Ian McEwan : Saturday

Saturday
Originalausgabe: Saturday Jonathan Cape, London 2005 Saturday Übersetzung: Bernhard Robben Diogenes Verlag, Zürich 2005 ISBN 3-257-06494-2, 391 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 48-jährige Neurochirurg Henry Perowne ist erfolgreich, glücklich verheiratet und hat zwei begabte Kinder. Am 15. Februar 2003, einem Samstag ("Saturday"), beabsichtigt er, Squash zu spielen, Fisch zu kaufen, seine Mutter im Altenheim zu besuchen und dann für die Familie ein Abendessen zuzubereiten. Auf dem Weg zum Squash-Center stößt er mit einem ausparkenden Auto zusammen. Dieses Ereignis verändert seinen Tag ...
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Kritik

Der Roman "Saturday" spielt an einem einzigen Tag, und Ian McEwan beschränkt sich konsequent auf die Perspektive des Protagonisten. Das Tempo variiert. Bisweilen erleben wir das Geschehen wie in Zeitlupe.
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Henry Perowne ist ein glücklicher, kultivierter und nachdenklicher Mensch. Der achtundvierzigjährige Neurochirurg glaubt wie Homo faber, dass die Welt primär materiell ist und nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip funktioniert. Für Henry ist es nur eine Frage der Zeit, bis man Phänomene wie Bewusstsein und Ich-Gefühl physiologisch erklären kann.

Für ihn ist es keine Glaubensfrage, sondern eine alltägliche Tatsache, dass das Bewusstsein von bloßer Materie, vom Hirn, geschaffen wird. Eine ehrfurchtgebietende Tatsache, die auch Neugier verdient: Das Wirkliche, nicht das Magische, sollte die Herausforderung sein. (Seite 95)

Am 15. Februar 2003, einem Samstag („Saturday“), erwacht Henry Perowne um 3.50 Uhr in seinem Haus in London. Er fühlt sich euphorisch und geht – ohne seine Frau Rosalind zu wecken – ans Fenster. Während er hinausschaut, erinnert er sich an die Operationen vom Vortag.

Dann zieht ein Feuer am Himmel seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Komet? Als das Phänomen näher kommt, erkennt Henry, dass es sich um ein Flugzeug handelt. Auf der ihm zugewandten Seite brennt es. Werden die Treibstofftanks explodieren? Haben fundamentalistische Terroristen wieder ein Flugzeug in eine Bombe verwandelt, das sie in ein Gebäude steuern? Wie vor eineinhalb Jahren in den USA. Die brennende Maschine verschwindet aus Henrys Gesichtsfeld. In wenigen Minuten wird sie in Heathrow notlanden. Henry geht zu seinem achtzehnjährigen Sohn Theo hinunter, der auch nicht schlafen kann, und hört mit ihm zusammen die 4-Uhr-Nachrichten an. Es geht um den offenbar bevorstehenden Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak. Von dem brennenden Flugzeug gibt es noch keine Meldung. Erst eine Stunde später wird berichtet, dass es sich um eine russische Tupolew handelt, eine Frachtmaschine, die auf dem Weg von Riga nach Birmingham war. Als einer der Motoren in Brand geriet, bat die zweiköpfige Besatzung um eine Landeerlaubnis in Heathrow. Die Maschine landete auf einem Schaumteppich, und die beiden Männer im Cockpit blieben unverletzt.

Da geht Henry wieder zurück ins Schlafzimmer, legt sich ins Bett und schmiegt sich an seine schlummernde Frau. Er registriert eine beginnende Erektion, denkt daran, wie es wäre, jetzt mit Rosalind Sex zu haben und schweift dann mit seinen Gedanken zu Saddam Hussein und dessen Diktator im Irak ab.

Als Rosalind einige Zeit später aufwacht, lieben sie sich.

Während Henry an diesem Samstag frei hat, muss Rosalind um 6 Uhr aufstehen: Sie arbeitet als Juristin für eine Zeitung und steht vor einer schwierigen Verhandung, die bis zum frühen Abend dauern wird.

