Haruki Murakami : Die Ermordung des Commendatore

Die Ermordung des Commendatore
Originalausgabe: Tokio 2017 Die Ermordung des Commendatore Übersetzung: Ursula Gräfe DuMont Buchverlag, Köln 2018 Band 1: Eine Idee erscheint ISBN: 978-3-8321-9891-6, 480 Seiten Band 2: Eine Metapher wandelt sich ISBN: 978-3-8321-9892-3, ca 500 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein japanischer Künstler, dessen Namen wir nicht erfahren, zieht sich nach der Trennung seiner Frau von ihm in das leer stehende Haus des berühmten, inzwischen in einem Pflegeheim lebenden Malers Tomohiko Amada zurück. Auf dem Dachboden findet er ein Gemälde mit dem Titel "Die Ermordung des Commendatore", dessen Szene er mit der Tötung des Komturs in Mozarts Oper "Don Giovanni" assoziiert. Bevor er heraus­findet, was es damit auf sich hat, gibt ein in der Nähe lebender geheimnisvoller Herr ein Porträt in Auftrag ...
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Kritik

Der Roman "Die Ermordung des Commendatore" von Haruki Murakami ist voller Anspielungen, Symbole und Metaphern. Er dreht sich um die Kunst und die Frage nach der Wechselwirkung von Original und Abbild, Realität und Darstellung.
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Trennung

Nach sechs Jahren Ehe erklärt die 33-jährige Holzbau-Architektin Yuzu ihrem drei Jahre älteren Ehemann ruhig, dass sie nicht länger mit ihm zusammenleben könne. Obwohl ihn das überrascht, fügt er sich und verlässt noch am selben Tag die gemeinsame Wohnung in Tokio. Er fährt ziellos herum und hängt Erinnerungen nach.

Beispielsweise denkt er an seine drei Jahre jüngere Schwester Komichi („Komi“), die an einem Herzfehler litt und starb, als er 15 Jahre alt war. Weil er später gegen den Willen seines Vaters Kunst studierte, überwarf er sich mit ihm und hat inzwischen keinen Kontakt mehr zur Familie.

Das Haus des Malers

Nach einer sechswöchigen Odyssee quartiert er sich in einem hoch in den Bergen von Odawara stehenden Haus ein. Weil es an einer Wetterscheide steht, kommt es vor, dass es auf der einen Seite des Grundstücks regnet, während auf der anderen die Sonne scheint.

Es gehört dem berühmten, inzwischen 92 Jahre alten Maler Tomohiko Amada, der wegen seiner Demenz seit einiger Zeit in einem Pflegeheim auf dem Plateau von Izu lebt. Sein Sohn Masahiko Amada überlässt das leer stehende Haus gern seinem Freund, mit dem er an der Kunsthochschule studierte. Er verlangt dafür auch nur eine symbolische Miete. Masahiko Amada arbeitet als Grafikdesigner bei einer Werbefirma – anders als sein zwei Jahre jüngerer Freund, der sein Geld bisher mit konventionellen Auftragsporträts verdiente, obwohl er die abstrakte Malerei bevorzugt hätte. Seit seiner Trennung von Yuzu nimmt er allerdings keine Aufträge mehr an.

In dem einsamen Haus auf dem Berg versucht er, seinen eigenen Stil zu finden, aber nach vier Monaten ist die Leinwand auf der Staffelei noch immer leer. Um nicht ganz den Kontakt zu anderen Menschen zu verlieren, gibt er Malkurse im Kulturzentrum am Bahnhof von Odawara.

Das Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“

Als er Geräusche auf dem Dachboden hört, entdeckt er eine verborgene Luke und steigt hinauf. Er findet nicht nur eine Eule vor, sondern auch ein eingewickeltes Gemälde. Obwohl er nur Gast oder Mieter in dem Haus ist, nimmt er es mit nach unten und packt es aus. Zweifellos stammt das Kunstwerk im Nihonga-Stil mit dem Titel „Die Ermordung des Commendatore“ von Tomohiko Amada. (Bei Nihonga handelt es sich um eine japanische Malweise mit Mineralfarben ohne Schatten und Zentralperspektive.) Der Commendatore wird von einem jüngeren Mann vor den Augen von drei anderen Personen erstochen. Die junge Frau und der andere Mann sind erschrocken und entsetzt. Aus einer Bodenluke blickt noch jemand auf das aus der Brust des Commendatore spritzende Blut. Der Betrachter des Bildes, der im Haus des Meisters eine umfangreiche Sammlung von Opernplatten vorgefunden hat, assoziiert „Die Ermordung des Commendatore“ mit Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Giovanni“. Gleich zu Beginn versucht Don Giovanni, Donna Anna zu verführen, obwohl sie mit Ottavio verlobt ist, aber er trifft auf ihren Vater, den Komtur, der ihn zum Duell herausfordert. Nachdem Don Giovanni den Komtur erstochen hat, entkommt er mit seinem Diener Leporello unerkannt.

