Javier Marías : Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten
Originalausgabe: Los enamoramientos Verlag Alfaguara, Madrid 2011 Die sterblich Verliebten Übersetzung: Susanne Lange S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2012 ISBN: 978-3-10-047831-3, 430 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Verlagslektorin María Dolz frühstückt jeden Morgen in einem Café und beobachtet dabei diskret ein Ehepaar, das sie für glücklich hält. Aber dann wird der Mann – der Unternehmer Miguel Deverne – von einem Penner auf der Straße erstochen. Monate später taucht die Witwe Luisa Alday wieder im Café auf, und María spricht sie an. Durch Luisa lernt sie Javier Díaz-Varela kennen, den besten Freund des Ermordeten, der sich jetzt aufmerksam um die Witwe kümmert ...
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Kritik

Javier Marías lässt die Ich-Erzählerin María Dolz in seinem elegant komponierten Roman "Die sterblich Verliebten" seitenlang über "was wäre, wenn" nachdenken und auch ihren Liebhaber Javier Díaz-Varela ausufernde Monologe halten.
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María Dolz, eine alleinstehende Frau Mitte 30, arbeitet als Lektorin in einem Verlag in Madrid, wo sie sich mit ihrem „größenwahnsinnigen Chef und seinen lästigen Autoren“ herumschlägt. Fast jeden Morgen frühstückt sie in einem Café, bevor sie ins Büro geht. An den meisten Tagen ist auch ein Ehepaar da. Die beiden – er um die 50, sie noch keine 40 – wirken wohlhabend, aber nicht reich. Manchmal haben sie zwei Kinder bei sich, eine etwa achtjährige Tochter und einen halb so alten Sohn. Sie wirken glücklich. Deshalb beobachtet María sie diskret und das verbessert ihre Laune.

Er sah mich nie schmeichelnd, verführerisch oder selbstgefällig an, das hätte mich enttäuscht, und auch sie zeigte mir keinerlei Argwohn, Überlegenheit oder Missfallen, das hätte mich geärgert. Die beiden gefielen mir, beide zusammen. Ich beobachtete sie nicht mit Neid, ganz und gar nicht, sondern mit der Erleichterung, dass es im wirklichen Leben tatsächlich so etwas geben kann, ein in meinen Augen perfektes Paar.

Von Ende Juni an bleibt das Paar aus. Erst nach Wochen erfährt María von ihrer Kollegin Beatriz, die hin und wieder auch in dem Café frühstückt, was geschah. Bei dem Mann handelte es sich um den im Filmgeschäft tätigen Unternehmer Miguel Deverne. An dem Tag, an dem María ihn zuletzt sah, feierte er seinen 50. Geburtstag. Am Nachmittag wurde er beim Aussteigen aus seinem Wagen von einem 39-jährigen Penner namens Luis Felipe Vázquez Canella angepöbelt, der ihn beschuldigte, seine beiden Töchter zur Prostitution gezwungen zu haben. Deverne nahm wohl an, dass es sich um eine Verwechslung handele und ging weg. Aber Canella lief ihm nach, stürzte sich mit einem Butterflymesser auf ihn und stach 16-mal auf ihn ein. Auch eine mehrstündige Notoperation konnte Miguel Deverne nicht mehr retten.

Erst im September frühstückt die Witwe Luisa Alday wieder im Café. Und es vergeht noch einmal ein Monat, bis María sie erneut sieht und anspricht. Luisa erzählt ihr, dass sie und ihr Mann von ihr als der „jungen Besonnenen“ sprachen. Sie lädt María ein, nach dem Büro zu ihr zu kommen und gibt ihr die Adresse.

An dem Abend grübelt Luisa im Beisein ihrer Besucherin über das Geschehene nach. Beiläufig erfährt María, dass die Gastgeberin als Dozentin für englische Philologie tätig ist. Sie glaubt, die beiden Kinder seien eine große Hilfe für die Trauernde, aber Luisa widerspricht ihr: Gerade weil sie die Kinder liebt, verspürt sie Mitleid mit ihnen, und sie empfindet es als große Belastung, zwei Menschen trösten zu müssen, die noch hilfsbedürftiger sind als sie selbst.