Henry sah Rosalind 1973 zum ersten Mal. Die damals neunzehnjährige Jurastudentin meldete sich in der Notaufnahme des Krankenhauses, weil ihr Sehvermögen in der Universitätsbibliothek plötzlich zusammengebrochen war und sie eine Erblindung befürchtete. Dr. Whaley diagnostizierte eine Apoplexie der Hypophyse, ausgelöst durch einen kleinen Tumor, der auf den Sehnerv drückte. Der Tumor, erkärte er Rosalind, produziere Prolaktin, und das habe die von ihr berichteten Schwangerschaftssymptome – Ausbleiben der Periode und Flüssigkeitsabsonderungen an den Brustwarzen – hervorgerufen. Henry, der damals erst Assistenzarzt war, ging neben dem Krankenbett her, als Rosalind von der Radiologie zum Operationssaal geschoben wurde, wo Dr. Whaley ihren Gaumen öffnete und den Tumor entfernte.

Sie erzählte Henry, dass ihre Mutter Marianne vor drei Jahren ums Leben gekommen war, als ein betrunkener Autofahrer ein Rotlicht übersehen hatte. Ihr Vater, der berühmte Dichter John Grammaticus, war daraufhin in das Château Saint Félix am Fuß der Pyrenäen gezogen, das seinen Schwiegereltern gehört hatte.

Inzwischen ist Henry Oberarzt. An den meisten Tagen ist er von 8 Uhr bis 22 Uhr im Krankenhaus, und häufig wird er auch nachts noch gerufen. Pro Jahr führt er mehr als dreihundert neurologische Operationen durch. Henry schätzt seinen Beruf, liebt seine Frau und ist stolz auf die beiden Kinder: Theo spielt Gitarre und hat eine Blues-Band gegründet: „New Blue Rider“. Demnächst will er für fünfzehn Monate nach New York, um sich dort musikalisch weiterzubilden. Daisy, die ein paar Jahre älter ist als ihr Bruder, lebt zur Zeit in Paris. In Kürze wird ihr erster Lyrikband veröffentlicht.

An diesem Samstag steht Henry um 8 Uhr auf und zieht Sportsachen an, denn er ist mit dem amerikanischen Anästhesisten Jay Strauss, mit dem er seit sechs Jahren zusammenarbeitet, zum Squash verabredet.

Weil an diesem Tag Hunderttausende in London gegen den befürchteten Irak-Krieg demonstrieren wollen, stößt er an einer Kreuzung auf einen Streifenpolizisten, der eine der Straßen abriegelt. Während der Polizist auf ihn zukommt, sieht Henry, wie drei Männer aus der Striptease-Bar „Spearmint Rhino“ kommen und um die Ecke zu einem dort abgestellten roten BMW eilen. In diesem Augenblick erhält der Polizist einen Anruf, zuckt mit den Schultern und bedeutet Henry mit einer Handbewegung, er könne rasch durchfahren. Als Henry mit seinem silberfarbigen Mercedes auf der Höhe des roten BMW ist, parkt der Fahrer plötzlich aus, ohne zu blinken. Henry reißt das Steuer nach rechts, aber der rechte Außenspiegel des anderen Fahrzeugs ist bereits abgebrochen und der BMW verschrammt auch noch ein halbes Dutzend geparkter Autos. Dreißig Meter von einander entfernt, bleiben die beiden Unfallbeteiligten stehen. Nach einigen Schrecksekunden kommen die drei Männer aus dem BMW auf Henry zu, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen ist und feststellt, dass an seinem Mercedes kaum etwas zu sehen ist. Wären die Männer aus der British Library gekommen, würde er sich besser fühlen, zumal die Straße wegen der Sperrung menschenleer ist. Der BMW-Fahrer bietet Henry erst einmal eine Zigarette an, gibt ihm die Hand, nennt seinen Namen – Baxter –, und stellt seine beiden schweigenden Beleiter vor: Nark und Nigel. Baxter ist der Meinung, ihn treffe keine Schuld, denn wegen der Straßensperre habe er beim Ausparken nicht in den Rückspiegel zu blicken brauchen. Nark bedeutet Henry, er könne an der nächten Ecke Geld aus einem Automaten holen, um den Schaden zu bezahlen, aber Henry erwidert:

„Ich gebe Ihnen kein Geld. Ich gebe Ihnen meine Anschrift. Falls Sie mir Ihre nicht mitteilen möchten, ist das in Ordnung. Ihr Nummernschild dürfte ausreichen.“ (Seite 129)

Im nächsten Augenblick schlägt Baxter zu.