Tomohiko Amada hatte sein in Tokio begonnenes Studium 1936 in Wien fortgesetzt und spätestens in dieser Zeit die Mozart-Oper kennengelernt. Seine österreichische Freundin engagierte sich mit seinem Wissen in der studentischen Widerstandsgruppe „Candela“, die im Herbst 1938 ein Attentat auf einen hohen NS-Funktionär plante. Bevor der Anschlag durchgeführt werden konnte, verhaftete die Gestapo die Verschwörer. Sie wurden alle getötet – bis auf Tomohiko Amada, dessen Rückreise nach Tokio die japanische Botschaft in Berlin Anfang 1939 unauffällig organisierte. In der Öffentlichkeit wurde nichts über das missglückte Attentat bekannt, möglicherweise weil es sich bei Tomohiko Amadas Freundin um die Tochter des NS-Funktionärs gehandelt hatte.

Vor diesem Hintergrund hält der Betrachter des Bildes den von Tomohiko Amadas gemalten Commendatore für den NS-Funktionär. Anders als der Nationalsozialist wird der Commendatore auf dem Gemälde erstochen. Der einzige Überlebende der Widerstandsgruppe brachte das Attentat zumindest symbolisch zu Ende.

Ein geheimnisvoller Nachbar

Obwohl der Maler keine Aufträge mehr annehmen will, ruft ihn sein Agent an und teilt ihm mit, dass ein geheimnisvoller Auftraggeber eine enorme Geldsumme für ein Porträt geboten habe.

Bei dem Interessenten handelt es sich um den Bewohner einer von der Terrasse des Berghauses sichtbaren weißen Villa auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Der 54-Jährige heißt Wataru Menshiki. Sein IT-Unternehmen verkaufte er vor einigen Jahren an einen Konzern. Vor drei Jahren verließ er Tokio und zog in die kurz zuvor erworbene Villa. Er wohnt dort ganz allein. Vor sechs oder sieben Jahren saß er längere Zeit in Untersuchungshaft, wurde aber am Ende nicht verurteilt. Die ihm vorgeworfenen Straftaten Insider­handel und Steuer­hinter­ziehung hatten sich nicht beweisen lassen.

Ich setzte mich im Wohnzimmer aufs Sofa und ließ meine Unterhaltung mit Menshiki Revue passieren. Anfangs hatten wir über das Modellsitzen gesprochen und über den Rosenkavalier von Strauss. Dann hatte er mir von seiner IT-Firma erzählt und davon, dass er durch ihren Verkauf genug verdient habe, um sich in verhältnismäßig jungen Jahren zur Ruhe setzen zu können. Dass er allein in dem großen Haus lebe und sein Vorname Wataru sei. Wataru wie in „einen Fluss überqueren“. Dass er frühzeitig weißes Haar bekommen habe, noch nie verheiratet gewesen, Linkshänder und vierundfünfzig Jahre alt sei. Er hatte bemerkt, dass die gewaltige Veränderung in Tomohiko Amadas Leben eine Chance gewesen war, die dieser nicht versäumt hatte zu ergreifen. Anschließend hatten wir über die Definition der Nihonga-Malerei gesprochen. Zum Schluss war noch die Frage nach der Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen aufgekommen. […]
Nach dem Gespräch mit Menshiki war ich seltsam aufgewühlt. Und meine Neugier war noch gewachsen.

