Robert Menasse : Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha
Don Juan de la Mancha Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2007 ISBN: 978-3-518-41910-6, 275 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-6040-5, 275 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der verunsicherte, melancholische Don Juan, den uns Robert Menasse hier vorstellt und bei dem wir an den "Stadtneurotiker" denken müssen, benötigt für die Auflistung seiner Geliebten kein Leporello. Er hat keine Lust mehr, im doppelten Sinne des Wortes. Gegen die Überbewertung der Sexualität und die eigene Lustlosigkeit führt er einen aussichtslosen Kampf – so wie dereinst Don Quijote de la Mancha gegen Windmühlenflügel kämpfte.
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Kritik

Neben satirischen und tragikomischen Szenen sorgen pointierte Beobachtungen, witzige Formulierungen und ein ironischer Unterton in dem Roman "Don Juan de la Mancha" von Robert Menasse für ein besonderes Lesevergnügen.
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Als Nathan sechs Jahre alt war, verließ sein Vater ihn und die Mutter. Sein Vater, der als Gesellschaftsredakteur für eine Zeitung in Wien tätig war, nahm ihn weiter mit auf Reisen, wenn er von einem Hotelbesitzer, der auf einen werbewirksamen Artikel spekulierte, eingeladen wurde. So wie ihr geschiedener Mann eine Frau nach der anderen hatte, ließ sich auch Nathans Mutter auf Liebesaffären ein, aber sie suchte dabei nach einem neuen Ehemann. Einer, dem sie den Spitznamen „Killer“ gegeben hatte, starb bei einer Messerstecherei in einem Wiener Vorstadtcafé. Der Reitlehrer Philipp kam ums Leben, als er durch Wien ritt, das Pferd scheute und ihn gegen eine entgegenkommende Straßenbahn schleuderte. Große Hoffnungen setzte die Mutter auf den Diplomkaufmann Hermann Hollmann, nicht zuletzt, weil er einen Sohn in Nathans Alter hatte. Nathan konnte Harald allerdings nicht ausstehen.

Ich konnte meiner Muter alles sagen, er musste seinem Vater alles verschweigen und dann gestehen. Ich sollte glücklich sein. Er sollte perfekt sein. (Seite 97)

Hollmann war ein Angeber.

Er bestellte Hummer. Aber genoss ihn nicht. Es war eine Werbemaßnahme: Meine Mutter sollte sehen, was er ihr bieten konnte, und dann demonstrierte er Hummerverzehr-Kenntnis. Wenn meine Mutter kicherte beim Versuch, eine Hummerschere zu knacken, lächelte er gequält. Und doch irgendwie stolz – er hatte sie in eine fremde Welt entführt und beeindruckt. (Seite 94)

Bei einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen liefen die beiden Jungen voraus, und obwohl sie gut angezogen waren, überredete Nathan Harald, sich mit ihm über einen Hang hinunterzuwälzen. Als die Erwachsenen nachkamen und Hollmann sah, dass sein Sohn sich schmutzig gemacht hatte, gab er ihm eine Ohrfeige. Daraufhin verließ Nathans Mutter auf der Stelle ihren Liebhaber, denn sie vermutete, dass er auch ihren Sohn schlagen würde. Ein paar Wochen später wurde Hermann Hollmann „zu Gott gerufen“.

Mit achtzehn zog Nathan bei seiner Mutter aus. Sein Vater mietete ihm eine dunkle, feuchte Souterrainwohnung. (Später erzählt Nathan einer Geliebten, das sei gar nicht wahr; es habe sich um ein Apartment in der zweiten Etage gehandelt.)

Nathan begann, an der Universität in Wien Publizistik zu studieren.

Er verliebte sich in Helga, aber sie war noch Jungfrau und hielt ihn erst einmal hin.

Mir war das jedenfalls recht. Ich hatte ja selbst keine Erfahrung. Ich hatte vor, in der Zeit, die Helga noch brauchte, eine Art Schnellkurs zu buchen, um nicht gleich beim ersten Mal bei meiner ersten Freundin völlig ahnungslos zu sein und womöglich zu versagen. (Seite 35)

Seine erste sexuelle Erfahrung machte Nathan also nicht mit Helga, sondern mit Barbara Hader, der dreißigjährigen Sekretärin seines Professors. Eine Woche später war Helga dann auch so weit.

