Davide Longo : Der aufrechte Mann

Der aufrechte Mann
Originalausgabe: L'uomo verticale Fandango Libri, Rom 2010 Der aufrechte Mann Übersetzung: Barbara Kleiner Rowohlt Verlag, Reinbek 2012 ISBN: 978-3-498-03935-6, 478 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2013 ISBN: 978-3-499-25531-1, 478 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Italien in naher Zukunft. Der Staat ist zusammengebrochen. Es herrscht Anarchie. Der geschiedene und arbeitslose Literaturprofessor Leonardo Chiri vergräbt sich zunächst in seiner Bibliothek, aber dann nimmt er sich vor, seine halbwüchsige Tochter und deren zehnjährigen Halbbruder in Sicherheit zu bringen. Er ahnt nicht, welche Grausamkeiten er erdulden und mit ansehen muss, bis sich eine Zukunftsperspektive abzeichnet ...
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Kritik

Möglicherweise spielt Davide Longo in seinem dystopischen Roman "Der aufrechte Mann" auf den Niedergang der italienischen Gesellschaft unter Silvio Berlusconi an. Jedenfalls zeigt er eindringlich, was in einer Anarchie geschehen kann.
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Italien in naher Zukunft. Der Staat ist zusammengebrochen. Schulen, Gerichte und andere Behörden sind geschlossen. Die Polizei hat sich aufgelöst, und die verbliebenen Einheiten der Nationalgarde verfolgen ihre eigenen Interessen. Obwohl die Grenzen geschlossen sind, versuchen die meisten Menschen zu fliehen. Es gibt kaum noch Lebensmittel und Treibstoff. Ganze Landstriche sind verwaist. Marodierende Banden und Rudel verwilderter Hunde ziehen herum.

Die wenigen noch offenen Tankstellen sind stark gesichert.

Auf ein Hupen hin trat ein Mann aus dem Gittertor zur Tankstelle, während ein anderer mit gesenktem Gewehr an der Tür stehen blieb. Leonardo stieg aus, ließ sich durchsuchen und gab an, wie viel Benzin er wollte. Der Mann, der um die fünfzig sein mochte und das T-Shirt einer Rockband trug, stieg in den Polar und fuhr den Wagen ins Innere der Umzäunung. Durch das Gitter versuchte Leonardo den Tankvorgang zu kontrollieren, doch der hintere Teil seines Wagens wurde von dem Wohncontainer verdeckt, in dem die beiden Männer lebten.

Leonardo Chiri harrt in seinem Haus in einem piemontesischen Dorf aus. Als Leonardo sechs Jahre alt war, starb sein Vater, ein Winzer wie seine Vorfahren. Die Mutter verkaufte daraufhin einem Chirurgen die eine Hälfte des Hauses. Aber nachdem dieser bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, zog seine Witwe mit den beiden Söhnen fort. Seither stehen die Räume leer.

Vor acht Jahren – damals lehrte Leonardo Literatur an einer Universität – verliebte er sich in Clara Carpigli, eine seiner Studentinnen, die ihren Arbeiten Zettelchen beilegte, bis er sich endlich mit ihr verabredete. Monatelang trafen sie sich. Erst dann ging Leonardo mit Clara ins Bett und ejakulierte auf ihren Bauch. Nachdem sie die Umrisse des Spermas mit einem Kugelschreiber nachgezeichnet hatte, ging sie ins Bad. Er hielt das für ein Spiel, aber dann wurde er zum Rektor gerufen, der Fotos und ein heimlich aufgenommenes Video bekommen hatte. Clara behauptete, er habe sie durch die Drohung, sie nicht zum Doktorat zuzulassen, zu perversen sexuellen Praktiken gezwungen.

Leonardo musste die Universität verlassen, und seine Ehefrau Alessandra ließ sich von ihm scheiden. Vor sieben Jahren zog er sich in sein Geburtsdorf zurück. Die meiste Zeit sitzt er in seiner Bibliothek und liest Bücher. Er hat selbst zwei Romane geschrieben, aber der Verlag ging inzwischen bankrott.

