Ian McEwan : Amsterdam

Amsterdam
Originalausgabe: Amsterdam Jonathan Cape, London 1998 Amsterdam Übersetzung: Hans-Christian Oeser Diogenes Verlag, Zürich 1999 ISBN 3-257-06220-6, 212 Seiten Taschenbuch: Diogenes, Zürich 2001 ISBN 978-3257232844, 212 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Clive Linley und Vernon Halliday stehen am Grab ihrer früheren Geliebten, der Fotografin Molly Lane. 1968 hatten sie die Welt verbessern wollen, doch inzwischen haben sie Karriere gemacht, Clive als Komponist und Vernon als Chefredakteur. Als Vernon von dem Witwer George Lane Fotos aus Mollys Nachlass bekommt, auf denen der Außenminister in Frauenkleidern zu sehen ist, plant er eine Kampagne, die Clive für schändlich hält ...
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Kritik

"Amsterdam" handelt von Versuchen, das eigene Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen und Schuldgefühle zu verdrängen. Ian McEwan entwickelt die amüsante Gesellschaftssatire flott und mit leichter Hand.
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Als die Leiche der sechsundvierzigjährigen Fotografin und Restaurantkritikerin Molly Lane in London zu Grabe getragen wird, sind auch zwei ihrer früheren Geliebten unter den Trauergästen: Clive Linley, der 1968 mit ihr zusammen gewesen war, und Vernon Theobald Halliday, der 1974 ein Jahr mit ihr in Paris gelebt hatte. Die beiden Achtundsechziger haben in dem damals bekämpften Gesellschaftssystem längst Karriere gemacht: Clive als Komponist, Vernon als Chefredakteur des „Judge“. Sie kondolieren dem Verleger George Lane, den sie auch zu ihren Freunden zählen und der auch einen Anteil am „Judge“ besitzt.

Molly war vor einiger Zeit zum Arzt gegangen, weil sie plötzlich Schwierigkeiten hatte, sich an Bezeichnungen zu erinnern.

Auf Parlament, Chemie, Propeller konnte sie noch verzichten, auf Bett, Sahne, Spiegel dagegen schon weniger. Nachdem sich zeitweise auch Akanthus und bresaola verflüchtigt hatten, holte sie ärztlichen Rat ein, rechnete sie doch mit beruhigenden Versicherungen. Stattdessen wurde sie zu Untersuchungen fortgeschickt und kehrte in gewissem Sinne nie mehr zurück. (Seite 9)

Als sie bettlägerig wurde, weigerte George sich, sie in ein Heim einweisen zu lassen und pflegte sie zu Hause, bis sie starb.

Nach der Beerdigung beginnt Clive über Krankheit und Tod nachzugrübeln. Wenn er an Georges Stelle gewesen wäre, hätte er Molly nicht so unwürdig dahinsiechen lassen, sondern ihr Sterbehilfe geleistet. Was wenn er selbst unheilbar krank wird und nicht mehr entscheiden kann, was mit ihm geschieht? Vernon soll ihm versprechen, in diesem Fall dafür zu sorgen, dass er nicht länger leiden muss. Der Freund verspricht es unter der Bedingung, dass Clive ihm den gleichen Freundschaftsdienst erweisen wird.

An dem Abend, an dem die beiden ihren Pakt schließen, werden Vernon von George drei Fotos angeboten, die offenbar aus Mollys Nachlass stammen. Sie zeigen den zweiundfünfzig Jahre alten, mit einer Chirurgin verheirateten britischen Außenminister Julian Garmony in Frauenkleidern. Molly war seine Geliebte, und er vertraute ihr offenbar so, dass er sich von ihr als Transvestit ablichten ließ. Vernon fühlt die Macht, die es bedeutet, die politische Karriere eines Ministers in der Hand zu haben, der sich in ein paar Monaten zum Parteichef wählen lassen möchte und das Amt des Premierministers anstrebt.

Die ganze Redaktion ist gegen den Abdruck der Fotos. Vernon verabredet sich mit Clive, um dessen Meinung zu hören. Der hält es für eine private Angelegenheit, wenn ein Politiker gern Frauenkleider trägt. Das gehe die Öffentlichkeit nichts an. Außerdem weist er seinen Freund darauf hin, dass die Veröffentlichung der von Molly im Vertrauen gemachten Aufnahmen ein Verrat an der verstorbenen Freundin wäre. Offenbar wolle George die Zeitung missbrauchen, um sich an einem seiner Nebenbuhler zu rächen, warnt er Vernon. Über ihre unterschiedlichen Ansichten geraten die Freunde in einen heftigen Streit.

Nachdem Vernon grußlos gegangen ist, überlegt Clive, ob ihre Freundschaft nicht immer sehr einseitig gewesen sei und kommt zu dem Schluss, Vernon habe ihn ausgenutzt.