In der Mensa lernte er die Arzttochter Anne kennen. Sie zog bei ihm ein, verließ ihn aber bald wieder.

Die Kindergärtnerin Martina verbrachte ein Wochenende bei ihm in der Souterrainwohnung. Als er sie am Montagabend von der Arbeit zurückerwartete, kam unerwartet Anne vorbei und schlug Nathan vor, sie zu heiraten. Ihr Vater wollte sie nämlich nicht Schauspielerin werden lassen, sondern sie sollte Medizin studieren und einen netten jungen Mann heiraten. Um an die von ihrem Vater dafür versprochene Eigentumswohnung und eine Million Schilling Starthilfe heranzukommen, wollte sie Nathan heiraten und sich in einem Jahr wieder von ihm scheiden lassen. Darauf ließ Nathan sich nicht ein.

Vom Kindergarten brachte Martina Haschisch mit nach Hause. Das bekam sie vom Vater eines der Kinder. Einmal überredete sie Nathan, mit ihr ins Spielkasino zu gehen. Er gewann einen Haufen Jetons, und bevor er den Gewinn wieder verspielen konnte, schob sie die Jetons in ihre Handtasche. Von dem Geld leisteten sie sich ein Wochenende in Florenz. Zwei Wochen später heirateten sie, obwohl Nathan bereits vor dem Altar an der Richtigkeit der Entscheidung zu zweifeln begann. Die Hochzeitsnacht verbrachten sie auf dem Weg nach Monterosso in Salzburg.

Wir fanden gleich nach der Autobahnausfahrt ein preisgünstiges Hotel. Martina ging ins Bad. Ich begann einen Joint zu drehen. Martina kam aus dem Bad, sah, was ich tat, riss mir den Joint aus der Hand, raffte alles an sich, was an Stoff da war und vor mir auf dem Tisch lag, rannte ins Bad, ich lief ihr nach, sie warf es ins Klo, spülte.
Spinnst du? Was soll das?
Wir sind jetzt erwachsen. Darf ich dich daran erinnern: Wir haben heute geheiratet. Jetzt ist Schluss mit diesen Kindereien. (Seite 67)

Ich hatte eine kiffende Frau unter einem Che-Guevara-Poster geheiratet und hatte nun das Imitat einer erwachsenen Gattin vor mir liegen, in einem Hotel unterhalb eines Autobahnknotens. Fremde. In der Hochzeitsnacht endete bereits diese Ehe. (Seite 68)

Als Nathan plötzlich Fieber bekam, suchte Martina im Telefonbuch nach einem Arzt, der auch Hausbesuche durchführte.

Ein Wunderheiler: Der Arzt befreite mich von meiner Frau, und ich war gesund. Martina bekam mit diesem Doktor vier Kinder und wurde glücklicher, als sie es mit mir je geworden wäre. (Seite 73)

Am Institut für Publizistik freundete sich Nathan mit zwei Kommilitonen an: Franz Vesely und Alice Kranzelbinder. Mit Alice hatte er auch ein Liebesverhältnis, und eines Tages merkte er, dass die Freundschaft von Franz und Alice ebenso wenig platonisch war. Einmal gingen sie zu dritt ins Bett. Dann kam der Tag, an dem Alice sie beide stehenließ und mit dem Kunststudenten Bormasin nach Paris zog.

Daraufhin brach Nathan das Studium ab, und sein Vater verschaffte ihm eine Stelle bei der Zeitung, bei der er selbst beschäftigt war. Dort wurde Paul Prohaska sein Mentor, ein Alkoholkranker, der fünf Wochen nach seiner Frühpensionierung starb. Obwohl Dr. Tenner, der Herausgeber der Zeitung, das Rentenalter bereits erreicht hatte, dachte er gar nicht daran, aufzuhören, geschweige denn an den Tod. Stattdessen ordnete er einen Relaunch an: Ab sofort durfte nur noch für Neunzehn- bis Neununddreißigjährige geschrieben werden. Nathan, der inzwischen für das Ressort „Leben“ verantwortlich war, gab zu bedenken, dass es sich bei einem Großteil der Abonnenten um Senioren handelte, aber Dr. Tenner meinte, seine Entscheidung sei selbst dann richtig, wenn neunzig Prozent der Leser Best Agers wären:

