Sándor Márai : Die Möwe

Die Möwe
Originalausgabe: Sirály Révai Verlag, Budapest 1943 Die Möwe Übersetzung: Tibor Podmaniczky Toth Verlag, Hamburg 1948 Neuübersetzung: Christina Kunze Piper Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-492-05208-5, 187 Seiten Piper Taschenbuch, München 2010 ISBN: 978-3-492-25899-9, 187 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während des Zweiten Weltkriegs wird ein hoher ungarischer Ministerialbeamter von einer jungen Finnin aufgesucht, die ein Visum benötigt. Er lädt sie für den Abend in die Oper ein und nimmt sie anschließlich mit nach Hause. Sie sieht seiner Geliebten, die sich das Leben nahm, zum Verwechseln ähnlich. Das verwirrt den Beamten, und er weiß nicht, wie er sich die Zusammenhänge erklären soll. Nach einem stundenlangen Gedankenaustausch verlässt ihn die Besucherin mitten in der Nacht, ohne ihr Geheimnis verraten zu haben ...
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Kritik

Die konstruierte, manierierte Geschichte, in der Wahn und Wirklichkeit kaum zu unterscheiden sind, besteht im Grunde nur aus einem stundenlangen Gedankenaustausch der beiden Hauptfiguren.
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Budapest, 1941. Ein fünfundvierzig Jahre alter ungarischer Ministerialbeamte verfasst einen streng vertraulichen Bericht für den Minister.

Etwas würde beginnen: Einige geschriebene Worte, in diesem Augenblick auf dem Papier noch nicht einmal getrocknet, würden zu leben beginnen. In den Druckereien würden die Rotationsmaschinen die Worte mit schwarzer Farbe drucken, im Radio würde eine künstlich erschüttert klingende Stimme die Sätze in die Welt hinausrufen, Millionen von Menschen würden die Worte lesen und hören und erblassen. (Seite 8)

Während er darauf wartet, dass seine Sekretärin den Bericht getippt hat, sucht ihn eine zweiundzwanzig Jahre alte Finnin in seinem Büro auf, die seiner toten Geliebten zum Verwechseln ähnlich sieht.

Die Frau hat schon einmal gelebt und ist gestorben. Oder bin ich verrückt geworden? Weiß ich, was ich sehe und denke? (Seite 24)

Ilona, so hieß die Geliebte, war die Tochter eines Apothekers und studierte Chemie. Eines Tages fragte sie ihren Liebhaber, ob er bereit sei, mit ihr zu sterben, aber er wollte nicht. Wenige Tage später nahm sie sich das Leben. Anders als ihre Mutter, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, verließ sich die Zweiundzwanzigjährige bei ihrem Suizid auf die Gifte ihres Vaters und schluckte Blausäure. Ein halbes Jahr nach ihrem Tod traf der Beamte den Apotheker zufällig in einem Café. Ilonas Vater nahm an, seine Tochter habe eine Liebschaft mit ihrem Chemie-Professor gehabt, und der sei schuld an ihrem Selbstmord. Den Beamten, den er für einen guten Freund Ilonas hielt, lud er ein, ihn zu besuchen. Dabei versuchte er vergeblich, ihm Ilonas Briefe aufzudrängen. Vier Monate später starb er.

Der Beamte weiß bis heute nicht, was Ilona mit ihrem Suizid bezweckte.

Beginnt nun alles wieder von vorn? Die Scham, die Schande, die Erniedrigung? (Seite 27)

[…] auch das ist schon eine fürchterliche Erscheinung, dass das Gesicht, die Gestalt und die Erscheinung, die ich geliebt habe, in einem weiteren Exemplar auf der Welt leben – und vielleicht gibt es noch viele Ilis, in Finnland, in Schweden oder in Barcelona, irgendwo. Wie die Kleiderpuppen in Konfektionslagern, so liegen irgendwo diese Gesichter und Figuren … Ist das nicht kränkend? Man hat geglaubt, man liebe einen bestimmten Menschen, etwas tragisch und großartig Individuelles. Und kann es sein, dass auch ich in mehreren Exemplaren herumlaufe? (Seite 70)

Die Finnin heißt Aino Laine; das bedeutet „einzige Welle“. Ihr Elternhaus in Helsinki wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Ihr Vater, ein finnischer Fischer, starb bald darauf, und ihre aus Schweden stammende Mutter heiratete ein zweites Mal. Aino Laine setzte sich nach Paris ab. Sie beherrscht mehrere Fremdsprachen, darunter auch Ungarisch. Nun sucht sie in Budapest eine Stelle als Lehrerin, und dazu benötigt sie ein Visum.

Ja, die Möwen leben ganz offensichtlich mit großer Kraft, und sie fragen nicht lange, ob das Möwenleben ein Ziel hat. Aus fremden, fernen, eisigen Ländern sind sie in der Nacht gekommen, sind über Winter und Krieg hinweg geflogen, mit stummer Kraft, in der Unendlichkeit der Lüfte jenen Pfad erahnend, der sie in Gegenden mit etwas milderem Klima führt. (Seite 36f)

Der Beamte lädt Aino Laine für den Abend in die Oper „Ein Maskenball“ von Giuseppe Verdi ein. Er wundert sich darüber, dass die Ehrenlogen leer bleiben, obwohl nur fünf oder sechs Menschen außer ihm wissen, was morgen los sein wird.

