António Lobo Antunes : Ich gehe wie ein Haus in Flammen

Ich gehe wie ein Haus in Flammen
Originalausgabe: Caminho como uma casa em chamas Publicações Dom Quixote, Alfragide 2014 Ich gehe wie ein Haus in Flammen Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann Luchterhand Literaturverlag, München 2017 ISBN: 978-3-630-87502-6, 443 Seiten ISBN: 978-3-641-18091-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In dem Roman "Ich gehe wie ein Haus in Flammen" versetzt sich der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes abwechselnd in die Gedanken- und Erinnerungswelt der Bewohner eines dreistöckigen Mietshauses mit sechs Parteien in Lissabon. Es handelt es sich um vereinsamte ältere Menschen. Was ihnen durch den Kopf geht, flackert, verlöscht zwischendurch und bleibt fragmentarisch ...
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Kritik

António Lobo Antunes verzichtet darauf, die Leser durch eine Identifikationsfigur zu fesseln. Es gibt nicht einmal einen Erzählstrang in "Ich gehe wie ein Haus in Flammen". Die inneren Monologe der verschiedenen Hauptfiguren ergeben einen poetischen, polyphonen Trauergesang.
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Erster links. Im Erdgeschoss eines Mietshauses in Lissabon wohnt ein Alkoholkranker, der nicht viel von sich hält:

Ich bin tatsächlich immer im Weg, ich habe mein ganzes Leben lang gestört

Schon als Kind war er von seinem Vater zum Trinker erzogen worden. Seine Mutter hatte es mit einem Priester getrieben. Als sein Vater Streit mit einem Nachbarn hatte und dieser mit einem Gewehr herüberkam, richtete der Junge ein Messer auf seinen Bauch und drohte:

Ich fick deine Stieftochter und schlitz dir dabei den Bauch auf

[…] ein paar Monate später fiel der Ast eines Eukalyptusbaums auf ihn, es war der Oktoberwind, was für ein Unglück, so etwas passiert, ich habe nur ein bisschen nachgeholfen, der Nachbar lag da
– Nein
und der Ast, was der Wind so alles macht, ging beharrlich rauf und runter, er versuchte einen Stein auf mich zu werfen, doch der Astarm hinderte ihn daran, er versuchte, mit mir ins Einvernehmen zu kommen, doch der Astarm brachte ihn zum Schweigen […]

Später heiratete er die Tochter der Witwe des Nachbarn.

Weil er Kommunist war, wurde er unter Salazar von der Polizei gefoltert, und man zwang ihn zu Spitzeldiensten.

Polizisten nach den ersten Ohrfeigen
– Zwei Wege stehen dir offen mein Schöner entweder arbeitest du mit den Verrätern zusammen oder du arbeitest mit uns zusammen
von den beiden Wegen habe ich den zweiten gewählt, trotzdem drei Monate im Gefängnis, und die Daumen zerquetscht, noch heute kann ich den linken nur schwer anbeugen

Jetzt hat ihn seine Frau ausgesperrt, und auch die Tochter Alexandra will nichts mehr von ihm wissen. Die erste Tochter war im Alter von sechs Monaten an Hirnhautentzündung gestorben.

Erster rechts. Die Wohnung rechts daneben wird von einem Geschwisterpaar benutzt. Bei der 70-jährigen Frau und ihrem fünf Jahre älteren Bruder handelt es sich um die einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie aus der Ukraine. Alle anderen Verwandten waren im Holocaust umgekommen. Der Vater war den Mördern zuvorgekommen und hatte sich im Treppenhaus mit einem Elektrokabel erhängt. Die Erinnerungen an die Schreckensereignisse verfolgen vor allem die Frau noch immer. Obwohl der Bruder ihr versichert, dass sie allein sind, hat sie den Eindruck, es sei noch jemand in den Räumen und beobachte sie heimlich.

Zweiter rechts. Über dem Geschwisterpaar wohnt Joaquim, ein Rechtsanwalt Ende 70. Erst als seine asthmakranke Frau unlängst starb, wurde ihm nach 30 Jahren bewusst, wie sehr er die Räume hasst, in denen früher auch die beiden Söhne aufgewachsen waren.

