über Ernst Barlach bei Emil Staiger in Zürich.

Von 1959 bis 1962 unterrichtete Adolf Muschg Deutsch an der Kantonalen Oberrealschule in Zürich. Dann lehrte er an der International Christian University Tokyo (1962 – 1964), als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen (1964 – 1967), Assistant Professor an der Cornell University in Ithaca/New York (1967 – 1969) und Forscher an der Universität Genf (1969/70). 1970 wurde Adolf Muschg als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen. Nachdem er 1997 noch ein Graduiertenkolleg an der Semper-Sternwarte Zürich gegründet hatte, emeritierte Adolf Muschg 1999. ➤ Fortsetzung

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Inzest

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