Weil Clive mit der Millennium-Sinfonie, an der er arbeitet, nicht weiterkommt, fährt er in den Lake District und wandert, um seinen Kopf wieder frei für die Musik zu bekommen. Nach dem Aufstieg lässt er sich auf einer Felsenplatte am Allen Crags nieder und notiert seine Einfälle. Plötzlich hört er Stimmen. Er beugt sich über den Felsenrand. Zehn Meter tiefer liegt ein kleiner Gebirgssee, und an dessen Ufer beobachtet er eine tätliche Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau mit Rucksack. Obwohl er die Frau zuvor gesehen hatte und weiß, dass sie allein gewandert war, vermutet er, es handele sich um einen Familienstreit, der ihn nichts angeht und konzentriert sich wieder auf seine Noten. Er hört die Frau schreien, unternimmt jedoch nichts, denn die zarte Melodie, an der er gerade arbeitet, würde die psychische Erregung einer Einmischung nicht überstehen.

Schon die Ankündigung der peinlichen Fotos steigert die Auflage des „Judge“ gewaltig. Vernon will die Aufnahmen auf drei Ausgaben verteilen. Zum Auftakt soll das Foto des Transvestiten fast die gesamte Titelseite füllen. Dazu die Schlagzeile: „Julian Garmony, Außenminister“. Das wird Wirkung zeigen.

In der Redaktionskonferenz am Tag vor der geplanten Veröffentlichung hört Vernon von einem gerade im Lake District verhafteten Frauenschänder. Da ihm Clive von dem Vorfall am Allen Crags erzählte, informiert er sich nach der Besprechung bei Jeremy Ball, dem Ressortleiter Inland, über den Fall. Kein Zweifel: Clive beobachtete den Verbrecher, der acht Frauen überfiel. Vernon ruft seinen Freund an und drängt ihn, sich als Zeuge bei der Polizei zu melden, aber Clive will seine Sinfonie fertigstellen und jede Störung vermeiden. Als Vernon ihm klarzumachen versucht, dass es seine Pflicht gewesen wäre, der bedrängten Frau beizustehen und er durch eine sofortige Aussage bei der Polizei möglicherweise eine weitere Vergewaltigung hätte verhindern können, entgegnet Clive gehässig, Vernon sei gerade der Richtige, um über Ethik zu reden, denn die von ihm vorbereitete Pressekamagne sei schändlich.

Nach diesem zweiten Streit scheint die Freundschaft der beiden endgültig zerbrochen zu sein.

Am gleichen Tag sieht Vernon im Fernsehen eine Pressekonferenz von Rose Garmony, der Ehefrau des Außenministers. Zur Einführung sieht man, wie sich Eltern mit Tränen in den Augen bei der Chirurgin für die Behandlung ihres Kindes bedanken. Dann erzählt sie, wie sie ihren Traum von einer Karriere als Konzertpianistin aufgab, um mit ihrem Ehemann zwei Kinder aufzuziehen und seine politischen Ambitionen zu unterstützen. Später studierte sie dann Medizin und wurde Ärztin. Bei Molly Lane habe es sich um eine Familienfreundin gehandelt, fährt sie fort, und die Fotos, die nun im „Judge“ veröffentlicht werden sollen, seien mit ihrem Wissen gemacht worden. Rose behauptet, ihr Mann habe ihr seine kleine Schwäche für Frauenkleider nie verheimlicht. Mit diesen Worten zieht sie die drei Fotos aus einem Kuvert und hält sie in die Kamera.

Obwohl sie Vernon damit alles verdorben hat, zieht er die Kampagne durch.

Vor dem Redaktionsgebäude demonstrieren zweitausend Schwule und Transvestiten. Die Regierungsfraktion spricht Julian Garmony das Vertrauen aus, und der Premierminister betont, dass er zu seinem Außenminister stehe. Statt gegen Garmony richtet sich die öffentliche Meinung gegen den „Judge“ – und Vernon wird gezwungen, seinen Hut zu nehmen. Frank Gibben, der stellvertretende Leiter der Auslandsredaktion, übernimmt den frei gewordenen Posten des Chefredakteurs. Vernon ärgert sich, dass er auf den Intriganten hereingefallen war und geglaubt hatte, er stehe auf seiner Seite.

Clive kann es sich nicht verkneifen, Vernon ein paar schadenfrohe Zeilen zu schreiben. Hatte er ihn nicht vor einer Veröffentlichung der Fotos gewarnt?! Zornig ruft Vernon einen Freund bei Scotland Yard an und unterrichtet ihn darüber, dass Clive Linley den Sexualstraftäter im Lake District bei einem Überfall auf eine Frau beobachtete. Daraufhin wird der Komponist verhört und unmittelbar vor seinem Abflug zu den Proben seiner Sinfonie in Amsterdam zu einer Gegenüberstellung gebeten.

