Davide Longo : Der Steingänger

Der Steingänger
Originalausgabe: Il mangiatore di pietre Marcos y Marcos, 2004 Der Steingänger Übersetzung: Suse Vetterlein Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007 ISBN 978-3-8031-3208-6, 176 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Um Geld zu verdienen und Adele, seine große Liebe, heiraten zu können, hatte Cesare vor 25 Jahran angefangen, afrikanische Flüchtlinge über die italienisch-französische Grenze in den Bergen von Piemont zu schleusen. Nun ist er Mitte 60, trauert um seine vor 13 Jahren gestorbene Frau und lebt einsam in einem von allen anderen Bewohnern verlassenen Bergdorf. Eines Tages findet er die Leiche des 31-jährigen Fausto, seines früheren Freundes, der seit drei Jahren auch Drogen schmuggelte ...
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Kritik

Mit seiner nüchternen, rauen und kantigen Sprache erzeugt Davide Longo in dem melancholischen Roman "Der Steingänger" eine dichte, intensive und düstere Atmosphäre.
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Die Leute im piemontesischen Varaita-Tal an der italienisch-französischen Grenze nennen Cesare „der Franzose“, weil sein Vater im Februar 1949 mit der Familie nach Marseille gezogen war. Dort wohnten sie bei einer Witwe in Untermiete. Der Vater fing als Hilfsarbeiter auf der Baustelle des neuen Hafens an, die Mutter fand eine Stelle als Zimmermädchen in einem Hotel, und Cesares Schwester Marisa arbeitete in einer Fabrik. Cesare war damals elf Jahre alt. Als er die Schulklasse wiederholen hätte müssen, besorgte der Vater ihm Arbeit auf der Hafenbaustelle.

1955 war der Hafen fertig. Der Vater machte als Maurer weiter, Marisa hatte zwei Jahre zuvor den Besitzer eines Kurzwarenladens geheiratet, und Cesare heuerte auf einem Frachtschiff an, das LKW-Reifen nach Beirut und Datteln nach Marseille transportierte. Der Baske Alejandro Iberruti, mit dem Cesare sich befreundet hatte, ging im Frühjahr 1958 von Bord: Er hatte sich bei Sidon ein Grundstück in den Weinbergen zugelegt. Als der Frachter eineinhalb Jahre später an eine griechische Reederei verkauft wurde, die gar nicht daran dachte, der Besatzung die ausstehende Heuer zu bezahlen, besetzten die Männer das in Marseille liegende Schiff. Nach einigen Tagen rückte die Polizei an. In dem Getümmel schlug Cesare einem der Polizisten eine Flasche über den Kopf und zerstörte dem Mann dabei ein Auge. Weil bei der Durchsuchung ein anarchistisches Buch bei ihm gefunden wurde, das ihm Alejandro zum Abschied geschenkt hatte, hielt man ihn für einen Überzeugungstäter und verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kehrte Cesare an seinen italienischen Geburtsort zurück. Er verliebte sich in die siebzehnjährige Adele, die jüngere Tochter des Busunternehmers Martin Chiaffredo, doch weil er kein Geld hatte, konnte er zunächst nicht daran denken, sie zu heiraten. In dieser Situation ließ er sich von seinem Onkel Giovanni dazu überreden, als Schleuser von afrikanischen Flüchtlingen über die italienisch-französische Grenze anzufangen. Sobald er damit genügend Geld verdient hatte, hielt er um Adeles Hand an. Martin Chiaffredo hätte ihn auf der Stelle als Bräutigam seiner Tochter Rita akzeptiert, die bereits Buchhalterin war, aber Cesare wartete lieber noch zwei Jahre, bis Adele ihre Ausbildung als Lehrerin abgeschlossen hatte. Dann heirateten sie. Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Vor dreizehn Jahren starb Adele. Seither lebt Cesare einsam in einem Haus bei Champaneise im Valle Varaita und trauert um sie.