Noch wärend er [Henry] sich überrascht zu Baxter umdreht und schon sieht oder spürt, was mit solcher Schnelligkeit auf ihn zukommt, leiert in einem Teil seines Hirns der Diagnostiker noch lethargisch vor sich hin und stellt mangelnde Selbstbeherrschung fest, emotionale Labilität, hohe Reizbarkeit sowie vermutlich eine verminderte Ausschüttung von Gamma-Aminobuttersäure an den entsprechenden Bindungsstellen der striatalen Neuronen. In den menschlichen Beziehungen gibt es vieles, das sich mittels komplexer Moleküle erklären ließe. Doch wer wollte je ermessen, welch schädliche Folgen für Liebe, Freundschaft und all die Hoffnung auf Glück ein Übermaß oder Mangel an diesem oder jenem Neurotransmitter gehabt haben? Und wer wird je eine sittliche Gesinnung, eine Ethik unter den Enzymen und Aminosäuren finden, da es doch allgemein Mode ist, den Blick in die andere Richtung zu lenken? Geblendet von einem attraktiven Trottel von Dozenten hatte Daisy im zweiten Oxforder Studienjahr ihren Vater davon zu überzeugen versucht, dass der Irrsinn gesellschaftliche Ursachen habe, dass er ein fauler Trick sei, mit dem die Reichen – vielleicht hatte er das auch falsch verstanden – die Armen ausbeuteten […]
Trotz Baxters Chorea, diesen raschen, ruckartigen Körperbewegungen, und ohne seinen Gegner genau fixieren zu können, landet der Schlag, der auf Perownes Herz zielt und den er nur minimal abwenden kann, mit großer Wucht auf seinem Brustbein. Ihm ist – und vielleicht stimmt das sogar –, als durchlaufe eine heftige Woge seinen ganzen Körper, eine Schockwelle hohen Blutdrucks, eine Erschütterung, die nicht so sehr Schmerz als vielmehr einen Stromschlag der Betäubung nach sich zieht, einen kurzen, tödlichen Schauder, begleitet von einer visuellen Komponente, etwas Blendendem, einem schneeigen Weiß vor den Augen. (Seite 129f)

Der Faustschlag trifft Henry links über dem Sternum. Jetzt holen auch Nark und Nigel aus, aber Baxter hält sie zurück, als Henry unvermittelt sagt: „Ihr Vater hatte es. Und jetzt haben Sie’s.“ (Seite 133) Der Neurochirurg hat auf der Stelle erkannt, dass Baxter an Chorea-Huntington leidet, einer unheilbaren neurodegenerativen Erbkrankheit. Baxter schickt seine Kumpane zum Auto zurück, denn sobald es sich herumspricht, dass er unter Veitstanz leidet, wird man ihn nicht mehr respektieren. In einigen Monaten, wenn er den Tremor nicht mehr kaschieren kann und die Zuckungen beginnen, wird es ohnehin nicht mehr zu verbergen sein. Das weiß Baxter. Deshalb ist er auch begierig zu erfahren, ob sein Gegenüber etwas über neue Behandlungsmethoden weiß. Die Neugier hält jedoch nur kurz an, dann ärgert er sich, weil er sich selbst um eine Machtdemonstration brachte. Jetzt ist es zu spät: Nark und Nigel gehen bereits fort und zeigen ihm den Stinkefinger. Henry nutzt den Augenblick, um in seinen Wagen zu springen und loszufahren.

Als Henry dann beim Squash Jay Strauss unterliegt, wird er ungewohnt aggressiv, und die beiden können gerade noch ein Zerwürfnis verhindern.

Vom Squash-Center fährt Henry zum Fischhändler, denn fürs Abendessen will er ein Fisch-Stew zubereiten. Daisy kommt nach einem halben Jahr erstmals aus Paris zu Besuch. Außerdem erwarten sie seinen Schwiegervater John Grammaticus.

Nachdem er eingekauft und zu Hause geduscht hat, leistet Henry seiner an Demenz erkrankten Mutter Lilian eine Stunde lang im Altenheim Gesellschaft.

Wie versprochen, fährt Henry auch noch in ein Varietétheater, um dort Theo und dessen Blues-Band bei einer Probe zuzuhören.

Unterwegs glaubt er zweimal, einen roten BMW im Rückspiegel zu sehen, und als er daheim aus dem Fenster schaut, überquert gerade ein roter BMW den Platz vor dem Haus. Es gibt viele rote BMWs. Es fällt ihm nur auf.

Henry stellt drei Flaschen Champagner kalt, dekantiert den Rotwein und bereitet das Fisch-Stew zu.

Hauptzweck des heutigen Familientreffens ist es, John und Daisy nach drei Jahren zu versöhnen. Daisy ärgerte sich damals über eine unsensibel vorgebrachte Kritik ihres Großvaters an einem ihrer Gedichte.

