Andreas Maier : Das Zimmer

Das Zimmer
Das Zimmer Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 ISBN: 978-3-518-42174-1, 203 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein wie Andreas Maier 1967 in Bad Nauheim geborener Erzähler trauert dem Leben in seiner Heimat in der Zeit vor dem Bau der Umgehungsstraßen nach und erinnert sich an seinen skurrilen Onkel J., der geistig behindert war, aber von seinem Schwager, dem Vater des Erzählers, arbeiten geschickt wurde und ein Auto bekam, damit er der Familie als Chauffeur bzw. Kurier dienen konnte ...
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Kritik

In "Das Zimmer" gibt es keine Handlung im strengen Sinn, keine klare Struktur, sondern eine nostalgische Plauderei mit assoziativ verknüpften Episoden und Anekdoten.
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Der am 1. September 1967 in Bad Nauheim geborene Erzähler erinnert sich als Erwachsener an seinen Onkel J., den älteren Bruder seiner Mutter Ursel. Der war „geburtsbehindert“ und blieb „stets mit einem Fuß im Paradies“ (Seite 11).

Mein Onkel, der einzige Mensch ohne Schuld, den ich je kennengelernt habe. Eine Figur am Ausgang aus dem Paradies, noch mit einem Bein darin.
An meinem Onkel nahm man seine Behinderung (er war eine Zangengeburt) nicht sofort wahr. Er konnte sprechen, er sprach zwar nur einfache Sätze, aber das macht die gesamte Wetterau. (Seite 17)

Onkel J. war nicht nur geistig behindert, sondern er spürte auch von Geburt an keinen Schmerz.

Auch heiße Herdplatten taten nicht weh, er merkte erst am Geruch, was er da wieder getan hatte. (Seite 64)

Nicht nur wegen seiner Behinderung, sondern auch weil er in der Schule in Bad Nauheim ständig verprügelt wurde und sich nicht wehrte, brachten ihn die Eltern Wilhelm und Auguste Boll vorübergehend in eine Sonderschule im Rheinland. Wilhelm Boll, der den Steinmetzbetrieb seines Vaters Karl in Friedberg übernahm, obwohl er Architektur studiert hatte und für musisch gehalten wurde, weil er Klavier spielte, schlug den Jungen mit einem Lederriemen. Später scheint Onkel J. das vergessen zu haben, wie alles andere Unangenehme auch. Im Gegensatz zu seinem Vater und den anderen Kindern tat er keiner Fliege etwas zuleide.

Ich kann ihn mir auch nicht vorstellen als jemanden, der spaßeshalber Insekten oder Singvögel zerteilt oder der, wie es bei uns in der Nachbarschaft früher üblich war, Meerschweinchen gegen die Wand wirft, um zu sehen, was passiert … ein Sport unter Kindern Anfang der Siebzigerjahre, als Meerschweinchen in Mode waren. Fast alle Meerschweinchen in meiner Umgebung waren zum Tode verurteilt, wenn es Kinder in der Familie gab. Allerdings gab es immer Kinder in der betreffenden Familie, denn sie waren ja der einzige Grund, warum die Meerschweinchen überhaupt angeschafft wurden. Waren die Eltern aus und gingen essen zum allerersten Italiener in Friedberg oder zum allerersten Jugoslawen oder noch in die Schillerlinde oder ins Goldene Fass, dann flogen zu Hause die Meerschweinchen gegen die Wand, man sah es ihnen anschließend ja nicht an, sie waren nur tot. Das plötzliche Meerschweinchensterben, das die Eltern für eine Art von natürlichem Spontantod hielten, als habe das Meerschweinchen eine begrenzte Haltbarkeit, zuchtbedingt. (Seite 88f)

Alles war braun an ihm, kommt mir im Nachhinein vor, alles SA-farben, dabei hatte er nicht einmal Hitlerjunge sein dürfen, auch kein Flakhelfer, seine einzigen Sozialkontakte als Kind und Jugendlicher hatten darin bestanden, verprügelt zu werden. Am Kriegsende war er zwar schon vierzehn, aber immer noch ein Depp, und würde es zeitlebens bleiben, wie inzwischen allen klargeworden war. (Seite 46)

Onkel J.s Schwester Ursel heiratete 1959 den Sohn des Frankfurter Oberfinanzpräsidenten, der zunächst als Steuerbeamter und später als Rechtsanwalt bei Henninger Bräu in Frankfurt am Main beschäftigt war. Sie bauten in Friedberg und bekamen drei Kinder. 1967 – im Geburtsjahr des Erzählers – starben kurz hintereinander Karl und Wilhelm Boll. Ursel führte daraufhin den Betrieb, bis dieser 1974 liquidiert wurde. Auguste Boll blieb mit ihrem behinderten Sohn allein in ihrem Haus in Bad Nauheim zurück und kümmerte sich um ihn. Er bewohnte ein Zimmer im ersten Stock, und im Keller richtete er sich eine Art Werkstatt ein, denn er empfand sich als Handwerker, obwohl er nicht einmal eine Schraube eindübeln konnte.