Er wurde auf einen Hinterhof hinausgeführt, wo die Streifenwagen abgestellt waren, und vor einer Mauer standen ein Dutzend Männer. Er erkannte den Kerl sofort […] Welch eine Erleichterung! […] Clive hatte sich in seine Rolle als Hauptbelastungszeuge hineingefunden. Später gab es eine zweite Gegenüberstellung, und diesmal trug die Hälfte der Männer Stoffmützen […] Aber Clive ließ sich nicht narren und fand seinen Mann […] Wieder in der Wache, sagten ihm die Beamten, die zweite Gegenüberstellung sei nicht so wichtig […] Sie hätten einen Streifenwagen, der in Richtung Flughafen fahre. Ob er mitgenommen werden wolle?
Er wurde direkt vor dem Terminal abgesetzt. Als er vom Rücksitz kletterte und sich verabschiedete, bemerkte er, dass der Polizist auf dem Fahrersitz ebender Mann war, den er bei der zweiten Gegenüberstellung identifiziert hatte. (Seite 184f)

Clive fliegt mit 10 000 Dollar in bar nach Amsterdam, übergibt dort das Geld einem zwielichtigen Arzt und begibt sich ins Concertgebouw, wo der berühmte Dirigent Giulio Bo die von Clive komponierte Millennium-Sinfonie mit dem Britischen Sinfonieorchester probt.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Trotz der gehässigen Karte will ihm der arbeitslose Vernon nachkommen und sich mit ihm versöhnen. Auf einem Empfang für die Musiker im Hotel wollen sie sich treffen.

Nachdem Clive erfahren hat, dass Vernon eingetroffen ist, nimmt er zwei Gläser Champagner vom Tablett eines Kellners und schüttet unbemerkt das weiße Pulver, das er von dem Arzt bekam, in eines der beiden.

Dann erhob er sich und nahm in jede Hand ein Glas, Vernons in die rechte, sein eigenes in die linke. Es war wichtig, sich das zu merken. (Seite 194)

Während er nach Vernon Ausschau hält, spricht ihn der aufdringliche Kritiker Paul Lanark an und will ihm eines der beiden Gläser abnehmen. Im nächsten Augenblick sieht er Clive auf sich zukommen, ebenfalls mit zwei Gläsern Champagner in den Händen. Sie begrüßen sich. Jeder überlässt Lanark ein Glas; dann bietet Vernon Clive das andere Glas an und nimmt von ihm ein Glas entgegen. Nachdem sie sich ihrer Freundschaft versichert und die Gläser ausgetrunken haben, verabreden sie sich für in einer Stunde und gehen beide noch einmal in ihre Zimmer.

Dort glaubt Clive, Molly zu sehen. Sie hat einen seiner Bewunderer bei sich, der zwei Autogramme von ihm haben möchte und ihm, nachdem ihm Molly mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtete, etwas in den Arm injiziert.

Vernon glaubt, an einer Redaktionskonferenz teilzunehmen, die er abhält, während er auf einem Tisch liegt. Mitten in der Besprechung möchte Frank Gibben seine Spesenabrechnung von ihm abgezeichnet haben, und Molly, die auch anwesend ist, unterstützt den stellvertretenden Leiter der Auslandsredaktion. Molly und Frank. Das hätte er sich denken können! Molly krempelt ihm einen Ärmel hoch, und er verspürt einen stechenden Schmerz im Oberarm, lässt sich aber nichts anmerken.

Zwei, drei Tage später fliegen George Lane und Julian Garmony nach Amsterdam, um die Särge mit den beiden Toten heimzuholen.

Die Musiker weigern sich, die missglückte Millennium-Sinfonie von Clive Linley aufzuführen, in der Ludwig van Beethovens Ode an die Freude schamlos imitiert werden sollte.

Obwohl der Premierminister versprochen hatte, hinter seinem Außenminister zu stehen, bildet er sein Kabinett um und holt Julian Garmony nicht wieder ins Kabinett.

Zufrieden registriert George Lane, dass Julian Garmonys politische Laufbahn beendet ist und sich die beiden anderen Liebhaber seiner verstorbenen Frau gegenseitig umgebracht haben.

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„Amsterdam“ handelt von Selbsttäuschungen und Lebenslügen, von Versuchen, das eigene Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen und Schuldgefühle zu verdrängen. Dabei geht es um Männer einer Generation, die 1968 die Welt verbessern wollten, inzwischen aber längst in dem damals bekämpften Gesellschaftssystem Karriere gemacht haben und zum Establishment gehören.

Ian McEwan entwickelt die in Amsterdam endende Geschichte flott, mit leichter Hand und als auktorialer Erzähler. Das Ergebnis ist eine amüsante Gesellschaftssatire mit einer perfiden Schlusspointe.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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