Patrick Modiano : Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Damit du dich im Viertel nicht verirrst
Originalausgabe: Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier Gallimard, Paris 2014 Damit du dich im Viertel nicht verirrst Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 2015 ISBN: 978-3-446-24908-0, 160 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als sechsjähriger Junge wird Jean Daragane 1951 einer Freundin seiner Mutter über­lassen, die gerade einmal 15 Jahre älter ist als er und im Rotlicht-Milieu von Paris arbeitet. Nach einem Jahr verlässt sie ihn ebenso wie es seine Mutter tat. 15 Jahre später schreibt Jean Daragane darüber seinen Debütroman "Das Schwarz des Sommers". Später denkt er nicht mehr da­ran, bis ihn 2013 ein Fremder kontak­tiert, der Material über die mit einem Mord zusammenhängenden Ereignisse von damals sammelt ...
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Kritik

Ein Kindheitstrauma hallt durch den feinfühligen Roman. Aber das eigent­liche Thema ist der Versuch, sich an Vergessenes zu erinnern und Ver­gan­genes festzu­halten. Leise und ele­gant wechselt Patrick Modiano zwischen drei Zeitebenen. Das Diffuse der Darstellung spiegelt die Unklarheit und Flüchtigkeit von Erinnerungen.
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Bei dem Pariser Schriftsteller Jean Daragane läutet 2013 das Telefon, zum ersten Mal nach drei Monaten. Ein ihm Unbekannter stellt sich als Gilles Ottolini vor und teilt ihm mit, er habe an der Gare du Lyon ein Adressbuch gefunden, das wohl Jean Daragane gehöre. Sie verabreden sich in einem Lokal. Gilles Ottolini bringt eine junge Frau mit: Chantal Grippay. Er habe in dem Adressbuch geblättert, sagt er, und sei dabei über Guy Torstel gestolpert. Als Jean Daragane erklärt, er könne sich an keinen Guy Torstel erinnern, wundert sich Gilles Ottolini, denn der Name taucht auch in dem Roman „Das Schwarz des Sommers“ von Jean Daragane auf. Allerdings sind seit der Veröffentlichung des Debütromans 45 Jahre vergangen; Daragane war damals 21 Jahre alt.

Am nächsten Tag erhält er einen Anruf von Chantal Grippay. Ihr Lebensgefährte habe zwei Tage beruflich in Lyon zu tun, sagt sie und fordert Jean Daragane auf, zu ihr zu kommen. Am Briefkasten steht Joséphine statt Chantal Grippay. Sie habe ihren Vornamen geändert, erklärt sie, bevor sie mit ihm in einen nahen Copy Shop geht und das von Gilles Ottolini bisher über Guy Torstel gesammelte Material für Jean Daragane kopiert. Darunter sind auch Protokolle, die Gilles Ottolini von einem Bekannten bei der Polizei bekam. Es geht um einen Mordfall im Jahr 1951 und um Ereignisse im Jahr darauf.

Um 2 Uhr nachts ruft Chantal Grippay erneut bei Jean Daragane an, der beim Lesen der Unterlagen eingeschlafen ist, und kurz darauf besucht sie ihn. Sie kommt von einem Abendessen, an dem sie gegen Bezahlung teilgenommen hat. Als Escort-Dame arbeite sie, weil Gilles Geld benötige, erklärt sie. Er sei gar nicht in Lyon, sondern im Spielkasino von Charbonnières nordwestlich von Lyon. Sie halte es für möglich, dass er das Adressbuch nicht gefunden, sondern gestohlen habe. Chantal Grippay warnt Jean Daragane vor ihrem Lebensgefährten. Der Schriftsteller befürchtet ohnehin bereits, dass es sich um einen Erpresser handeln könnte. Die Werbeagentur Sweerts in Paris, bei der er angeblich beschäftigt ist und mit der Kündigung rechnen muss, existiert überhaupt nicht. Und das Buch „Der Flaneur zu Pferd“, das er geschrieben haben will, stammt von einem anderen Autor und ist Jahrzehnte alt.

Als Chantal Grippay die Pferderennbahn Le Tremblay in der südöstlichen Banlieue erwähnt, erinnert sich Jean Daragane an eine Autofahrt vor 45 Jahren von dort nach Paris. Ein ihm Unbekannter saß damals mit im Auto. Der sagte, er habe Jeans Eltern und auch ihn 15 Jahre zuvor als Kind gekannt.

„Das Kind waren Sie, nehme ich an …“

Der Fremde war Buchhändler und hieß Guy Torstel. Er erzählte, dass er ebenso wie Jeans Mutter und einige andere Freunde – etwa Bob Bugnand und Jacques Perrin de Lara – vor langer Zeit zum „Club der Crysaliden“ gehört habe. Guy Torstel richtete Grüße an Jeans Mutter aus, aber der wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

Bei den von Gilles Ottolini gesammelten Unterlagen befinden sich auch Automaten-Passfotos eines Jungen. Auf die Rückseite hat jemand „nicht identifiziertes Kind“ geschrieben, dazu etwas von einer Verhaftung Annie Astrands am 21. Juli 1952 in Ventimiglia.