Daisy kommt als Erste. Innerhalb weniger Minuten geraten sie und ihr Vater über den drohenden Irak-Krieg in Streit, denn während Henry zwar gegen den Krieg ist, aber den Sturz Saddam Husseins begrüßen würde, ist Daisy entsetzt über den von London und Washington offenbar geplanten Waffengang und befürchtet schreckliche Folgen nicht nur für die irakische Bevölkerung, sondern für die ganze Welt.

Auch mit ihrem Großvater, der einige Zeit später eintrifft, droht Daisy gleich wieder in Streit zu geraten, doch die beiden lenken rasch ein.

Endlich hört Henry, wie Rosalind die Tür aufschließt. Sie ist nicht allein. Baxter und Nigel begleiten sie. Offenbar fanden sie Henrys Adresse heraus und warteten nur auf den richtigen Augenblick für ihren Auftritt. Baxter bedroht Rosalind mit einem Messer, das er ihr an den Hals hält, wenige Zentimeter von der Arteria carotis communis entfernt. John Grammaticus beschimpft Baxter. Der schlägt dem alten Mann mit der Faust ins Gesicht und bricht ihm die Nase.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Henry versucht, die Ganoven in sein Arbeitszimmer zu locken, indem er lügt, er habe dort Unterlagen aus den USA über neue Behandlungsmethoden von Chorea-Huntington. Nigel versteht nicht, was das soll, und Baxter will sich nicht noch einmal auf dieselbe Weise hereinlegen lassen. Sein Blick fällt auf Daisy. Ihr Anblick erregt ihn. Mit der Drohung, ihrer Mutter die Halsschlagader aufzuschneiden, zwingt er sie, sich vor ihm und allen anderen auszuziehen. Henry hat seine Tochter seit zwölf Jahren nicht mehr nackt gesehen. Bei dem gewölbten Bauch und den prallen kleinen Brüsten gibt es keinen Zweifel: Daisy ist schwanger. Im vierten Monat, schätzt Henry. Eine schwangere Frau mag Baxter nicht vergewaltigen. Er verliert das Interesse an ihrem Körper und entdeckt das Vorabexemplar ihres Lyrikbandes „Mein dreister Kahn“, das sie mitgebracht hat. Das bringt ihn auf die Idee, Daisy ein Gedicht aufsagen zu lassen. Sie schlägt das Buch auf, liest jedoch nicht vor, sondern rezitiert „Dover Beach“ von Matthew Arnold – und bewirkt damit einen überraschenden Stimmungsumschwung: Baxter ist hingerissen und glaubt, das Gedicht sei von ihr. Während Nigel drängt, Baxter solle ihm das Messer geben und sich endlich über die nackte Frau hermachen, lässt dieser sich das Gedicht noch zweimal vortragen und fordert Daisy dann sichtlich beeindruckt auf, sich wieder anzuziehen. Dann kommt er auf Henrys Vorschlag zurück und will mit ihm ins Arbeitszimmer. Nigel bleibt mit den anderen zurück. Fieberhaft überlegt Henry, was er machen kann und tut so, als suche er in den Papierstapeln nach den Berichten über Chorea-Huntington. Da kracht plötzlich die Haustür ins Schloss, und Theo kommt heraufgestürmt. Baxter holt mit dem Messer aus, aber Henry packt ihn am Handgelenk und Theo reißt den Kriminellen um. Der stürzt die Treppe hinunter und bleibt bewusstlos liegen. Ohne darüber nachzudenken, leistet Henry erste Hilfe, während Theo Polizei und Krankenwagen verständigt.

Ein Kriminalbeamter sieht sich um und kündigt für den nächsten Morgen den Besuch eines Kollegen an, der die Zeugenaussagen aufnehmen wird.

Einige Zeit später erhält Henry einen Anruf aus dem Krankenhaus. Er soll eine Notoperation durchführen. Der Patient erlitt bei einem Treppensturz eine Schädelfraktur, einen Impressionsbruch direkt über dem Sinus sagittalis. Obwohl Henry nicht daran zweifelt, dass es sich um Baxter handelt, ist er bereit, die nächtliche Operation durchzuführen. Im Krankenhaus warten Jay Strauss, dessen Assistentin Gita Syal, der aus Guyana stammende Assistenzarzt Rodney Browne sowie die OP-Schwestern Emily und Joan bereits auf ihn. Routiniert machen sie sich ans Werk, und der stundenlange Eingriff verläuft komplikationslos.