Seit etlichen Jahren war Champaneise nur noch eine Ansammlung von Steinruinen.
Als Cesares Familie dorthin zog, wohnten da oben noch ungefähr ein Dutzend Familien, die ein paar Kühe hatten und nur wenig zum Leben brauchten. Deren Kinder hatten sich, sobald sie selbstständig waren, zwischen dem Flachland und Frankreich verteilt.
Anfangs waren sie im Sommer noch zur Heuernte gekommen, oder um das Dach zu reparieren, aber im Laufe der Jahre waren die Besuche immer seltener geworden, ein paar Alte waren gestorben, andere ins Heim gezogen, und so waren nach und nach die Häuser zerfallen. (Seite 92)

Parin Giors war nach dem Zweiten Weltkrieg mit Cesares Vater aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen. Die beiden Männer hatten sich eng befreundet, und Cesare wurde, nachdem er Frankreich verlassen hatte, der Taufpate von Parins Sohn Fausto Berardi. Später arbeiteten Cesare und Fausto als Schleuser zusammen. Doch als Fausto vor drei Jahren anfing, parallel dazu Drogen zu schmuggeln, gingen sie getrennte Wege und redeten seither auch nicht mehr miteinander. Allerdings fährt Cesare nach wie vor zweimal in der Woche zu Parin Giors, der seit elf Jahren in einem Seniorenheim lebt.

Als wieder einmal kein Wasser aus der Leitung kommt, geht Cesare flussaufwärts, denn er nimmt an, dass die Rohröffnung im Cumbo Scuro verstopft ist. Diesmal liegt allerdings kein Treibholz davor, sondern die aufgedunsene Leiche eines Mannes. Es handelt sich um den einunddreißigjährigen Fausto Berardi aus Caldane, Cesares früheren Freund.

Sonia Di Meo, eine Kommissarin der Squadra mobile, leitet die Ermittlungen. Fausto war nicht ertrunken, sondern durch zwei Schüsse getötet worden. Es handelt sich um einen Mordfall.

In Faustos Haus wurde alles durchwühlt. Obwohl das Betreten polizeilich verboten ist, dringt Cesare nachts dort ein und findet in einem von den anderen übersehenen Versteck einen Stoffbeutel mit Geld, einem Schlüssel und den Ergebnissen von Blut- und Urintests.

Als er nach Hause kommt, hängt seine Hündin tot an der Decke. Jemand hat ihr den Bauch aufgeschlitzt.

Kurz darauf ertappt Cesare jemanden, der vor seinem Haus herumschleicht. Nachdem er ihn überwältigt hat, stellt er fest, dass es sich um Sergio handelt, den Jungen von der Ceriera-Alm. Sergios Mutter verließ ihren Mann Nelino vor längerer Zeit und ging nach Marseille. Sergio erzählt, er habe Fausto mit einer Gruppe von Flüchtlingen gesehen, die in einem LKW gebracht worden waren und führt Cesare zu der Hütte, in der die Afrikaner noch immer darauf warten, über die Grenze nach Frankreich gebracht zu werden: drei Männer, drei Frauen und zwei Kinder.

Von Sonia erfährt Cesare, dass Fausto bei einer Bank in Frankreich ein Konto hatte und regelmäßig Geld an Antonio Damasco überwies. Daraufhin fährt Cesare zu dem Zweiundachtzigjährigen, dem in Turin ein Restaurant und zwei Diskotheken gehören. Auf die Frage, wer Fausto umgebracht habe, erhält Cesare keine Antwort, aber Antonio sagt ihm, warum er die Hündin töten ließ:

„Die Zeiten haben sich geändert, Cesare, und ich war mir nicht sicher, ob du das mitbekommen hast. So habe ich es dir auf meine Art mitgeteilt.“ (Seite 111)

Antonio trauert den alten Zeiten nach:

„Keine Prinzipien, kein Hass, keine Erinnerung – das ist die Welt, die kommen wird!“ (Seite 111)

Sonia und Cesare schlafen miteinander. Er weiß, dass er keine Gelegenheit haben wird, noch einmal mit ihr ins Bett zu gehen, denn er will die afrikanischen Flüchtlinge, die in der Hütte warten, über die Grenze bringen und rechnet nicht damit, das zu überleben.

Ettore, der so alt wie Cesare ist und dessen Trauzeuge war, heiratete vor drei Jahren eine zwanzig Jahre jüngere Frau. Er lehnt es ab, Cesare bei dessen Vorhaben zu helfen.