Ich dachte: Dieser Frau geht es grauenhaft, und zu Recht. Ihre Trauer muss unermesslich sein, bestimmt grübelt sie Tag und Nacht über das Geschehene, stellt sich die letzten bewussten Augenblicke ihres Mannes vor, fragt sich, was er gedacht haben mag, wo er doch gewiss nur mit dem Versuch beschäftigt war, den ersten Messerstichen auszuweichen, zu fliehen, sich loszureißen, wenig wahrscheinlich ist es da, dass er ihr einen Gedanken gewidmet hat, nicht mal einen flüchtigen, bestimmt war er ganz auf den nahen Tod am Horizont konzentriert und darauf, ihn um jeden Preis zu vermeiden, allenfalls mag er grenzenlose Verblüffung, Fassungs- und Verständnislosigkeit gespürt haben, was geht hier bloß vor, wie ist das möglich, was tut dieser Mann, warum sticht er auf mich ein, warum auf mich unter Millionen, mit wem zum Teufel verwechselt er mich, sieht er nicht, dass nicht ich der Urheber seines Unglücks bin, wie lächerlich, wie elend, wie dumm, so zu sterben, wegen eines Irrtums, der Verblendung eines anderen, dazu so gewalttätig und von Hand eines Unbekannten oder so nebensächlichen Menschen in meinem Leben, dass ich ihn kaum beachtet habe […]

Kurz bevor María geht, lernt sie noch zwei andere Besucher Luisas kennen: Professor Francisco Rico und Javier Díaz-Varela.

María hat zwar einen Liebhaber namens Leopoldo, beginnt jedoch eine Affäre mit Javier Díaz-Varela, dem besten Freund des Ermordeten, der sich aufmerksam um die Witwe kümmert. Rasch durchschaut María, dass Javier nur darauf wartet, Luisa für sich gewinnen zu können. Sie findet sich damit ab, Ersatz zu sein und tröstet sich damit, dass Javier im Erfolgsfall ebenfalls nur Ersatz für Miguel sein wird. Er erklärt ihr, es sei ein Irrtum, die Gegenwart für ewig und das Augenblickliche für endgültig zu halten, alles sei vergänglich, auch die Liebe.

Luisa wurde ihr jetziges Leben zerstört, nicht das künftige.

Eines Abends fasst Javier die Handlung der 1832 von Honoré de Balzac veröffentlichten Novelle „Oberst Chabert“ für María zusammen.

Nach der Schlacht bei Eylau am 7./8. Februar 1807 wird der napoleonische Oberst Chabert für tot gehalten. Seine junge Frau Rose, die ein Vermögen erbt, heiratet einige Zeit später in Paris den Grafen Ferraud und bekommt zwei Kinder. Chabert ist jedoch nicht tot. 1817 taucht er wieder auf. Man hält ihn für einen Betrüger. Der Rechtsanwalt Derville soll ihm helfen, Namen, Offiziersrang und Vermögen zurückzubekommen. Rose beantwortet seine Briefe nicht, denn wenn ihr erster Ehemann noch leben würde, müsste ihre Ehe mit dem Vater ihrer Kinder annulliert werden und es könnte sie das ererbte Vermögen kosten. Die Wiederkehr des Totgeglaubten ist für sie ein Fluch.

Javier geht zwar mit María ins Bett, lässt sie jedoch nicht bei sich übernachten. Wenn sie manchmal nach dem Koitus einschläft, steht er auf und zieht sich an. Einmal erwacht sie, als Javier Besuch bekommt und lauscht an der Schlafzimmertüre. Die beiden Männer reden über Miguel Devernes Ermordung. Der Besucher erzählt von Gerüchten, denen zufolge der inhaftierte Penner Canella, der bisher die Aussage verweigerte, sein Schweigen brechen wolle. María erschrickt, denn sie begreift, dass Javier mit der Ermordung seines besten Freundes zu tun hat. Vermutlich ließ er ihn beseitigen, um Luisa für sich haben zu können. Wer ist der Komplize? María möchte ihn sehen. Sie trägt nichts außer einem Rock. Wenn sie mit nacktem Oberkörper die Türe öffnen würde, müssten die Männer annehmen, dass sie gerade erst aufwachte und ihren Liebhaber allein in der Wohnung wähnte. Das wäre unverfänglich. Weil ihr jedoch der Gedanke, sich einem Fremden mit wippenden Brüsten zu zeigen, unerträglich ist, legt sie wenigstens den Büstenhalter an, bevor sie auf die Klinke drückt.

Zwei Wochen lang lässt Javier nichts von sich hören. Dann ruft er María im Verlag an und drängt sie, am Abend zu ihm zu kommen, er müsse mit ihr reden. Als sie bei ihm ist, sagt er ihr auf den Kopf zu, dass sie sein Gespräch mit dem Besucher Ruibérriz de Torres belauscht habe. Hätte sie nämlich angenommen, er sei allein nebenan, wäre sie ohne Büstenhalter herausgekommen. María bleibt nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass seine Vermutung zutrifft.