Dieses Kind, von vielen Jahrzehnten in so graue Ferne gerückt, dass ein Fremder aus ihm wurde, nun musste er sich’s eingestehen, das war er.

Damals verbrachte Jean Daragane ein Jahr bei Annie Astrand in einem Haus in Saint-Leu-la-Forêt und ging auch in dem Pariser Vorort zur Schule. Die von Gilles Ottolini zusammengetragenen Informationen betreffen Vorgänge in den Jahren 1951/52. 1951 wurde Annie Astrands langjährige Freundin Colette Laurent in einem Pariser Hotel ermordet. Das Haus in Saint-Leu-la-Forêt, in dem viele Leute ein- und ausgingen, gehörte einem Freund namens Roger Vincent. Die Sittenpolizei observierte es. Annie Astrand wurde als „akrobatische Tänzerin“ bezeichnet, „bekannt im Étoile Kléber“.

1952 nahm Annie Astrand ihren Schützling Jean Daragane mit nach Paris. Dort wohnte sie mit ihm in einem Hotel am Montmartre, und sie gab ihm zusammen mit einem Schlüssel ein doppelt gefaltetes Blatt Papier mit der Adresse: “ … damit du dich im Viertel nicht verirrst …“ In dieser Zeit entstand das Automatenfoto. Es kam in einen Pass, und der wurde benötigt, weil Annie Astrand mit Jean nach Rom reisen wollte, wo sie Freunde hatte. Der Familienname des Jungen lautete im Pass Astrand statt Daragane. Annies Bruder Pierre brachte sie zum Bahnhof. Annie Astrand fuhr mit Jean zunächst an die Côte d’Azur. In Èze-sur-Mer stiegen sie aus und quartierten sich dann in der Villa Estrosi am Cap Estel ein, die wie das Haus in Saint-Leu-la-Forêt Roger Vincent gehörte. (Später baute man sie in ein Hotel um.) In der Garage fand Annie Astrand ein Auto vor. Damit wollte sie nach Rom fahren. Nach ein paar Tagen hörte Jean nachts den Wagen wegfahren – und blieb allein in der Villa zurück. Sein Vater holte ihn schließlich ab und brachte ihn zurück nach Paris.

Annie Astrand wurde an der französisch-italienischen Grenze in Ventimiglia verhaftet.

14 Jahre später traf Jean Daragane zufällig Jacques Perrin de Lara wieder.

Er fing an, die Ereignisse von damals in seinem Debütroman „Das Schwarz des Sommers“ zu verarbeiten und fuhr auch nach Saint-Leu-la-Forêt, wo er einen Nachmittag lang mit Dr. Louis Voustraat sprach, der seit 25 Jahren dort als Arzt praktizierte und Nachbar des damals von Annie Astrand und Jean bewohnten Hauses war, dessen Namen Jean Daragane erst jetzt erfuhr: Maladrerie. Obwohl ihn Dr. Voustraat 15 Jahre zuvor wegen einer Grippe behandelt hatte, gab Jean Daragane sich nicht zu erkennen und log, er sei zum ersten Mal in Saint-Leu-la-Forêt. Er wolle eine Broschüre über den Ort schreiben, erklärte er. Louis Voustraat erinnerte sich an eine junge Frau mit einem Kind. Sie könne nicht die Mutter des Jungen gewesen sein, meinte er, dazu sei sie zu jung gewesen. 1952 habe die Polizei das Haus durchsucht und die Nachbarn befragt.

Jean Daragane bewohnte ein Zimmer in dem Hotel am Montmartre, in dem er 15 Jahre zuvor mit Annie Astrand gewesen war. Wegen des Lärms beim Umbau der Hotelzimmer in Eigentumswohnungen schrieb Jean Daragane das zweite Kapitel seines Romans in einem Café am Montmartre.

Nachdem „Das Schwarz des Sommers“ veröffentlicht worden war, traf er Annie Astrand wieder. Sie war inzwischen 36 Jahre alt, hatte einige Jahre zuvor Roger Vincent geheiratet und auch ihren Vornamen geändert. Jean Daragane besuchte sie, und Agnès Vincent – so ihr neuer Name – erinnerte sich an die Zeit mit ihm:

„Ja … ein Jahr … ich weiß nicht mehr … deine Mutter meinte, du brauchst Landluft … Ich hatte den Eindruck, sie wollte dich los sein …“

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Fast nichts. Wie ein Insektenstich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt.