Später, als ich begriffen hatte, dass J. dort unten rein und ausschließlich „selbstständig“ arbeitete, ging ich aber immer noch davon aus, dass er tatsächlich etwas mache und irgendetwas schaffe oder zumindest repariere. Es lagen auch kleine Generatoren und Motoren und Schalter herum, und allein weil sie da herumlagen, dachte ich, J. kenne sich mit all diesen Dingen aus und begreife sie. Tatsächlich nahm er diese Gegenstände bloß mit, wenn sie in der Firma weggeworfen wurden, schraubte sie zu Hause auf, stierte hinein und begriff überhaupt nichts, denn er war hauptsächlich, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sah, ein Idiot. (Seite 10)

Onkel J. hatte zwar einen Behindertenausweis und bekam eine Rente vom Versorgungsamt, aber der Vater des Erzählers sorgte schließlich dafür, dass sein Schwager nicht länger unnütz in seiner „Werkstatt“ herumsaß und verschaffte ihm einen Arbeitsplatz bei der Post im Frankfurter Hauptbahnhof.

Der Onkel war, wie jeder, ein Rechnungsfaktor im monetären Gesamthaushalt der Familie. Von Anfang an hatte er Geld gekostet, aber lange Zeit keines eingebracht. Drei Jahrzehnte hatte man ihn so durchkommen lassen, aber spätestens mit meinem Vater, dem Steuerbeamten und späteren Rechtsanwalt, hielt endgültig die moderne Zeit Einzug in die Familie Boll, man dachte nun hauptsächlich in den Kategorien von Sozial- und Rentenversicherung, und also war Onkel J. nun Postangestellter […] Seine Arbeit bestand aus Paketeschleppen, anschließend duschten sie, er nicht. Er fuhr ungeduscht nach Hause. (Seite 36)

Jeden Morgen ging Onkel J. zum Bahnhof in Bad Nauheim und fuhr von dort mit dem Zug nach Frankfurt. Falls er zu Fuß an Baustellen vorbeikam, schaute er gern eine Weile zu. Während der Arbeit trank er mehrere Flaschen Bier, wie es damals so üblich war. Nach der Schicht schlenderte er bis zur Abfahrt des Zuges durchs Bahnhofsviertel, und mitunter ließ er sich von einer Prostituierten mitnehmen. Zu dieser Zeit konnte man dort ja „noch zu wirklichen Frauen gehen […] und nicht nur, wie heute, bloß in die Videokabine zu den Frauen auf dem Bildschirm“ (Seite 54).

Da um den Hauptbahnhof herum Altbauzeilen stehen, die allesamt fünf- oder sechsstöckig sind, musste man immer viele Treppen steigen, und das Treppensteigen wurde, als pars pro toto für den Ausflug zum Paradies um den Frankfurter Hauptbahnhof herum, schließlich der Begriff für den ganzen Vorgang. Wir nannten es Treppensteigen, wenn wir nach Frankfurt fuhren. Wir, die Wetterauer, ich nicht – ich war damals noch zu jung. (Seite 35)

Meistens fuhr Onkel J. nach der Schicht sofort nach Hause.

Stolz kommt man von der Arbeit zurück, erhobenen Hauptes. Man hat seine Arbeit getan. Genau wie die Bergrettung am Berg. Und nun geht er nach Hause. Dort erwarten sie ihn. Wer arbeitet, wird zu Hause erwartet. (Seite 119)

Der Erzähler, der sich als Kind häufig bei seiner Großmutter aufhielt, weil sein Vater in Frankfurt beschäftigt war und seine Mutter sich um den Steinmetzbetrieb kümmerte, war froh, wenn er seinen Onkel nicht zu Gesicht bekam, denn dieser stellte für ihn das „Urbild des Grauens“ dar.

Die wechselnden Putzfrauen mussten damit rechnen, dass Onkel J. sich von hinten zu nähern versuchte, wenn sie sich bückten. Es kam auch vor, dass er Tante Lenchen von hinten an die Brüste griff.

Den Kaffee trank er mit fünf Löffeln Zucker pro Tasse.

Mein Onkel lebte nicht gesund, das kann man nicht sagen, allerdings war es damals auch noch nicht so in Mode, gesund zu leben. (Seite 45)

Sein Schwager besorgte ihm schließlich einen VW-Variant-Kombi und machte ihn damit zum Chauffeur und Kurier der Familie. Während der Zugfahrt von Frankfurt nach Bad Nauheim freute sich der Onkel schon darauf, zum Forsthaus Winterstein zu fahren und dort mit den anderen Männern ein paar Bier zu trinken, aber wenn er nach Hause kam, trug ihm der Schwager erst einmal ein paar Besorgungen auf, die er leise fluchend erledigte.