Bei einer Besorgungsfahrt beobachtet Leonardo, wie ein aus etwa 30 Tieren bestehendes Rudel Hunde von einem Trupp Männer gejagt, getötet und verbrannt wird. Es gelingt ihm, einen halb verhungerten Welpen zu retten, und er nimmt ihn mit nach Hause. Nach dem Hund in der Erzählung „Herr und Hund“ von Thomas Mann nennt er ihn Bauschan.

Die Weinlese steht an. Obwohl es seit zwei Jahren verpönt ist, Externe beispielsweise als Hilfskräfte in der Landwirtschaft zu beschäftigen, kommt Lupu wie jedes Jahr mit seiner Familie und weiteren Verwandten, um sich etwas Geld zu verdienen. Als Leonardo bei der Bank einen entsprechenden Betrag abhebt, sagt ihm die Angestellte im Vertrauen, dass die Zweigstelle seit einer Woche keinen Kontakt mehr zur Zentrale habe und keine Geldtransporte mehr gekommen seien. Als Leonardos Schuppen und das Gästehaus niederbrennen, brechen Lupu und seine Leute nach zwei Tagen vorzeitig auf.

Daraufhin bittet Leonardo seinen Freund und Cousin Elio, der das Eisenwarengeschäft seines Vaters übernommen hat, bei der restlichen Arbeit zu helfen. Elio hält das für Unsinn, denn Trauben lassen sich nicht mehr verkaufen. Es wird kein Wein mehr gekeltert. Aber Leonardo will die Trauben nicht an den Rebstöcken verfaulen lassen und fragt deshalb Sebastiano. Der hilft ihm.

Sebastiano ist zehn Jahre jünger als Leonardo. Nach dem Priesterseminar lehrte er an der Theologischen Fakultät und bekam dann eine Pfarrei in einem ligurischen Dorf. Dort verliebte er sich in eine Frau, deren Ehemann viel auf See war. Zunächst verheimlichten die beiden ihre Affäre. Dann legte Sebastiano die Soutane ab, um mit der Frau ein neues Leben anzufangen, aber da beschloss sie, bei ihrem Mann zu bleiben. Die Enttäuschung raubte Sebastiano die Sprache und angeblich auch den Verstand.

Nachdem die Traubenernte eingebracht ist, fährt Leonardo damit zu Cesare Gallo. Der rät ihm, die Fuhre in den Fluss zu kippen, aber am Ende lässt er sich auf einen Tauschhandel ein und gibt ihm Karoffeln, Blumenkohl, Karotten, Mangold und einen Kürbis für die Weintrauben.

Elio erzählt, dass die Grenzwachen in zwei Gruppen eingeteilt sind. Die eine lässt sich für die Passage Schmiergeld bezahlen, die andere fängt die Leute dann ab und schickt sie über die Grenze zurück. Dennoch verlässt Elio mit seiner Frau Gabri und dem Sohn Luca das Dorf und hofft, sich ins Ausland durchschlagen zu können.

Überraschend taucht Alessandra bei ihrem Ex-Mann auf. Sie hat die 16 Jahre alte gemeinsame Tochter Lucia dabei, die Leonardo seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hat, und einen zehnjährigen Jungen namens Alberto. Dessen Vater heißt Riccardo. Seit vier Jahren ist Alessandra mit dem IT-Ingenieur verheiratet. Letztes Jahr wurde er von der Nationalgarde eingezogen. Seit langem hat Alessandra nichts mehr von ihm gehört. Um nach ihm suchen zu können, will sie die Kinder bei Leonardo lassen. Wenn sie Riccardo nicht innerhalb von einer Woche gefunden habe, sagt sie, werde sie zurückkommen und die Kinder wieder abholen.