[…] die Finger meiner Frau verwandelten sich in Blutegel, die an mir klebten, sie war grün, mit hervortretenden Augäpfeln über den Wangen erriet sie, was ich dachte, wir sind seit siebeneinhalb Jahren zusammen, mehr als siebeneinhalb Jahre, sieben Jahre und acht Monate, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich mag dich, trotz der Blutegel und deinem Wunsch, mich zu töten, möglicherweise mag ich dich, sorge ich mich um dich, habe ich Sehnsucht, derlei Dinge, ich behaupte es nicht, es ist eine Ahnung, ich mag dich, aber du wirst mich mit einem Besen an der Tür des Kühlschranks zerquetschen, Baby, und ich im Eimer, ich im Eimer, mein Vater, der meinen Onkel begleitete […]

Zweiter links. Der Eingang gegenüber gehört zur Wohnung einer 59-jährigen pensionierten Richterin, deren Klavierspiel mitunter im ganzen Haus zu hören ist. Jeden Morgen ist sie schockiert über ihren Geruch, denn genauso hat sie den ihrer Großeltern in Erinnerung: es ist der Geruch alter Menschen. Ebenso widerlich findet sie ihre Zahnprothese. Ihr Mann verließ sie, als die Kinder noch klein waren. Früher schlief die Richterin hin und wieder mit einem Sekretär, der sie „pummeliges Eichhörnchen“ nannte, aber nicht „Fettpudding“ wie ein anderer Liebhaber.

Sie erinnert sich an ihre Kindheit. Nach der Schule ging sie mit ihrer Freundin Isilda, deren Brüste bereits zu knospen begannen, zur verlassenen Gerberei am Stadtrand, „wo ein Buckliger zwischen Decken und Brotkanten lebte“: Senhor Herberto. Der ahmte für sie Tiere nach, und als Gegenleistung ließen sich die Mädchen von ihm streicheln.

Als der Großvater, von dem es hieß, er habe einen Schwager erschossen, nicht mehr auf Hasenjagd gehen konnte, weil seine Beine nicht mehr mitmachten, bat er seine Enkelin, ihm das Gewehr und die Patronen zu bringen.

[…] er tötete die Hunde einen nach dem anderen, und keiner floh, sie warteten mit erhobenem Kopf im Hof, hofften darauf, in den Wald zu rennen, mein Großvater reichte mir am Ende das Jagdgewehr, dessen Läufe brannten […]

Später sagte er zu ihr:

Wärst du ein Kerl würdest du eine Hacke nehmen und mir den Kopf abschlagen

Dritter links. Bei Augusto, dem Bewohner über der Richterin, handelt es sich um einen früheren Oberleutnant. Als er in Luanda war, stand ihm ein Dienstmädchen zu. Seine Frau war in Angola an Malaria gestorben. Sofia-Rosa, die Tochter eines weißen Feldwebels und einer schwarzen Afrikanerin, kochte, wusch und putzte für ihn. Dabei war sie als Lehrerin ausgebildet.

Ich holte mir eine Mulattin ins Haus, als ich aus Leste, dem Osten Angolas, kam, in den letzten Wochen vor meiner Rückkehr nach Lissabon, nicht weil ich sie mochte, wie kann man ein Geschöpf aus einer niederen Rasse mögen, Tochter eines weißen Sanitätsfeldwebels, der mir im Krankenhaus den Verband über einer Wunde an der Schulter gewechselt hatte, und einer Negerin

[…] ich habe mir also, als ich aus dem Busch kam, eine Mulattin ins Haus geholt, damit sie sich bis zur Abfahrt meines Schiffes nach Lissabon um das Reinemachen, das Essen, die Wäsche, um den ganzen Kram kümmert, der stets die Wohnung anfüllt, in der wir leben, und der Feldwebel stolz auf seine Tochter
– Sie hat eine Lehrerinnenausbildung und gibt Unterricht

Kurz bevor er sich nach Lissabon einschiffte, sagte sie ihm, dass sie schwanger von ihm sei. Allenfalls für einen Monat hätte er sie mitgenommen, aber sie blieb in Luanda zurück, und er kümmerte sich nicht weiter um sie. Das Kind wäre jetzt 39 Jahre alt. Inzwischen bedauert er sein herzlosen Verhalten und fühlt sich schuldig.

Dritter rechts. Seine Nachbarin ist eine frühere Schauspielerin:

Wie lange schon habe ich das Haus nicht mehr verlassen und bin auf die Straße hinuntergegangen, die Beine weigern sich zu gehen, und meine Nichte kann mich nicht halten […]

Sie denkt:

Obwohl Familien für nichts gut sind, was hat mir meine letztlich gebracht, tat mir meine Schwester leid, die immer schon bescheuert war, und diesbezüglich hat mein Vater, der bei vielem danebenlag, ins Schwarze getroffen, sie war noch klein, fünf oder sechs Jahre, als er, zu meiner Mutter gewandt, auf sie zeigte
– Nicht dass der Junge besonders helle wäre aber die da kommt ganz und gar nach dir und wird ihr ganzes Leben lang dämlich sein

Dachboden.