Alles Psychologie. Nur wenn wir eine Zeitung für die Jungen machen, bedienen wir die Alten. Weil: Sie wollen haben, was die Jungen haben, sie wollen beweisen, dass sie noch jung sind, mithalten können, und sie wollen wissen, was man braucht, um jung zu sein. Und sie können es sich leisten. Sie haben ja selbst gesagt: sie haben das Geld. (Seite 113)

Da begriff Nathan, dass er zum falschen Zeitpunkt jung gewesen war:

Als ich jung war, war das Glück alt. In der Werbung gab es nur Alte. Alle möglichen Formen des Glücks wurden von graumelierten oder weißhaarigen Männern in der Reife ihrer Jahre beglaubigt, saubere Wäsche, aromatische Kaffees, heiterer Alkoholismus […] Als ich endlich vorrückte zur Möglichkeit, Teilhaber des Glücks zu ein, waren alle Glücklichen, die das Glücklichsein in der Werbung ausstellten, dreißig Jahre jünger. (Seite 9f)

Margit Reiter, Steffi Slama und Niki Nosseck blieben für Nathan Episoden. Bei einem Gastvortrag von Alfred Sohn-Rethel über „Das Ideal des Kaputten“ lernte er Beate kennen, die er zunächst für die Garderobenfrau hielt, weil sie auf einem Stuhl hinter dem Garderobentisch saß. Aber sie hatte Philosophie studiert, über „Warenform und Denkform“ promoviert. Obwohl sie zunächst infolge einer Pilzinfektion in der Vagina nach Mottenkugeln roch, kamen sie sich näher. Nathan zog bei ihr ein, und im April 1990 heirateten sie. Ziel der zweitägigen Hochzeitsreise, die Beate mit einer Dienstreise verband, war Mailand. Strebsam verfolgte sie ihre Karriere, übernahm die Leitung der Marketingabteilung und dann die Geschäftsführung von Inditex Österreich. Nathan rückte immerhin in die Chefredaktion seiner Zeitung auf. Nach acht Ehejahren konnten sie sich ein Haus in Groß-Schweinskreuz kaufen.

Weitere vier Jahre später lernte er Christa kennen, eine verheiratete aber kinderlose Dozentin für alte Sprachen.

Wir gehen essen – eine Gruppe von Freunden. Christa geht aufs Klo, eine Minute später gehe ich aufs Klo. Damen. Die Tür ist angelehnt. Christa sitzt auf der Klomuschel, ich stelle mich vor sie, sie nimmt meinen Schwanz in den Mund […] Nur ganz kurz. Es ist kein Akt. Nur eine Szene […] Es ging nicht um das Vergnügen, es zu tun, sondern um das Vergnügen, dann bei Tisch zu wissen, dass wir es getan haben. Christa grinst. Inzwischen reden [Christas Ehemann] Georg und die anderen über Wettbewerb. (Seite 11f)

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke. (Seite 7)

Christa bedauerte, dass sie nur Chili zur Hand hatte; die alten Griechen hätten es mit frischem Meerrettich gemacht, behauptete sie. Obwohl Nathan zu der ersten Generation gehörte, die durch die sexuelle Revolution von 1968 von der Pubertät an frei war und er nun neben der karrieregeilen Ehefrau eine perverse Geliebte hatte, stellte er fest, dass er – im doppelten Sinn des Wortes – keine Lust mehr hatte …

[…] in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen. (Seite 8)

Im dreizehnten Jahr seiner zweiten Ehe begann er deshalb eine Therapie bei Dr. Hannah Singer, einer dicken, herrischen Psychotherapeutin mit fragwürdiger Kompetenz.

Um für einen Zeitungsartikel über den Spitzenkoch Alain Ducasse zu recherchieren, flog Nathan nach Paris – und verabredete sich zuvor telefonisch mit Alice, von der er dreißig Jahre lang nichts mehr gehört hatte. In der französischen Metropole war jedoch aufgrund von Ausschreitungen und Polizeiabsperrungen kein Durchkommen. Deshalb brachte ihn der Taxifahrer zu einer Metrostation. Nathan hatte jedoch keine Ahnung, wohin er fahren und welche Linie er nehmen sollte. Zum Glück begegnete er einem Kardiologen des Universitätsspitals Zürich, dem es genauso erging. Der zog seinen Kittel an, rief einen Krankenwagen und sorgte dafür, dass Nathan auf die Trage gelegt wurde. Mit Blaulicht rasten sie zum Flugplatz. Während Nathan wegen des Scheiterns in Paris entlassen wurde, avancierte Beate zur Chairwoman of the International Board of Textile Industries.