Als nach vier Wochen noch immer keine Nachricht von Alessandra eingetroffen ist, gibt Lucia ihrem Vater die Passierscheine, die sie von der Mutter bekam und richtet ihm von ihr aus, dass er sie und ihren Halbbruder in die Schweiz bringen soll. Leonardo hält es für besser, im Dorf zu bleiben. Er ist zuversichtlich, dass sich die Verhältnisse wieder normalisieren.

Zwei Externe werden im Dorf gefangen genommen. Sie stammen aus Aserbaidschan. Die Dorfbewohner sind unschlüssig, was sie mit den beiden Männern machen sollen, aber nachdem jemand Cesare Gallo mit zertrümmertem Schädel aufgefunden hat, werden sie erschossen.

Einmal, als Leonardo, Lucia und Alberto von einer Besorgung zum Haus zurückkommen, steht ein Auto davor. Aus einem Versteck heraus beobachten der Professor und die beiden ihm anvertrauten Kinder zwei Männer und eine Frau, die das Haus ausrauben. Nachdem sie weggefahren sind, schauen Leonardo und die Kinder hinein. Die Vandalen haben nicht nur alles zerstört, sondern auch Urinpfützen und Kothaufen hinterlassen. Leonardo zieht deshalb mit den Kindern in Elios verlassenes Haus.

Zwei Monate nachdem Alessandra die Kinder brachte, überfallen drei Männer und eine Frau den Lebensmittelladen im Dorf und töten Norina, die Inhaberin. Deren Mann erschießt drei der Raubmörder, der vierte wird von anderen Dorfbewohnern erschlagen.

Da fährt Leonardo mit Lucia und Alberto im Auto los. Obwohl sie vorsichtig sind, geraten sie in eine Straßensperre. Drei Männer in Uniformen der Nationalgarde zwingen sie zum Aussteigen, nehmen ihnen zunächst das Geld und dann auch das Auto samt Kofferrauminhalt ab. Leonardo und die Kinder müssen zu Fuß weiter.

Sie geraten in ein Lager mit etwa 60 Menschen. Der Hautarzt Dr. Barbero erklärt den Neuankömmlingen, die Anlage gehöre einem Herrn Poli. Der lasse sie gegen Bezahlung hier wohnen, stelle Wachen für sie ab und versorge sie gegen zusätzliches Geld mit Lebensmitteln und Kleidung. Nachts beobachtet Leonardo, wie die beiden Wachen eine Frau wecken, hinausführen und vergewaltigen. Weil er Lucia das ersparen möchte, verlässt er am nächsten Morgen mit den Kindern das Lager und kehrt ins Dorf zurück.

Unterwegs dringt Leonardo in jedes Haus ein, um nach Essbarem zu suchen. In einem Haus, in dem ein erschossener Mann in einem Sessel sitzt, findet er nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kladden, darunter eine unbenutzte. Die beginnt er nun mit Notizen zu füllen.

Vor einem Rudel Hunde können sich Leonardo und die Kinder gerade noch über eine Leiter in einen Heuschober retten. Die verwilderten Tiere hätten sie sonst zerfleischt.

Nachdem Leonardo Sebastianos tote Mutter Adele beerdigt hat, geht er am 23. Januar erneut los, und diesmal nimmt er auch Sebastiano mit.

Sie geraten an einen Mann, der ihnen Essen und Unterkunft anbietet. Er heißt Sergio und wohnt mit seiner Frau Manon und den beiden Söhnen seit zehn Jahren ohne Fernsehgerät, Radio oder Zeitungen in einem abgelegenen Haus. Sergio hatte bei Leonardo studiert, war dann aber Tierarzt geworden. Er erklärt seinem früheren Lehrer, er müsse unter allen Umständen dafür sorgen, dass niemand das Haus findet. Als er Leonardo und dessen Begleiter kommen sah, stand er vor der Alternative, sie zu erschießen oder sie durch Bewirtung so dankbar zu machen, dass sie ihn und seine Familie nicht verraten. Allerdings können die Gäste nur eine Nacht bleiben, denn Sergios Vorräte reichen nicht für mehr.