Javier gesteht unumwunden, dass Ruibérriz und ein weiterer Mann den Penner Luis Felipe Vázquez Canella in seinem Auftrag so manipulierten, dass dieser annahm, Miguel Deverne und dessen Chauffeur Pablo hätten seine beiden Töchter zu Prostituierten gemacht. Auf diese Weise brachten sie ihn dazu, Miguel zu töten. Den Zeitpunkt habe er nicht ausgesucht, beteuert Javier, er hätte es für geschmacklos gehalten, Miguel ausgerechnet an seinem 50. Geburtstag zu töten. María glaubt, nicht richtig zu hören: Als ob es bei einem grausamen Mord auf so ein Detail ankomme!

Sie werde Javier weder bei der Polizei denunzieren noch Luisa etwas verraten, versichert sie.


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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Javier behauptet, Miguel sei todkrank gewesen. Als er wegen einer Sehstörung einen Arzt aufgesucht habe, sei ein intraokulares Melanom diagnostiziert worden. Bei weiteren Untersuchungen stellte sich heraus, dass sich im ganzen Körper Metastasen gebildet hatten. Der mit Miguel befreundete Kardiologe José Manuel Vial Secanell sagte ihm auf seinen ausdrücklichen Wunsch die Wahrheit: Seine Lebenserwartung betrug nur noch zwischen sechs Wochen und zwei Monaten. Luisa und die Kinder erfuhren davon nichts. Um nicht unter tage- und wochenlangen Schmerzen sterben zu müssen, dachte Miguel darüber nach, sich an eine Sterbehilfe-Organisation in der Schweiz zu wenden, aber er wollte den Zeitpunkt des Todes nicht vorher wissen. Deshalb bat er schließlich seinen besten Freund, für einen ebenso schnellen wie unerwarteten Tod zu sorgen.

Als María sich an diesem Abend von Javier verabschiedet, weiß sie, dass ihre Beziehung beendet ist.

Im Internet liest sie noch einmal Berichte über den Fall. Keiner der Autoren erwähnt eine tödliche Krankheit des Opfers. Dabei hätten die Ärzte die Metastasen sowohl bei der stundenlangen Notoperation als auch bei der Obduktion entdecken müssen. Log Javier? Ging es doch nur darum, einen Rivalen aus dem Weg zu räumen?

Nach Büroschluss bemerkt María Ruibérriz in der Nähe des Ausgangs. Obwohl sie befürchtet, dass er ihr etwas antun könnte, verabschiedet sie sich von ihrer Kollegin und geht allein los, bis er sie eingeholt hat und anspricht. Er lädt sie auf einen Kaffee ein. Als sie ihn auf Miguel Devernes Krankheit anspricht, ist er überrascht, denn Javier versicherte ihm, María wisse von nichts, und dass Javier in Luisa verliebt sein könnte, hält Ruibérriz für unwahrscheinlich.

Zwei Jahre später sitzt María mit einer Gruppe bei einem Geschäftsessen in einem Restaurant. Da kommen Luisa und Javier herein. Ohne María zu bemerken, nehmen sie Platz. Javier trägt einen Ring: Offenbar ist er jetzt mit Luisa verheiratet. Er hat sein Ziel erreicht.

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Nichts ist wie es scheint. Nicht einmal, wenn wir das Buch „Die sterblich Verliebten“ ausgelesen haben, können wir sicher sein, was in der Romanhandlung geschah, denn auch der Protagonistin María Dolz bleiben Zweifel. Auf jeden Fall geht es in „Die sterblich Verliebten“ um die Relativität und die Vergänglichkeit der Liebe.

Ein Mann wird erstochen. Aber „Die sterblich Verliebten“ ist kein Kriminalroman. Statt Action und Suspense bietet Javier Marías den Leserinnen und Lesern eingehende Überlegungen einer „jungen Besonnenen“. Den Plot könnte man in wenigen Worten zusammenfassen, aber Javier Marías verwendet 430 Seiten, um die Geschichte zu entwickeln, denn er lässt die Ich-Erzählerin María Dolz seitenlang über „was wäre, wenn“ nachdenken und auch ihren Liebhaber Javier Díaz-Varela ausufernde Monologe halten. Javier Marías ist sich dessen selbstverständlich bewusst, und er schreibt über Schriftsteller, mit denen die Lektorin María Dolz zu tun hat:

Er neigte stark zum Vortragen, Abhandeln, Abschweifen, wie nicht wenige Autoren, die ich im Verlag getroffen habe, man könnte meinen, sie hätten noch nicht genug daran, Blatt für Blatt mit ihren Einfällen, ihren Geschichten zu füllen, die, wenn nicht absurd, dann eitel, wenn nicht schaurig, dann peinlich sind, Ausnahmen bestätigen die Regel.

Den Roman „Die sterblich Verliebten“ von Javier Marías gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (Bearbeitung: Ruthard Stäblein, Regie: Georg Gess, Berlin 2012, 600 Minuten, ISBN 978-3-8398-1165-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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