Seine Stiefmutter Martha – sie war fünfundzwanzig Jahre jünger als sein Vater und nur fünf Jahre älter als Nathan – teilte ihm telefonisch mit, dass der alte Herr gestorben war. Kurz nach der Beerdigung erhielt Nathan von seinem Stiefvater Mario die Nachricht, dass seine Mutter sich bei einem Sturz vom Pferd das Genick gebrochen hatte.

Zwei Jahre dauerte die Affäre mit Christa. Dann beschloss sie, sowohl Wien als auch ihren Mann zu verlassen und eine Professur in Berlin anzunehmen. Nathan wollte mitkommen, obwohl er verheiratet war, aber das hielt Christa für keine gute Idee. Stattdessen schlug sie ihm ein privates Abschiedsfest vor. Während Beate geschäftlich in Mailand zu tun hatte, realisierten sie ihr Vorhaben. Christa hatte alles organisiert: Nachdem er von einem Friseur, einer Kosmetikerin und einer Visagistin so hergerichtet worden war, als sei er eine Frau, schnallte einen ausgestopften Büstenhalter um und zog ein Kleid an, das Christa mitgebracht hatte. Währenddessen vertauschte Christa ihre Sachen mit einem eigens für diesen Anlass geschneiderten dunkelgrauen Herrenanzug und ließ sich die Haare kürzen. Sie vertauschten Ich und Du, waren nicht mehr Nathan und Christa, sondern Chris und Nathalie. Sogar an die Meerrettichwurzel hatte Christa bzw. Chris gedacht …

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Der Don Juan, den uns Robert Menasse hier vorstellt, benötigt für die Auflistung seiner Geliebten kein Leporello. Obwohl Nathan 1968 ein Kind war, also zu der ersten Generation gehört, die von der sexuellen Revolution befreit wurde, hat er keine Lust mehr, denn „in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen“ (Seite 8), ist die Sexualität zum Zwang geworden. (Das erinnert ein wenig an Michel Houellebecq: „Ausweitung der Kampfzone“.) Gegen die Überbewertung der Sexualität und die eigene Lustlosigkeit führt der verunsicherte, melancholische Protagonist, bei dem man an Woody Allen denken muss („Der Stadtneurotiker“), einen aussichtslosen Kampf – so wie dereinst Don Quijote de la Mancha gegen Windmühlenflügel gekämpft hatte. Der Titel des Romans von Robert Menasse lautet denn auch: „Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust“.

Nathan erzählt seiner Psychotherapeutin Dr. Hannah Singer von Erlebnissen in der Kindheit oder mit Frauen, und sie gibt ihm auf, eine Art Reportage über sein Leben zu verfassen. Der fast ausschließlich in der Ich-Form geschriebene Roman „Don Juan de la Mancha“ baut sich aus Episoden auf, von denen wir annehmen können, dass sie aus den Therapiestunden bzw. dem schriftlichen Bericht stammen.

Er hatte einen Traum, den er – nein! Warum schreibe ich plötzlich in der dritten Person? (Seite 100)

Robert Menasse entwickelt die Handlung nicht linear, sondern springt mit leichter Hand in der Chronologie vor und zurück. Neben satirischen und tragikomischen Szenen sorgen pointierte Beobachtungen, witzige Formulierungen und ein ironischer Unterton für ein besonderes Lesevergnügen.

„Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust“ gibt es auch als Autorenlesung von Robert Menasse (Regie: Gabriela von Sallwitz, Hoffmann und Campe, Hamburg 2007, 4 CDs).

Bei Robert Menasse handelt es sich übrigens um den Halbbruder der Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse. Er wurde 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009 / 2017
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Robert Menasse: Die Hauptstadt
Robert Menasse: Die Erweiterung

Gudrun Lerchbaum - Lügenland
Mit überbordendem Einfallsreichtum lässt Gudrun Lerchbaum in dem dystopen Polit-Thriller "Lügenland" die Protagonistin Mattea Inninger stringent und temporeich erzählen. Unerwartete Wendungen, Sarkasmus, trockener Humor und Wortwitz sorgen für ein intelligentes Lesevergnügen.
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