Auf einem Lagerplatz erwacht Leonardo, als ihm ein Faustschlag die Nase bricht. Einer von zwei jungen Männern legt ihm eine Drahtschlinge um den Hals und bindet ihn damit so eng an einen Baumstamm, dass Leonardo zu ersticken droht. Beim Fesseln der Hände wird ihm eine Schulter ausgerenkt. Einer der Männer tritt ihn in den Mund und bricht ihm damit eine Reihe von Zähnen aus. Dann muss Leonardo hilflos zusehen, wie Lucia weggezerrt wird. Nachdem der Erste sie vergewaltigt hat, überlässt er sie seinem Kumpan, rät ihm aber, sie nur anal zu penetrieren, denn ihr Guru Richard bevorzugt Jungfrauen.

Nachdem die beiden Männer mit Lucia und Alberto abgezogen sind, befreit Sebastiano Leonardo, und sie folgen den anderen. Kurz vor dem Lager der von Richard angeführten Sekte fordert Leonardo Sebastiano auf, mit dem Hund weiterzugehen. Er selbst betritt das Lager.

Zuerst beachtet ihn niemand, aber dann reißen ihm die Sektenmitglieder die Schuhe herunter und treiben ihn in die Glut ihres heruntergebrannten Lagerfeuers. Nachdem er zu ihrem Vergnügen auf der Glut „getanzt“ hat, sperren sie ihn zu ihrem Elefanten in den Käfig. Erst am nächsten Morgen erlaubt Richard einem Arzt, der ebenfalls von der Sekte gefangen genommen wurde, Leonardos verbrannte Fußsohlen zu behandeln.

Leonardo erfährt, dass die Frau und die Tochter des Arztes tot sind. Was aus dem Sohn geworden ist, weiß der Arzt nicht. Er hat nicht vor, zu fliehen, denn die Sekte benötigt medizinische Expertise und er fühlt sich deshalb sicher.

Richard wirft seine letzte Gefährtin aus dem Wohnwagen und holt Lucia hinein. Sein Adlatus, ein Buckliger namens Enrico, schreibt Nummern auf Zettel und verlost die Reihenfolge, in der die Sektenmitglieder über die verstoßene Frau herfallen dürfen.

Leonardo muss immer wieder in der Glut tanzen. Und wenn er im Käfig sitzt, quälen ihn die Kinder mit Stöcken und Steinwürfen, bis er auf seinen verbrannten Füßen tanzt.

Der Arzt bietet Leonardo eine tödliche Injektion an, aber der Literat will Lucia nicht verlassen.

Alberto schließt sich freiwillig der Sekte an, die in Etappen weiterzieht.

Wieder einmal sind Schüsse zu hören. In dem Jungen, der in den Käfig gesperrt wird, erkennt Leonardo Sergios älteren Sohn wieder. Er heißt Salomon und ist zwei Jahre jünger als Alberto. Die Sekte war auf das abgelegene Haus gestoßen. Sergio hatte vier der Angreifer getötet, war dann aber selbst tödlich verletzt worden. Manon flüchtete mit dem jüngeren der beiden Söhne auf den Dachboden. Dort erschoss sie das Kind und sich selbst. Salomon hatte sich versteckt, aber die Sektenmitglieder fanden ihn und nahmen ihn mit.

Einige Zeit später werden zwei Männer gefangen genommen. Auf Richards Geheiß liest Enrico ihnen die „Regel“ vor.