Kurz nachdem die Arbeit an dem Porträt begonnen wurde, hört der Maler mitten in der Nacht leise Glockentöne. Er berichtet Wataru Menshiki davon, und der kommt in der folgenden Nacht neugierig herüber, um der Sache nachzugehen. Die Töne kommen aus einem Steinhaufen bei einem Schrein auf dem Grundstück. Eifrig sorgt Wataru Menshiki dafür, dass ihm ein befreundeter Bauunternehmer Arbeiter und einen Bagger zur Verfügung stellt. Nachdem die schweren Steine weggeschafft wurden, kommt darunter eine sorgfältig ausgemauerte Kammer zum Vorschein. Darin liegt ein Glockenstab. Den bringen sie ins Maleratelier. Wataru Menshiki gibt dem Künstler ein Buch von Ueda Akinari zu lesen. Eine der Erzählungen – „Die Bande über zwei Leben“ – handelt von einer buddhistischen Selbstmumifizierung (Sokushinbutsu). Aber in der Grube fanden sie keine Mumie. Wer brachte den Glockenstab zum Klingen?

Impulsiv und ohne nachzudenken pinselt, spachtelt und schleudert der Künstler Farbe auf die Leinwand und stellt dann erstaunt fest, dass er mit dem abstrakten Gemälde den Kern von Wataru Menshikis Persönlichkeit erfasst hat. Der Auftraggeber ist mehr als zufrieden mit dem Porträt, das eigentlich keines ist. Obwohl die Farbe noch nicht trocken ist, nimmt er es mit und überweist den vereinbarten Geldbetrag mit einem Zuschlag.

Der Commendatore

Der Maler glaubt, seinen Stil gefunden zu haben und beginnt mit einem zweiten Porträt. Es stellt einen Mann dar, der vermutlich eine Frau verfolgte, die sich Hilfe suchend an den Künstler gewandt hatte. Das geschah während seiner sechswöchigen Odyssee. Sie fuhr mit ihm in ein Love-Hotel, und bei dem One-Night-Stand forderte sie ihn zu Gewalttätigkeiten auf. Am anderen Morgen war sie verschwunden. Der Maler nennt das neue Gemälde „Mann mit weißem Subaru Forester“.

Nachts hört er wieder die Glockentöne. Er steht auf, um nachzusehen und entdeckt ein Wesen, das wie der Commendatore auf dem Bild gekleidet und ebenso groß ist. Er sei kein Geist, versichert der Commendatore, sondern eine Idee. Und er bedankt sich für seine Befreiung aus der Grube.

Der Commendatore begleitet den Maler auch zu der weißen Villa auf der anderen Seite des Tals, als Wataru Menshiki zur Feier der Fertigstellung seines Porträts zu einem erlesenen Abendessen einlädt. Allerdings bleibt der Commendatore für den Gastgeber unsichtbar.

Marie

Wataru Menshiki vertraut seinem neuen Freund an, dass er wahrscheinlich eine Tochter habe. Vor längerer Zeit pflegte er zweieinhalb Jahre lang eine Liebes­beziehung mit einer zehn Jahre jüngeren Frau. Eines Abends überraschte sie ihn im Büro und drängte ihn dort zum Geschlechtsverkehr. Danach brach sie ohne ein Wort der Erklärung den Kontakt zu ihm ab. Zwei Monate später heiratete sie den 15 Jahre älteren Immobilien­händler Yoshinobu Akikawa, und sieben Monate nach der Eheschließung brachte sie eine Tochter zur Welt. Marie Akikawa ist jetzt 13 Jahre alt. Die Mutter starb vor sieben Jahren nach dem Angriff eines Wespen­schwarms. Der Witwer wohnt mit Marie und seiner unverheirateten jüngeren Schwester Shoko Akikawa auf einem Anwesen, das von der Villa, die Wataru Menshiki vor drei Jahren eben aus diesem Grund erwarb, zu sehen ist.

Wataru Menshiki weiß, dass Marie Akikawa einen der Malkurse des Künstlers im Kulturzentrum besucht. Und er wünscht sich ein Porträt des Mädchens, das wahrscheinlich seine Tochter ist.

Shoko Akikawa bringt ihre Nichte zum Modell-Sitzen ins Berghaus. Obwohl die Entfernung zwischen den beiden Anwesen gering ist, gibt es keine Sichtverbindung, und aufgrund der Topografie ist mit dem Auto ein weiter Umweg erforderlich.

Nachdem Wataru Menshiki seine mögliche Tochter und deren Tante bei dem Maler kennengelernt hat, lädt er die beiden zur Besichtigung des kürzlich gemalten Porträts in seine Villa ein.

Marie merkt bald, dass ihre Tante eine Liebesbeziehung mit Wataru Menshiki begonnen hat und argwöhnt, dass der reiche Mann seine wahren Absichten verbirgt. Der Maler verdächtigt seinen eigenwilligen Freund, sich über Shoko Akikawa näher an Marie heranmachen zu wollen, aber Wataru Menshiki beteuert, er habe sich ohne Absicht in die schöne Frau verliebt.