Als Henry nach Hause kommt, erwacht Rosalind und sie reden über Daisy. Rosalind weiß inzwischen, dass ihre Tochter in der dreizehnten Woche schwanger ist. Der Vater heißt Giulio; es handelt sich um einem Zweiundzwanzigjährigen aus Rom, der in Paris Archäologie studiert. Giulio und Daisy wollen zusammenbleiben. Rosalind fordert Henry auf, sie zu liebkosen und gibt sich ihm hin.

Um 5.15 Uhr geht Henry zur Toilette und schaut aus dem Fenster, beobachtet die Flugzeuge im Landeanflug auf Heathrow. Er möchte verhindern, dass Baxter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Kollegen könnten ihm Verhandlungsunfähigkeit bescheinigen. Henry hat Mitleid mit dem unheilbar Kranken.

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Der im Präsens geschriebene Roman „Saturday“ beginnt an einem Samstag um 3.50 Uhr und endet gut fünfundzwanzig Stunden später, am Sonntagmorgen um 5.15 Uhr. Wie James Joyce in „Ulysses“ (1922), Virginia Woolf in „Mrs Dalloway“ (1925) und Richard Ford in „Independence Day“ (1995)greift Ian McEwan in „Saturday“ einen einzigen Tag aus dem Leben seines Protagonisten heraus, und zwar handelt es sich um den 15. Februar 2003, einen Samstag, an dem Millionen von Menschen in schätzungsweise sechshundert Städten der Welt gegen den offenbar geplanten Irak-Krieg demonstrierten. (Ungeachtet der Proteste begannen die USA den Krieg am 20. März 2003 mit einem Luftangriff auf Bagdad.) Sowohl der politische Streit um die Rechtfertigung dieses Krieges, als auch die Bedrohung durch den Terrorismus, die aufgrund der Anschläge vom 11. September 2001 bewusst geworden war, bilden denn auch den Hintergrund des Romans „Saturday“. Deutlich wird das gleich zu Beginn, als Henry Perowne beim Anblick eines Flugzeugs mit einem brennenden Motor einen Terroranschlag befürchtet.

Ian McEwan beschränkt sich in „Saturday“ nicht nur zeitlich, sondern außerdem ganz konsequent auf die Perspektive des Protagonisten. „Saturday“ ist gewissermaßen ein eintägiges Bewusstseinsprotokoll der Figur Henry Perowne.

Abgesehen von der Auseinandersetzung Perownes mit Baxter nach dem Verkehrsunfall am Morgen und Baxters Überfall auf Perowne und dessen Familie am Abend geschieht nichts Aufregendes. Suspense-Elemente (wie das mehrmalige Auftauchen eines roten BMW) sind die Ausnahme. Mit seitenlangen sachlichen Operationsberichten gleich zu Beginn (S. 13 – 19) schreckt Ian McEwan ungeduldige und an Action interessierte Leserinnen und Leser ab. Auf Seite 76 ist es erst 6 Uhr morgens; es sind also erst zwei Stunden und zehn Minuten vergangen. Das Tempo variiert. Bisweilen erleben wir das Geschehen wie in Zeitlupe, beispielsweise als Henry Perowne nach dem Verkehrsunfall Baxters Faustschlag auf sich zukommen sieht. Minuziös schildert Ian McEwan, was Henry Perowne denkt und erlebt. Das ist – neben der zeitlichen und perspektivischen Begrenzung – das Besondere an „Saturday“.

Um sich in den Neurochirurgen Henry Perowne versetzen zu können, las Ian McEwan nicht nur Fachbücher, sondern hospitierte auch zwei Jahre lang im National Hospital for Neurology and Neurosurgery am Queen Square in London und sah Dr. Neil Kitchen bei den Operationen zu.

Es gehört zu den Faszinosa unserer Zeit, dass wir in unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben. Haben wir je ein anderes Gedankensystem erfunden, das sich selbst korrigieren kann, außer der Wissenschaft? Das ist eben das Problem mit den Religionen: Sie korrigieren sich nicht selbst, sie sind nicht anpassungsfähig, sie haben ihre heiligen Texte […]
Ich wollte in Henry Perowne den Reichtum der materialistischen Weltanschauung darstellen, auch ihre Wärme – dass am Materialismus nichts „Kaltes“ sein muss, wenn er sagt: Wir haben nun eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein.
(Ian McEwan in einem Interview mit Lothar Müller, „Süddeutsche Zeitung“, 7. Oktober 2005)

„Saturday“ gibt es auch als Diogenes-Hörbuch, gelesen von Jan Josef Liefers.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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