Auf dem Weg zum Forsthaus Winterstein kam es vor, dass Karl Maiwald mit dem Traktor gerade einen mit Äpfeln gefüllten Hänger rückwärts in seine Hofeinfahrt schob und die Straße blockierte. Der Erzähler malt sich das aus: Ein von Karl Maiwalds Sohn Martin nicht richtig befestigtes Brett am Hänger klappt auf, und ein Drittel der Äpfel kullert auf den Boden. Die ganze Familie – Karl und seine Frau Christine, der Sohn Martin und die Tochter Julia – sind damit beschäftigt, die Äpfel wieder einzusammeln. J. schaut der fünfzehnjährigen Julia ebenso erregt zu wie Gerd Bornträger, der mit einem Kanister gekommen ist, um Most zu holen. Sobald die Eltern mit dem Sohn ins Haus gegangen sind, stellt Bornträger sich neben Julia, tut so, als bewundere er die schönen Äpfel und begrapscht dabei auch ihre, während die Mutter von drinnen nach ihr ruft. Sobald das Mädchen im Haus verschwunden ist, fährt Onkel J. weiter. Aber kurz vor dem Forsthaus Winterstein wird er von amerikanischen Soldaten gestoppt und muss eine entgegenkommende Panzerkolonne durchlassen, die metergroße Placken Erde auf der Straße hinterlässt.

Als Onkel J. Mitte vierzig war, hörte er auf, sich zu duschen und musste immer wieder von seiner Mutter dazu angehalten werden.

1992 starb Auguste Boll, und ihr inzwischen einundsechzig Jahre alter Sohn musste ausziehen. Ein Leben lang hatte die Mutter in dem Haus in Bad Nauheim für ihn gesorgt. Einige Jahre lebte er noch in einer anderen Wohnung mit seiner späten Freundin Rosl zusammen. Aus Sorge, er könne Rosl heiraten und zur Erbin machen, ließ die Familie ihn entmündigen. Rosl starb jedoch vor Onkel J. Kurz darauf kam er ins Krankenhaus, und zwei Tage später folgte er Rosl ins Grab.

1999 zog der Erzähler in das leer stehende Haus seiner Großmutter in Bad Nauheim. Dort schreibt er nun seine Erinnerungen auf.

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Seit 2005 veröffentlicht Andreas Maier in der Wiener Zeitschrift „Volltext“ Kolumnen über seine Heimat Wetterau bzw. seinen Onkel J. Dreiundzwanzig davon fasste der Piper-Verlag in dem Buch „Onkel J. Heimatkunde“ zusammen (Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 131 Seiten, ISBN: 978-3-518-42134-5). Ein halbes Jahr später erschien der zumindest teilweise autobiografische Roman „Das Zimmer“ zum gleichen Thema.

Ein wie Andreas Maier am 1. September 1967 in Bad Nauheim geborener Erzähler erinnert sich an seinen Onkel J., eine skurrile Figur: „Kneipengeher, ungewaschen, stinkend, lebenslang lebensuntüchtig, also durch und durch modernisierungsresistent“ (Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung). Die Episoden über Onkel J., die vor allem im Jahr 1969 spielen, die der damals zweijährige Erzähler also nur aus zweiter Hand kennt oder sich auch nur in seiner Vorstellung ausmalt, veranschaulichen das Leben in der Wetterau (und rund um den Frankfurter Hauptbahnhof) in den Sechzigerjahren.

Der Arbeitstitel des Romans soll „Ortsumgehung“ gelautet haben. Andreas Maier trauert der Zeit nach, in der es in Bad Nauheim und Friedberg noch keine Ortsumgehungsstraßen gab, die Reisende aus den Städten fernhalten und paradoxerweise die Orte zerstören, die sie schützen sollen.

Die Wetterau, die für die meisten Menschen nach einer Autobahnraststätte benannt ist. Die Wetterau ist eigentlich eine Ortsumgehungsstraße mit angeschlossener Raststätte. (Seite 16)

Die Wetterau ist eigentlich eine Autobahn mit angeschlossener Raststätte. (Seite 195)

„Das Zimmer“ ist ein nostalgischer Heimatroman. Es gibt keine Handlung im strengen Sinn, keine klare Struktur, sondern das Buch besteht aus einer Plauderei mit assoziativ verknüpften Episoden und Anekdoten. Immer wieder greift der melancholische, mitunter auch ironische oder zynische Erzähler scheinbar versehentlich ein Stück voraus und nimmt dann den Faden an der alten Stelle wieder auf.

Andreas Maiers besondere Abneigung gilt offenbar dem Autoverkehr.

Deutschland im Jahr 1969, ein Land noch vor dem ersten Verkehrskollaps. Ein Land ohne Ortsumgehungsstraßen. Hin und wieder fährt noch ein Pferdefuhrwerk auf der Landstraße. Wenige Jahre später fuhren dann schon alle Auto.
Auch auf dem Mond würden sie schon bald nichts anderes im Sinn haben, als Auto zu fahren. Schon der siebte Mensch auf dem Mond war ein Autofahrer. Erst wollten sie bloß zum Mond, aber kaum waren sie da, wollten sie auch schon Auto fahren und brachten bald darauf das erste Auto mit […]
Schon bei der dritten oder vierten Mondfahrt brauchten sie ein Auto. (Seite 96f)

Abwärts, das ist immer unsere Richtung, auch wenn es auf den Mond hinaufgeht. (Seite 98f)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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