Nach der Oper nimmt er Aino Laine mit nach Hause.

Sie erzählt ihm, sie sei vor einem Jahr, während des drôle de guerre, in Paris in der Oper gewesen, im Frühjahr 1940. Der heutige Abend erinnere sie an damals. Nach der Aufführung fuhr sie mit ihrem Begleiter, einem hochrangigen, über siebzig Jahre alten Diplomaten, durch Versailles nach St. Cloud in das siebzig Kilometer von Paris entfernte, in einem Empireschloss untergebrachte Hotel „Lilie im Tal“. Dort hielten sich an diesem Abend einige der bedeutendsten Persönlichkeiten Frankreichs auf. Sie alle kannten ihren Begleiter, und er nannte ihr die Namen der meisten anderen Gäste. Er war einer der wenigen, die wussten, dass die Wehrmacht in zwei Tagen in Belgien und den Niederlanden einmarschieren würde. Das Geheimnis verriet er seiner jungen Begleiterin im Morgengrauen.

Der ungarische Beamte, der dagegen sein Geheimnis für sich behält, fragt die Besucherin, ob sie sich daran erinnere, früher schon einmal hier gewesen zu sein. Sie versteht nicht, was er meint. Er küsst sie und sagt:

„Als du bei mir eingetreten bist, hätte ich lachen mögen. Ich hatte das Gefühl, die Mächte der Unterwelt erlaubten sich einen dummen Scherz mit uns, mit dir und mit mir. Du musst wissen, dass du schon bei mir gewesen bist.“
„Du träumst“, sagt die Frau. „Ich komme aus dem Norden und war noch nie bei dir.“ (Seite 106)

„Du willst sagen“, fragt die Frau neugierig, „dass ich nicht ganz ich bin? Was für eine Idee, mein Freund!“ (108)

Er beugt sich über das Gesicht: „Ich will nicht, dass du noch einmal fortgehst“, sagt er langsam. „Wenn du schon gekommen bist, aus dem Grab, von Norden oder Westen … Bleib hier. Willst du?“ (Seite 136)

Du empfindest die Wirklichkeit als Antwort, ich als Frage. Das ist der Unterschied zwischen Frau und Mann, unter anderem. (Seite 143)

Gegen halb ein Uhr nachts klingelt das Telefon, und er führt ein kurzes Gespräch. Aino Laine will gehen, aber er hält sie zurück. Während er sich in der Küche anschickt, Kaffee zu kochen, hört er sie in einer fremden Sprache flüstern. Wen hat sie mitten in der Nacht angerufen? Ist sie eine Geheimagentin?

Als er zurück ins Zimmer kommt, hält sie das gerahmte Foto in der Hand, das er auf seinem Schreibtisch stehen hat. Es handelt sich um das einzige Bild von Ilona, das ihm geblieben ist. Sie habe genau diese Aufnahme schon einmal kurz gesehen, behauptet Aino Laine. Als sie in Paris beschloss, nach Budapest zu reisen, erhielt sie von ihrem früheren Chemielehrer an der Universität Helsinki ein Empfehlungsschreiben für einen Chemie-Professor in Budapest. In dessen Büro fiel ihr das Foto auf, aber er riss es ihr aus der Hand und legte es in eine Schublade. Dann nannte er ihr den Namen des Beamten, in dessen Haus sie sich jetzt befindet. Der werde ihr helfen, meinte er.

Du möchtest die Wahrheit wissen, du möchtest wissen, wer ich bin, was mein Plan und meine Aufgabe ist, wieso ich im Krieg durch die Länder reise, wie ich die Klinken der verschlossenen Türen finde, warum ich viele Sprachen spreche, was ich von dir will und was für mich bedeutet, was ich von dir erfahren kann? All das möchtest du wissen. Aber all das ist jetzt nicht mehr wichtig. (Seite 181)

Aino Laine beschließt fortzugehen, um ihn zu verschonen.

Mein Geschenk ist, dass ich jetzt von dir fortgehe. Ein großes Geschenk, bitte nimm es an. (Seite 184)

Er blickt ihr durchs Fenster nach, bis sie verschwunden ist.

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Wahn und Wirklichkeit, Einbildung und Realität sind in dem Roman „Die Möwe“ kaum zu unterschieden. Die Handlung, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in Budapest spielt, beginnt im Lauf eines bestimmten Tages und endet einige Stunden später in der Nacht. Ein hoher Ministerialbeamter wird von einer geheimnisvollen Frau aufgesucht, die seiner inzwischen toten Geliebten so ähnlich sieht, dass er überlegt, ob es sich um eine Reinkarnation handelt. So wie der Protagonist sein Geheimnis für sich behält, lässt auch Sándor Márai die Zusammenhänge im Dunkeln.

Die konstruierte, manierierte Geschichte besteht im Grunde nur aus einem stundenlangen Gedankenaustausch der beiden Hauptfiguren. Sándor Márai erzählt in der dritten Person Singular aus der Perspektive des namenlosen Beamten.

Bemerkenswert ist, dass Sándor Márai in „Die Möwe“ einen Ungarn und eine Finnin zusammenführt, also die finno-ugrische Sprachfamilie personifiziert.

Den Roman „Die Möwe“ von Sándor Márai gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen (Regie: Ralf Schäfer, Berlin 2008, ISBN: 978-3-89813-800-0).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Piper Verlag

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