„Ich bin zu alt.“
Cesare schaute auf die haarige Schnauze des Hundes, der die Pfoten auf das Fensterbrett gelegt hatte und an der Scheibe kratzte. Früher war er gut im Aufspüren von Kaninchen. Jetzt waren seine Augen ganz klein, weil er ständig angekettet war.
„Du bist genauso alt wie ich“, sagte er.
Ettore verzog sein Gesicht, in der Fensterscheibe sah es aus, als lächelte er.
„Du bist auch zu alt!“ (Seite 126)

Also beschließt Cesare, allein mit den Afrikanern loszuziehen und Sergio mitzunehmen, der heimlich von zu Hause wegläuft und in Marseille nach seiner Mutter Maria Galliano suchen will.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

In den Bergen werden sie beschossen. Cesare geht um den Schützen herum, zieht die Stiefel aus, schleicht sich von hinten an den Mann heran und ersticht ihn. Es ist Ettore.

Auf der französischen Seite wird die Gruppe von Robert mit einem Kleinlaster erwartet. Cesare, der den Siebzigjährigen, mit dem er früher als Schleuser zusammengearbeitet hatte, vor dem Abmarsch telefonisch verständigte, gibt ihm das Geld, das er bei Fausto fand, und Robert bedeutet den erschöpften Afrikanern, auf die Ladefläche zu klettern. Sergio will er bis zum nächsten Bahnhof mitnehmen.

Cesare drückt Sergio ein Blatt Papier in die Hand, auf dem er zwei Namen, zwei Adressen, einen ausländischen Nachnamen, eine Telefonnummer und den Namen einer Bank notiert hat.

Als Sergio von einer Telefonzelle des Bahnhofs, vor dem Robert ihn absetzte, die Kommissarin Di Meo anruft, fragt sie mehrmals besorgt nach Cesare, aber Sergio gibt ihr nur durch, was auf dem Zettel steht.

Nach seiner Rückkehr sucht Cesare Ettores Frau Elvira in ihrem Laden auf. Offenbar weiß sie, was Ettore vorhatte, und als sie Cesare sieht, ist ihr klar, dass Ettore tot ist. Sie war Faustos Geliebte und ist von ihm schwanger.

In seiner Küche gießt Cesare sich ein Glas Kognak ein. Das Telefon klingelt. Es ist Sonia.

„Ich hatte gehofft, dich nicht zu Hause anzutreffen […]
Wir haben die Typen verhaftet“, sagte sie, „du musst sofort verschwinden.“ (Seite 170)

Schweigend legt Cesare auf und wartet.

Kurz darauf ging die Tür hinter ihm auf.
Cesare drehte sich nicht um […]
Als die Kugel in ihn eindrang, spürte er kaum den Schmerz, dann glitten die Beine unter ihm weg und er sank aufs Fensterbrett. (Seite 170)

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„Es ist dumm, wenn man etwas unbedingt wissen will, Cesare. Zumal es die Zweifel sind, die uns am Leben erhalten.“ (Seite 111)

Diesen Ausspruch des Gangsterbosses Antonio Damasco könnte man auch auf den Stil des Romans „Der Steingänger“ von Davide Longo beziehen, denn als Leser muss man sich aus Hinweisen und Andeutungen ein Bild machen, ohne jemals zu erfahren, was „wirklich“ geschah. Wurde Fausto aus Eifersucht erschossen? Welche Namen lässt Cesare der Kommissarin durchgeben, und wer wird daraufhin verhaftet? Wer steht am Ende hinter Cesare?

Der Reiz des Romans „Der Steingänger“ geht nicht von einer bis in alle Einzelheiten erklärten Geschichte aus, sondern von den Geheimnissen, die Davide Longo bewahrt und von dem eigenwilligen Ton, den er anschlägt. Mit seiner nüchternen, rauen und kantigen Sprache erzeugt er eine dichte, intensive und düstere Atmosphäre, in der die Naturgewalt der Berge in Piemont und die Verschlossenheit der Bewohner dieser Gegend zu spüren ist. „Der Steingänger“ ist ein melancholisches Buch über einen einsamen Italiener Mitte sechzig, der um seine vor dreizehn Jahren gestorbene Frau trauert, die gesellschaftlichen Veränderungen in seiner piemontesischen Heimat bedauert, bedächtig seinen Weg geht und sich klaglos seinem Schicksal ergibt.

Davide Longo wurde 1971 in Carmagnola bei Turin geboren. Nach dem Studium erhielt er ein Stipendium für die Holden School, das Literaturinstitut von Alessandro Baricco in Turin, wo er inzwischen selbst unterrichtet. Davide Longo dreht Kurz- und Dokumentarfilme, arbeitet als Journalist und schreibt Romane. „Der Steingänger“ ist das erste Buch von ihm, das ins Deutsche übersetzt wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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