Während Marie gegenüber dem Geliebten ihrer Tante auf Distanz bleibt, gewinnt der Künstler ihr Vertrauen, und sie schleicht sich hin und wieder heimlich auf einem verborgenen Pfad zu ihm, um mit ihm zu reden.

Der Künstler lässt das Gemälde „Mann mit weißem Subaru Forester“ unvollendet. Während er an Maries Porträt arbeitet, malt er zugleich die geheimnisvolle „Grube im Wäldchen“.

Träume?

Eines Nachts wacht er auf und glaubt Geräusche gehört zu haben. Er steht auf und sieht im Atelier Tomohiko Amada auf einem Hocker sitzen. Der Greis – der eigentlich in einer Seniorenresident auf dem Plateau von Izu lebt – starrt auf das Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ und nimmt keine Notiz von ihm. Aufgrund dieser Begegnung bittet der Maler seinen Freund Masahiko Amada, ihn beim nächsten Besuch seines Vaters mitzunehmen.

Von Masahiko Amada erfährt er, dass Yuzu im siebten Monat schwanger ist. Das wundert ihren Ex-Mann, denn sie wollte nicht Mutter werden. Noch erstaunlicher ist, dass sie sich entschlossen hat, das Kind auszutragen, aber sich von ihrem Freund zu trennen und das Sorgerecht für sich allein zu beanspruchen.

Aus den Angaben seines Freundes schließt der Künstler, dass Yuzu Mitte April, einen Monat nach seinem Auszug, schwanger wurde. Genau zu diesem Zeitpunkt träumte er, wie er die Schlafende entkleidete, in sie eindrang und in ihrer Vagina kraftvoll ejakulierte, ohne dass sie aufwachte.

Zwei Vermisste

Eines Freitags fehlt Marie im Zeichenkurs. Am Abend ruft Shoko Akikawa den Maler an. Sie macht sich Sorgen, weil das Mädchen seit dem Schulbesuch am Vormittag verschwunden ist.

Am nächsten Tag holt Masahiko Amada seinen Freund mit dem Auto ab und fährt mit ihm zu der Seniorenresidenz, in der er seinen dementen Vater untergebracht hat. Während einer Rast sieht der Künstler den weißen Subaru auf den Parkplatz fahren, aber ein Reisebus versperrt ihm kurz die Sicht und danach ist der Fahrer bereits fortgegangen.

Während des Besuchs bei Tomohiko Amada verlässt dessen Sohn das Zimmer, um ein längeres geschäftliches Telefonat zu führen. Da taucht der Commendatore auf. Tomohiko Amada starrt ihn an. Offenbar erinnert er sich trotz seiner Demenz an das Gemälde und sieht den Menschen vor sich, der 1938 bei dem Attentat hatte sterben sollen. Der Commendatore fordert den jüngeren Maler eindringlich auf, ihn zu erstechen. In einer Schublade findet der 36-Jährige ein auf dem Berghaus verschwundenes Filetiermesser. Das sticht er dem Commendatore ins Herz. In diesem Augenblick öffnet sich wie auf dem Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ eine Bodenluke und ein Mann schaut auf das aus der Wunde spritzende Blut.

Durch die Bodenluke gelangt der Maler in eine unbelebte Gegend. Er erreicht einen reißenden Fluss, trinkt durstig daraus und findet schließlich einen gesichtslosen Fährmann, der ihn zum anderen Ufer bringt. Dort wartet am Eingang einer Höhle eine Frau auf ihm, die aussieht wie auf dem Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ und von dem Künstler mit der Opernfigur Donna Anna assoziiert wird. Sie führt ihn ein Stück weit in die Höhle, in der er als Kind mit seiner Schwester Komichi war, deren Stimme er nun hört. Als der Gang zu eng wird, bleiben die Frauen zurück. Der Maler zwängt sich weiter durch, bis er im Dunkeln wie aus einem Geburtskanal herausfällt. Obwohl er nichts sieht, weiß er, dass er sich auf dem Boden der geheimnisvollen Grube nahe des Berghauses in Odawara befindet. Auch der aus dem Atelier verschwundene Glockenstab ist da. Der Maler läutet ihn, bis Wataru Menshiki die Abdeckung entfernt, eine Leiter herunterlässt und ihn herausholt.

