Lemming

Lemming

Lemming

Lemming – Originaltitel: Lemming – Regie: Dominik Moll – Drehbuch: Gilles Marchand, Dominik Moll – Kamera: Jean-Marc Fabre – Schnitt: Mike Fromentin – Darsteller: Laurent Lucas, Charlotte Gainsbourg, Charlotte Rampling, André Dussollier, Jacques Bonnaffé, Véronique Affholder u.a. – 2005; 130 Minuten

Inhaltsangabe

Der erste Abend des glücklich verheirateten Yuppie-Paares Alain und Bénédicte Getty mit Alains Chef Richard Pollock und dessen Frau Alice endet wie ein Albtraum: Alice lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Ehe eine Hölle ist. Am nächsten Tag versucht sie, Alain zu verführen und geht dann zu Bénédicte, um es ihr zu erzählen. Statt den angebotenen Kaffee zu trinken, erschießt sie sich im Gästezimmer der Gettys. Danach ist nichts mehr wie zuvor ...
mehr erfahren

Kritik

"Lemming" handelt von den Abgründen, die hinter den Kulissen der Alltagswelt lauern. Mit Alain verlieren wir Zuschauer den Boden unter den Füßen. Vieles ist mysteriös, aber die Spannung bleibt bis zum Schluss, und die Inszenierung ist brillant.
mehr erfahren

Das seit drei Jahren verheiratete Yuppie-Paar Alain und Bénédicte Getty (Laurent Lucas, Charlotte Gainsbourg) zog kürzlich in ein Haus in Bel-Air, einem Vorort einer südfranzösischen Stadt, in der Alain von der Firma Pollock als Entwicklungsingenieur für neuartige Geräte der Haushaltstechnik eingestellt wurde. Die Gettys sind kühl und modern eingerichtet. Ausgerechnet an dem Abend, an dem sie Richard Pollock (André Dussollier) mit seiner Frau Alice (Charlotte Rampling) zum Essen erwarten, ist der Abfluss der Küchenspüle verstopft.

Alain und Bénédicte rechnen schon gar nicht mehr mit ihren Gästen, als diese doch noch auftauchen. Richard entschuldigt sich für die Verspätung; Alice nimmt ihre Sonnenbrille nicht ab und redet zunächst kaum ein Wort. Bei der Vorspeise klingelt Richards Handy. Er blickt aufs Display und schaltet es aus. „War das eine deiner Nutten?“, fragt Alice. Voller Hass fährt sie fort: Sie seien zu spät gekommen, weil sich Richard zu lange bei einer Nutte aufgehalten habe. Mühsam versuchen die Gastgeber, den Abend zu retten, doch es gelingt ihnen nicht: Nachdem Alice ihrem Mann auch noch ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet hat, verabschieden sich die Pollocks.

„Wenn ich auch mal so werde, erschieß mich!“, sagt Bénédicte danach zu Alain.

Weil Alain nicht schlafen kann, schraubt er den Siphon ab und entdeckt im Abflussrohr ein leblos aussehendes Tier, das er für einen Hamster hält.

Am nächsten Morgen bemerkt Bénédicte, dass das Tier noch lebt. Sie bringt es zu einem Tierarzt (Michel Cassagne), der feststellt, dass es sich um einen Lemming (Lemmus lemmus) handelt. Seltsam findet er das, weil es Lemminge nur im Norden Skandinaviens gibt.

Alain arbeitet an diesem Tag noch spätabends in der Firma an einem mit einer Webkamera ausgerüsteten Minihubschrauber, der übers Handy ferngesteuert wird. Das neuartige Produkt soll es ermöglichen, im Fall eines aufs Handy übertragenen Alarms in alle Ecken des eigenen Hauses zu blicken. – Alice geht am Korridor vorbei, erkennt Alain und betritt sein Labor. Sie behauptet, Richard habe vor zwanzig Jahren versucht, sie zu ermorden. Dennoch sei sie bei ihm geblieben, denn sie wolle ihn „verrecken“ sehen. Unverblümt fragt sie Alain, ob er mit ihr schlafen wolle und erklärt ihm, er dürfe alles mit ihr machen, ohne befürchten zu müssen, dass es sie schockiere. Ihre Lippen berühren sich, aber Alain beherrscht sich und weist sie zurück. „Der Körper sagt ja, der Kopf nein“, konstatiert Alice enttäuscht.