Mit diesen Worten beginnt Patrick Modiano seinen feinfühligen Roman „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“. Der Telefonanruf, der dazu führen wird, dass der Schriftsteller Jean Daragane sich an Jahrzehnte zurückliegende Erlebnisse erinnert, entfaltet wie ein Insektenstich erst nach und nach seine Wirkung.

„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ handelt von einem Kind, das zweimal allein gelassen wird. Die Mutter überlässt den Sechsjährigen einer jungen Frau, die seine ältere Schwester sein könnte und ihn nach einem Jahr allein in einem Haus zurücklässt. Das Echo dieses Traumas hallt durch den Roman. Aber das eigentliche Thema ist wie bei fast allen Romanen des Nobelpreisträgers Patrick Modiano der Versuch, sich an Vergessenes zu erinnern und Vergangenes schriftlich festzuhalten bzw. aufzuarbeiten.

Leise und elegant wechselt Patrick Modiano zwischen den Zeitebenen. Die entscheidenden Vorgänge spielen sich 1951/52 ab. 14, 15 Jahre später schreibt der 21-jährige Protagonist darüber den Roman „Das Schwarz des Sommers“. Jean Daragane hat lange nicht mehr daran gedacht, als er 2013 den besagten Telefonanruf erhält.

Weil die Ereignisse von 1951/52 mit einem Mordfall in Verbindung stehen und Jean Daragane 2013 befürchten muss, Opfer eines Erpresserpaares zu werden, mutet „Das Schwarz des Sommers“ oberflächlich wie ein Thriller an. Aber Patrick Modiano spielt nur mit Versatzstücken des Genres, und über die Ermordung einer Frau namens Colette Laurent erfahren wir auch gar nichts weiter. Dass Colette Laurent und die im Haus ihrer Freundin Annie Astrand ein- und ausgehenden Personen dem Pariser Rotlicht-Milieu angehören, wird angedeutet, aber nie konkretisiert. Das Diffuse evoziert eine Atmosphäre, die charakteristisch für Patrick Modianos Romane ist: Sie spiegelt die Unklarheit und Flüchtigkeit von Erinnerungen.

Jean Daraganes Geburtsjahr wird zwar in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ nicht explizit genannt, lässt sich aber errechnen, denn 14, 15 Jahre nach den Ereignissen von 1951/52 ist er 21 Jahre alt. 1945 wurde auch Patrick Modiano selbst geboren. Es gibt noch viel mehr Parallelen zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur, und man kann wohl sagen, dass Jean Daragane ein Alter Ego des Nobelpreisträgers ist.

1951 wird Jean Daragane von seiner Mutter, einer Schauspielerin, die einen anderen Familiennamen als er trägt, einer Halbweltdame in der Pariser Vorstadt Saint-Leu-la-Forêt überlassen. Patrick Modiano und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Rudy, die Söhne der Schauspielerin Luisa Colpeyn, verbrachten die Zeit von Anfang 1952 bis Februar 1953 bei Suzanne Bouquerau, einer in Jouy-en-Josas, südwestlich von Paris wohnenden Freundin ihrer Mutter, und in Patrick Modianos Autobiografie „Ein Stammbaum“ (2007) ist von einem fortwährenden Kommen und Gehen in dem Haus die Rede.

In „Ein Stammbaum“ erwähnt Patrick Modiano eine Jugendliebe namens Kiki Daragane. Deren Familiennamen trägt sein Alter Ego in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“. Annie heißt eine 26-Jährige in „Straferlass“, bei der Patrick und sein jüngerer Bruder vorübergehend untergebracht werden, und wie Annie Astrand arbeitet sie vermutlich im Rotlicht-Milieu von Paris. In „Straferlass“ ist Annie ebenfalls mit einem Mann namens Roger Vincent liiert, und es gibt eine Romanfigur Jean D. Eine Colette Laurent kennen wir bereits aus „Ein so junger Hund“.

In „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ wird erwähnt, dass Jean Daragane als Kind auf ein fast gleichaltriges Mädchen neidisch war, das bereits Gedichte veröffentlichte. Dabei handelt es sich um Minou Drouet (* 1947). Der Pariser Verleger René Julliard veröffentlichte im September 1955 eine Sammlung von Briefen und Gedichten der Achtjährigen und ein paar Monate später den Lyrikband „Arbre, mon ami“ („Mein Freund, der Baum“).

Den Roman „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ von Patrick Modiano gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Matthes (Regie: Ralph Schäfer, ISBN 978-3-95713-003-7).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Patrick Modiano (Kurzbiografie / Bibliografie)

Patrick Modiano: Place de l’Étoile
Patrick Modiano: Villa triste (Verfilmung)
Patrick Modiano: Eine Jugend
Patrick Modiano: Straferlass
Patrick Modiano: Ein so junger Hund
Patrick Modiano: Aus tiefstem Vergessen
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