Marie

Der Gerettete erfährt, dass es Dienstag ist und Marie am Vormittag bei ihrer Tante auftauchte. Die zeitliche Koinzidenz könne kein Zufall sein, denkt der Maler.

Weil Marie behauptet, sie erinnere sich nicht an die Geschehnisse zwischen Freitag und Dienstag, bringt ihre Tante sie zu dem Maler, von dem sie weiß, dass Marie ihm vertraut.

Unter vier Augen berichtet ihm das Mädchen, was geschah. Weil Marie mehr über Wataru Menshikis Absichten herausfinden wollte, wartete sie am Freitag nach der Schule vor seinem Anwesen, bis sich das Tor für einen Lieferwagen öffnete und sie unbemerkt hindurch­schlüpfen konnte. Später gelangte sie durch die Garage ins Haus. Dort verbarg sie sich zunächst in einem begehbaren Kleiderschrank, in dem die gediegene, aber seit vielen Jahren aus der Mode gekommene Garderobe einer Frau hing. (Der Maler ahnt, dass die Kleidungsstücke ihrer Mutter gehörten und aus der Zeit stammen, in der sie mit Wataru Menshiki zusammen war.) Während der Hausherr duschte, führte der Commendatore Marie zu einem besseren Versteck im Keller der Villa. Dort harrte sie aus, bis am Dienstagmorgen Mitarbeiter einer Reinigungsfirma kamen, Türen offen ließen und sich Marie unbemerkt davonstehlen konnte.

Der Künstler beschließt, Maries Porträt unvollendet zu lassen. Er schenkt es ihr. Und sie hilft ihm, die beiden Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ und „Mann mit weißem Subaru Forester“ gut verpackt auf den Dachboden zu bringen, wo er ihr auch die dort hausende Eule zeigt.

Ausklang

Das Bild „Grube im Wäldchen“ schenkt er Wataru Menshiki.

Seine verheiratete Geliebte beendet die Affäre mit ihm. Er kündigt im Kulturzentrum und teilt seinem Agenten in Tokio mit, dass er wieder Aufträge für Porträts annehmen werde.

Dann trifft er sich mit Yuzu in Tokio. Weil sie die von ihm unterschriebenen und zurückgeschickten Scheidungspapiere nicht einreichte, sind sie vor dem Gesetz noch immer ein Ehepaar. Sie beschließen, wieder zusammenzuleben und das Kind gemeinsam aufzuziehen. Yuzu kann sich nicht vorstellen, dass es von ihrem Freund gezeugt wurde. Wie sie trotz sorgfältiger Verhütung schwanger wurde, ist ihr unerklärlich.

Die Tochter erhält den Namen Muro. Ebenso wie Wataru Menshiki versucht der Maler nicht, durch einen DNA-Test herauszufinden, ob er biologisch der Vater ist.

Ich würde nie wie Menshiki sein. Er balancierte sein Leben zwischen der Möglichkeit aus, dass Marie Akikawa vielleicht seine Tochter war oder vielleicht auch nicht. Er versuchte den Sinn seiner Existenz in einem endlosen Schwanken zu finden, indem er diese beiden Möglichkeiten in die Waagschale warf. Doch ich brauchte keine so anstrengende (und doch ein wenig unnatürliche) Herausforderung, denn aus irgendeinem Grund besaß ich die Kraft zu glauben. Ich war in der Lage, aufrichtig darauf zu vertrauen, dass es, ganz gleich, in welcher engen Dunkelheit ich gefangen war, ganz gleich, in welche öde Wildnis es mich verschlagen hatte, immer etwas gab, das mich herausführen würde. Das hatten mich meine ungewöhnlichen Erlebnisse in dem Haus auf dem Berg bei Odawara gelehrt.

Tomohiko Amada starb eine Woche nachdem er in seinem Zimmer in der Seniorenresidenz die Ermordung des Commendatore erlebt hatte. Sein Berghaus in Odawara brennt zwei Monate nach dem Erdbeben in Tohoku am 11. März 2011 aus ungeklärter Ursache nieder. Nur der Künstler und Marie wissen, dass das Feuer auch die Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ und „Mann mit weißem Subaru Forester“ zerstörte.

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Der Roman „Die Ermordung des Commendatore“ von Haruki Murakami besteht aus zwei Bänden mit den Untertiteln „Eine Idee erscheint“ (Prolog und Kapitel 1 bis 32) und „Eine Metapher wandelt sich“ (Kapitel 33 bis 64).