„Ihr werdet an einem Tisch sitzen, einer dem anderen gegenüber, und werdet ein Messer haben. Der erste hat zwei Minuten, um sich einen Finger abzuschneiden. Wenn er es nicht tut, wird er getötet. Sodann hat der andere zwei Minuten, um sich einen Finger abzuschneiden. Wenn er es nicht tut, wird er getötet. Wenn er es tut, ist der andre dran, sich noch einen Finger abzuschneiden. leben wird derjenige von beiden, der sich einen Finger mehr abschneidet als der andere. Wenn ihr euch beide alle zehn Finger abschneidet, werdet ihr beide leben.“

Die Leiche des Unterlegenen wird ins Lagerfeuer geworfen, der Überlebende zu Leonardo, Salomon und dem Elefanten in den Käfig gesperrt. Am nächsten Morgen ist er tot. Der Mann sei Bluter gewesen, erklärt der Arzt.

Unterwegs trifft die Sekte auf einen aus vier Autos bestehenden Konvoi, aus dem sofort Männer springen und mit Schusswaffen in Stellung gehen. Enrico geht hin, verhandelt mit einem Unterhändler und kommt dann mit einer außergewöhnlich dicken Frau zurück. Sie wird ebenfalls in den Käfig gesperrt, und die Sektenmitglieder fordern Leonardo auf, mit ihr zu kopulieren. Er sträubt sich, aber Enrico schießt mehrmals dicht an seinem Kopf vorbei, und der Elefant wird nervös. Schließlich legt sich die Frau auf den Käfigboden und rät Leonardo dazu, sich zu fügen.

Sie heißt Evelina und ist Hebamme. In einem Krankenhaus lernte sie ihren fast 70-jährigen späteren Ehemann Gianni kennen, einen Historiker von der Universität Antwerpen, dessen Tochter gerade entbunden hatte. Drei Monate später heirateten sie. Fünf Jahre waren ihnen vergönnt, dann wurden sie von der Sekte überfallen. Gianni wäre für die Verbrecher wegen seines Alters und seines Hüftleidens hinderlich gewesen. Sie banden ihn deshalb auf einen Tisch und warfen ihn in den nahen Fluss.

Inzwischen gibt es nur noch Treibstoff für den Bus und den Lieferwagen; die anderen Fahrzeuge der Sekte müssen gezogen werden.

Als der Konvoi bei einem Kastell vorbeikommt, wird er beschossen. Enrico geht wieder als Unterhändler los. Er überlässt den Angreifern Evelina, damit die Sekte weiterziehen darf.

Wegen des starken Schneefalls sitzt die Sekte schließlich in einem Dorf fest. Offenbar ist auch die Heizung im Wohnmobil ausgefallen, denn Richard bezieht mit Lucia in einem der Häuser Quartier.

Unvermittelt taucht eine Eselin mit ihrem Jungen auf. Richard rät seinen Leuten, nur das Jungtier zu schlachten. Das Muttertier wird in den Käfig gesperrt. Heimlich saugt Leonardo an den Zitzen. Er nennt die Eselin Circe. Dem Elefanten hat er inzwischen den Namen David gegeben.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Schließlich bittet er den Arzt, der nach ihm und den Tieren schaut, die Käfigklappe nicht wieder zu verschließen und das Beil, das er zum Abhacken von Zweigen für den Elefanten nutzte, in der Nähe liegen zu lassen.

Leonardo verlässt den Käfig, hebt die Axt auf und betritt das Gebäude, in dem die Sekte versammelt ist. Keiner der überraschten Anhänger hindert ihn daran, sich Richard zu nähern, der mit Lucia an einem der Tische sitzt. Ob Leonardo ihm den Kopf abhacken wolle, fragt er höhnisch. Wortlos tritt Leonardo hin, legt seine linke Hand auf die Tischplatte und hackt sich den Daumen ab. Richard erbleicht.