Während die Kanalisation mit einer Videokamera überprüft wird, taucht Alice vor dem Haus der Gettys auf. Bénédicte bittet sie zu einer Tasse Kaffee ins Haus. Doch statt den angebotenen Kaffee zu trinken, möchte Alice sich hinlegen und eine Weile schlafen. Vorher erzählt sie Bénédicte noch, dass sie vergeblich versucht habe, Alain zu verführen. – Als Alain nach Hause kommt und Bénédicte Alice zum Abendessen einlädt, schließt diese sich ein und zertrümmert die Einrichtung des Zimmers. Dann ist ein Schuss zu hören. Alain bricht die Tür auf: Alice hat sich erschossen.

Nachts steht Bénédicte auf und legt sich in das Bett des Gästezimmers, in dem sich Alice tötete.

Noch vor der Einäscherung der Leiche fahren Alain und Richard aus geschäftlichen Gründen nach Biarritz. Gleich nach der Ankunft ruft Alain seine Frau an. Mit einer ungewohnt rauen Stimme und mit einer rüden Wortwahl fordert sie ihn auf, sie in Ruhe zu lassen und legt auf. Besorgt leiht Alain sich von seinem Chef – in dessen Zimmer er zwei Prostituierte sieht – den Wagen und fährt zurück nach Bel-Air. Bénédicte schläft, und bevor es ihm gelingt, sie wachzurütteln, hört Alain Geräusche aus der Küche. Er öffnet die Tür und prallt vor tausenden von Lemmingen zurück, die dort herumwuseln. Dabei stürzt er über eine Stufe und verletzt sich am Arm.

Im Krankenhaus kommt er wieder zu sich. Bénédicte sitzt an seinem Bett und klärt ihn darüber auf, dass er einen Autounfall hatte. Alain kann es kaum glauben, dass er nicht wirklich in dieser Nacht zu Hause war.

Richard stellt dem jungen Paar sein idyllisch an einem See gelegenes Ferienhäuschen zur Verfügung, damit Alain sich ganz von den Folgen des Unfalls erholen kann. – Am Seeufer fragt Bénédicte ihren Mann unvermittelt, warum er ihr nichts von dem Besuch Alices in seinem Büro erzählt habe. Zögernd beginnt Alain zu berichten, aber Bénédicte kennt offenbar jedes Wort, das er mit Alice sprach. Schließlich spielt sie die Szene mit ihm nach und fordert ihn auf, sie Alice zu nennen. Nach dem Orgasmus schläft Alain ein. Als er erwacht, ist das Haus zugesperrt und Bénédicte mit dem Auto fort. Per Anhalter kehrt er nach Bel-Air zurück.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Bénédicte ist wie ausgewechselt; sie wirkt jetzt eher wie Alice. Schroff teilt sie Alain mit, sie habe ein Verhältnis mit Richard, packt ein paar Sachen und fährt mit einem Taxi fort.

Alain folgt ihr und lässt seinen Webcam-Hubschrauber in das Anwesen seines Chefs fliegen. Tatsächlich sieht er damit Bénédicte durch ein Fenster in Richards Armen.

Während er allein zu Hause ist, bringt Nicolas Chevalier (Jacques Bonnaffé), ein Neffe des Tierarztes, der sich mit Nagetieren gut auskennt, den Lemming in einem Käfig vorbei und ermahnt Alain, ihn gut zu füttern und regelmäßig mit frischem Wasser zu versorgen. Alain öffnet den Käfig. Der Lemming springt heraus, beißt ihn in die Hand und verkriecht sich irgendwo im Haus.