Im Mittelpunkt steht ein aus der Bahn geworfener japanischer Künstler, den Haruki Murakami in der Ich-Form erzählen lässt und dessen Namen wir nicht erfahren. Das Porträt, das er von Wataru Menshiki malt, besteht aus abstrakten Linien und Farben – wie Frenhofers Porträt der „schönen Querulantin“ in der Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“ von Honoré de Balzac. Auffallend sind der Fatalismus und die Emotionslosigkeit des Protagonisten.

„Die Ermordung des Commendatore“ dreht sich um die Kunst und die Frage nach der Wechselwirkung von Original und Abbild, Realität und Darstellung.

Der Roman ist voller Anspielungen, Symbole und Metaphern. Der Name des geheimnisvollen Auftraggebers bedeutet beispielsweise „Farbe vermeiden“ (Menshiki) und „einen Fluss überqueren“ (Wataru). Bei der mit einem zusammengestürzten Tumulus aus Steinen bedeckten, sorgfältig ausgemauerten Grube im Boden neben einem Schrein könnte Haruki Murakami sowohl ans Unterbewusstsein als auch an ein weibliches Geschlecht gedacht haben. Damit hängt die auf dem Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ abgebildete und in einer Seniorenresidenz sich öffnende Bodenklappe zusammen, die wiederum von einer versteckten Luke zum Dachboden gespiegelt wird.

Zwischen dieser versteckten Öffnung im Boden und der abgedeckten Grube liegt die „Schlucht zwischen Sein und Nichtsein“, die von einem reißenden Fluss durchströmt wird, bei dem Haruki Murakami offenkundig an den Styx der griechischen Mythologie dachte, den Grenzfluss zwischen dem Hades und der Welt der Lebenden. Den Fährmann Charon stellt sich der Schriftsteller gesichtslos vor. Auf ihn bezieht sich bereits der Prolog des Romans „Die Ermordung des Commendatore“:

Als ich heute nach einem kurzen Mittagsschlaf erwachte, sah ich den „Mann ohne Gesicht“ vor mir. Er saß auf einem Stuhl gegenüber dem Sofa, auf dem ich geschlafen hatte, und blickte mich aus seinen nicht vorhandenen Augen an.
Der Mann war groß und sah überhaupt genauso aus wie bei unserer letzten Begegnung. Sein gesichtsloses Gesicht war zur Hälfte von einem schwarzen Hut mit breiter Krempe verdeckt, und er trug einen langen Mantel in einem dunklen Farbton.
„Ich will, dass du mich porträtierst“, sagte der Mann ohne Gesicht, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich wach war. […]
Ich saß in der Klemme. „Das sagen Sie so einfach, aber ich habe noch nie jemanden ohne Gesicht porträtiert.“

Im ersten Band führt Haruki Murakami Romanfiguren ein, die neugierig machen. Immer wieder deutet er verhängnisvolle Entwicklungen an und sorgt auf diese Weise für Spannung.

Als ich das Bild mit dem Titel Die Ermordung des Commendatore von Tomohiko Amada entdeckte, waren bereits mehrere Monate vergangen. Und damals konnte ich es noch nicht wissen, aber dieses eine Bild sollte mein Leben völlig verändern.

Aber der zweite Band erfüllt die zunächst geweckten Erwartungen nicht. Der Protagonist kehrt am Ende nach Tokio zurück und nimmt wieder Aufträge für Porträts an, statt sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Während die surrealen Elemente in „Eine Idee erscheint“ reizvoll eingestreut sind, gewinnen sie in „Eine Metapher wandelt sich“ die Oberhand und degradieren den zweiten Band zu banaler Fantasy. Die wird durch einen Topos wie den von der unbefleckten Empfängnis bzw. Jungfrauengeburt nicht besser. Und dass die 13-jährige Marie in den Gesprächen mit dem Maler immer wieder erwähnt, wie ungeduldig sie auf das Wachsen ihrer Brüste wartet, wird durch die ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger. Ihr Bericht über die vier Tage, in denen sie vermisst wurde, ist langweilig. Da sind Haruki Murakami längst die Ideen ausgegangen.

Den Roman „Die Ermordung des Commendatore“ von Haruki Murakami gibt es auch als zweiteiliges Hörbuch, gelesen von David Nathan.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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