„Was willst du damit beweisen?“, sagte er, ohne ihm in die Augen zu schauen.
Mit dem zweiten Hieb hackte Leonardo sich Zeige- und Mittelfinger ab.
Diesmal rollten die zwei Finger über den Rand der Tischplatte hinaus und fielen Richard in den Schoß, der zurückzuckte. Kleine rote Spritzer befleckten seine Kutte. Leonardo schaute Lucia in die warmen Augen und lächelte ihr zu: Einen Augenblick lang war er mit ihr in jenem Anderswo, wo die Tochter zu Hause war, dann sah er wieder Richard an. Er war blass und gedunsen wie eine Totenblume. Die Unterlippe sichtlich zitternd.
Leonardo hob die Axt zum dritten Mal und hackte sich die übrigen Finger ab. Einer fiel vom Tisch, aber der kleine Finger drehte sich um sich selbst und blieb nach oben gekehrt liegen. Da zog Leonardo die Axt aus dem Holz, wo sie stecken geblieben war […]
„Glaubst du, du kannst mir Ein…“, sagte Richard, aber der Satz ging in einem Gurgeln unter.
Leonardo lächelte ihn an, hob die Axt, ließ sie auf das linke Handgelenk herabsausen und hackte sich die ganze Hand ab.
Diesmal spritzte das Blut nach allen Seiten, befleckte auch den Buckligen, der aber nicht einmal die Hand hob, um sich das Gesicht abzuwischen. […]

Als Leonardo Richard seine abgehackte Hand in den Schoß wirft, fällt der Sektenführer in Ohnmacht.

Unbehelligt verlässt Leonardo mit Lucia, Salomon, Richards vorheriger Gefährtin – sie heißt Silvia –, dem Arzt, dem Elefanten David und der Eselin Circe das Dorf. Etwas außerhalb versorgt der Arzt Leonardos Armstumpf und kehrt dann zurück.

Silvia ist Mitte 30. Früher arbeitete sie für eine internationale Hilfsorganisation in Kriegsgebieten und unterstützte dort Opfer von Massenvergewaltigungen, die bereit waren, als Zeuginnen auszusagen. Silvia erklärt Leonardo den Schockzustand seiner Tochter und erteilt ihm Ratschläge, wie er sich Lucia gegenüber verhalten soll. Dann erhängt sie sich.

Schließlich erreichen Leonardo, Lucia und Salomon mit David und Circe die ligurische Küste. Am Strand treffen sie auch Sebastiano und den Hund Bauschan wieder.

In einem Boot setzen sie zu einer kleinen Insel über, auf der Sebastiano nicht nur eine Hütte ausgebaut, sondern auch Gemüsebeete angelegt hat. Allerdings ist der Boden mit Hundegerippen übersät. Vor zwei Jahren setzte man nämlich die streunenden Hunde, die man eingefangen hatte, auf der unbewohnten Insel aus. Da es dort nichts zu fressen für sie gab, zerfleischten sie sich gegenseitig. Einige begatteten sich, aber die Welpen wurden ebenfalls gefressen.

Die Eselin konnten Leonardo und seine Leute im Boot mitnehmen, aber der Elefant ist zu schwer. Um ihn auf die Insel bringen zu können, müssen sie erst vier leere Tonnen besorgen und an das Boot montieren.

Dabei werden sie von drei Männern beobachtet. Leonardo spricht mit dem Ältesten von ihnen. Clemente, ein ehemaliger Meeresbiologe, ist über 70. Einer der beiden Jüngeren habe früher in der Bank gearbeitet und Leonardo als Kunden wiedererkannt, sagt er. Etwa 500 Männern und Frauen haben sich in der nahen Festung eingerichtet und verfügen über Gemüse- und Obstgärten, Kühe, Ziegen, Hühner, einen Weinberg, einen Brunnen und einen Backofen.

Leonardo zieht es zwar vor, mit Lucia, Sebastiano, Salomon, David und Circe auf der Insel zu leben, aber allabendlich setzt er sich an den Strand, und die Menschen aus der Festung versammeln sich bei ihm, um sich die Geschichten anzuhören, die er erzählt.

Lucia ist inzwischen hochschwanger. Leonardo drängt sich ihr nicht auf, aber eines Tages nimmt sie wortlos seine rechte Hand und legt sie sich auf den Bauch, damit er das Kind spürt.

Im September bringt sie eine Tochter zur Welt.