Alain nickt auf der Couch ein. Als er die Augen öffnet, sitzt Bénédicte in einem Sessel bei ihm. Unversehens verwandelt sie sich in Alice, übergibt ihm den Schlüssel zu Richards Haus, fordert ihn auf, seinen Chef zu ermorden und rät ihm, es wie einen Suizid aussehen zu lassen.

Mit dem Schlüssel dringt Alain in das Haus ein und erstickt Richard mit einem Kopfkissen im Bett, während Bénédicte daneben liegt. Er trägt den nackten Toten in die Küche, setzt ihn an einen Tisch, dreht die Gashähne auf und präpariert die Kaffeemaschine so, dass in etwa zwei Stunden Funken entstehen. Dann fährt er mit Bénédicte nach Hause.

Am nächsten Morgen sprengt er gerade den Garten, da erhält Bénédicte – die nun wieder wie früher aussieht – einen Anruf von Richards Sekretärin Francine (Véronique Affholder), die ihr mitteilt, dass ihr Chef sich das Leben genommen habe. Sein Haus sei durch eine Gasexplosion zerstört worden. Fassungslos berichtet Bénédicte ihrem Mann, was sie soeben erfuhr. Ob Richard den Tod seiner Frau nicht verkraftet habe, fragt Bénédicte. Alain antwortet, er wisse es nicht.

Im Haus findet Bénédicte den Kadaver des verhungerten Lemmings. Das Tier, so stellt sich heraus, hatte der Nachbarjunge heimlich von einem Finnland-Urlaub mitgebracht. Als sein Vater den Lemming entdeckte, spülte er ihn in der Toilette hinunter. So geriet er in die Kanalisation.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Titel „Lemming“ bezieht sich auf einen „MacGuffin“ (ein von Alfred Hitchcock geprägter Begriff). Der Lemming soll mit Selbstmord assoziiert werden, stürzen Lemminge sich doch einem Mythos zufolge im Fall einer Überpopulation massenhaft von den Klippen.

„Lemming“ handelt von den Abgründen, die hinter den Kulissen der Alltagswelt lauern. Alain und Bénédicte sind ein junges, glückliches Paar, aber der Blick in die Ehehölle von Richard und Alice wirkt wie ein Menetekel.

Durch bestimmte Ereignisse gerät Alains Welt aus den Fugen, und mit ihm verlieren wir Zuschauer den Boden unter den Füßen. Dass er glaubt, in seiner Küche unzählige Lemminge gesehen zu haben, obwohl er in Wirklichkeit durch einen Autounfall traumatisiert wurde, ist noch erklärbar. Doch wieso kann Bénédicte Wort für Wort wiederholen, was Alain und Alice im Labor sprachen? Und wie ist es zu verstehen, dass Bénédicte sich in Alice verwandelt, die Selbstmörderin, deren Leiche bereits eingeäschert wurde? Spätestens bei dieser Szene sind Wirklichkeit und Albtraum nicht mehr zu unterscheiden.

Das Mysteriöse an „Lemming“ erinnert ein wenig an die Filme von David Lynch. Der Psychothriller bleibt spannend bis zur Schlussszene, die wie die frische Luft nach einem Gewitter wirkt, und er besticht durch markante, ausgefallene, optisch brillant inszenierte Episoden. Hervorzuheben sind nicht zuletzt die ausgezeichneten Darsteller, allen voran Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg und Laurent Lucas.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008

Dominik Moll: Harry meint es gut mit dir

E. Annie Proulx - Schiffsmeldungen
E. Annie Proulx erzählt die Geschichte langsam und unspektakulär in einer kargen Sprache, die wohl zur Schroffheit der beschriebenen Landschaft passt, aber doch sehr gewöhnungsbedürftig ist: "Schiffsmeldungen".
Schiffsmeldungen