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Davide Longo lässt seinen dystopischen Roman „Der aufrechte Mann“ in naher Zukunft in Italien spielen. Wie und wodurch die staatliche Ordnung zerfallen ist, verrät er uns nicht. Sicherheit gibt es keine mehr. In dieser anarchischen, barbarischen Gesellschaft ist jeder Mensch des anderen Wolf (homo homini lupus). Ob Davide Longo damit auf den Niedergang der italienischen Gesellschaft unter Silvio Berlusconi anspielt, wissen wir nicht.

Leonardo Chiri, ein Intellektueller Anfang 50, verkriecht sich zunächst in seiner Bibliothek und hofft, dass die Verhältnisse wieder besser werden. Erst als er einsieht, dass er handeln muss und dann auch für seine Tochter kämpft, findet er zu sich selbst und beginnt trotz aller Grausamkeiten, die ihm zugefügt werden, an die Zukunft zu glauben.

„Der aufrechte Mann“ ist ein düsterer und grausamer Endzeit-Roman. Die dramatische Klimax hat Davide Longo 70 Seiten vor dem Schluss platziert. Danach hellt sich die Atmosphäre deutlich auf und entwickelt sich ins Märchenhafte. An der ligurischen Küste regt sich offenbar neues Leben, und wenn Lucia in einer ausgebauten Baracke im Beisein eines Elefanten und einer Eselin ein Kind zur Welt bringt, erinnert das wohl nicht von ungefähr an die Weihnachtsgeschichte.

Die Handlung überspannt übrigens genau ein Jahr, von einem Herbst zum nächsten.

Im 3. Teil von „Der aufrechte Mann“ (S. 249 – S. 281) verwendet Davide Longo statt der dritten Person Singular die Ich-Form und gibt den Text als Leonardos Notizen vom 20. bis 26. Januar aus. Dementsprechend ändert sich auch der Stil.

Lucia gefragt, ob sie müde sei. Sie verneinte. Also im Ofen noch ein Holzscheit nachgelegt. Es mochte neun Uhr sein.

Bei einer Szene in „Der aufrechte Mann“, die wir hier nicht vorwegnehmen möchten, könnte Davide Longo an Gaius Mucius Scaevolas gedacht haben, einen Römer, der sich 508 v. Chr. während der Belagerung Roms durch die Etrusker ins feindliche Lager schlich, um König Porsenna zu töten. Das Attentat wurde zwar vereitelt, aber als Scaevolas seine rechte Hand vor Porsennas Augen in eine offene Flamme hielt und sie verbrennen ließ, war der Etrusker-König so beeindruckt von der Willenskraft des Römers, dass er die Belagerung abbrach. Es gibt auch Parallelen zu anderen literarischen Werken. Beispielsweise erinnert Richards Willkürherrschaft an „Herz der Finsternis“, und wenn wir uns die Führungsfigur wegdenken, ähneln die Kinder und Jugendlichen der anarchischen Sekte den Schuljungen in „Herr der Fliegen“. Anklänge an „Fahrenheit 451“ sind ebenfalls auszumachen. Besonders deutlich sind die Übereinstimmungen mit „Die Straße“ und „Schande“. Das bedeutet jedoch nicht, dass Davide Longo plagiiert hat; nein, er hat ein eigenständiges Werk geschaffen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Davide Longo: Der Steingänger
Davide Longo: Der Fall Bramard

Grete Hartwig-Manschinger - Rendezvous in Manhattan
Grete Hartwig-Manschinger beschäftigt sich in ihrem Roman "Rendezvous in Manhattan" kritisch mit der US-amerikanischen Gesellschaft in den Vierzigerjahren. Die Handlung dreht sich um eine Aschenbrödel-Geschichte, die mit dem american dream von ungehinderten Aufstiegsmöglichkeiten korrespondiert. Sie streut nachdenkliche Passagen ein, tut das aber so geschickt, dass die linear-chronologisch entwickelte Handlung mitreißend bleibt.
Rendezvous in Manhattan