Hier ist es nicht schlecht, und außerdem werde ich nicht von Fragen, Briefen, Telegrammen, Berichten, Vorschlägen unterbrochen, ich habe so viel zu tun, dass ich keine Zeit habe, mit ihnen zu reden […]

[…] seit Ewigkeiten interessiert mich nichts mehr, weil ich kein Mensch bin, sondern die matte Gegenwart einer erloschenen Autorität […]

Wenn es dunkel geworden ist und niemand mehr im Treppenhaus ist, bringt ihm ein Mädchen eine Suppe. Während Salazar isst, denkt er:

[…] wie gut, dass sie mich nicht mit Fragen, Briefen, Telegrammen, Berichten, Vorschlägen unterbrechen, wo sie mich in Wirklichkeit gar nicht unterbrechen, denke dabei, ich habe so viel zu entscheiden, dass mir keine Zeit für Gespräche bleibt, aber niemand spricht mit mir, ich versende keine Papierchen mit Befehlen, denn da ist niemand, der sie ausführt […]

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In dem Roman „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“ versetzt sich der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes abwechselnd in die Gedanken- und Erinnerungswelt der Bewohner eines dreistöckigen Mietshauses mit sechs Parteien in Lissabon. Es handelt sich um vereinsamte ältere Menschen. Was ihnen durch den Kopf geht, flackert, verlöscht zwischendurch und bleibt fragmentarisch. António Lobo Antunes bleibt konsequent in dem einen Haus und verlässt es nur mit den Erinnerungen der Figuren. Dieser trostlose Mikrokosmos, in dem die Bewohner wenig voneinander wissen und zum Teil auch falsche Vorstellungen über Nachbarn haben, spiegelt die portugiesische Gesellschaft nach Salazar.

António Lobo Antunes verzichtet darauf, die Leser durch eine Identifikationsfigur zu fesseln. Es gibt nicht einmal einen Erzählstrang in „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“. Die inneren Monologe der verschiedenen Hauptfiguren ergeben einen poetischen, polyphonen Trauergesang. Wie ein Komponist arbeitet António Lobo Antunes mit Wiederholungen, Modifikationen, Refrains und Leitmotiven. Zu den Leitmotiven gehört das „Haus in Flammen“, das rund zwanzigmal auftaucht.

Ich gehe wie ein Haus in Flammen […]

[…] in diesem Haus in Flammen, das wohin geht […]

[…] ich werde durch die Jahrhunderte gehen wie ein Haus in Flammen […]

Leicht zu lesen ist das nicht, vor allem auch, weil António Lobo Antunes das Zerbröckeln der Gedanken und Erinnerungen sprachlich spiegelt. Das klingt zum Beispiel so:

[…] ich mag weder die Wohnung noch die Möbel, das Wasser in der Blumenvase welker als die Blumen, im Fenster Schreie pfeilschneller Augenbrauen, die sie Schwalben nennen, meine Mutter unvermittelt jung
– Frühling Kleiner
als könnte man den Frühling sehen, womöglich gab es Keramikgeklimper in den Blättern oder mehr Mädchen im Freien, aber ich war für sie nicht vorhanden, die Augenbrauen des Lehrers hoben sich vom Heft zu meinem Gesicht, entschwanden, mich verachtend, über die Dächer
– In jedem Satz drei Patzer
ich mag das Schlafzimmer nicht, aus dem ich den Sessel nicht herausgenommen habe, in den man dich mit der Sauerstoffmaske setzte, ein Pantoffel am Fuß, der zweite verlorengegangen, deine Augenlider atmeten über der Maske, nicht die Lunge, deine Augenlider zwei Kröten mit faltigen Bäuchen, die sauer auf mich waren
– Du hast nie was getaugt
unter dem Haar, das noch viel welker war als die Blumen, ein paar graue Stängelchen, feuchte Blütenblätter, der Fuß mit dem Pantoffel deiner, der Fuß ohne Pantoffel der einer Fremden, monatelang hast du mir die Briefe zurückgeschickt, in denen jeder Satz drei Patzer enthielt
– So was von hartnäckig mir zu schreiben
der Fuß ohne Pantoffel unbekannt, rot, schwoll im gleichen Rhythmus wie die Augenlider an und ab, was schwoll hier nicht alles an und ab, die Wände, das Bett, die dreißig Jahre, die wir zusammen verbracht haben, ich schreibe Ihnen, weil ich Sie schätze, und zu mehr als zu dieser idiotischen Prosa war ich nicht imstande, ich wollte Sie nicht beleidigen, ich mag das Schlafzimmer ebenso wenig wie das Zimmer meiner Söhne, sie sind gegangen, und die Umrisse der Schränke sind auf dem Putz zurückgeblieben, sie fehlen mir und fehlen mir nicht, sie fehlen mir nicht, ihr Fenster geht nach hinten hinaus, früher ein offenes Feld mit Schafen, die den Klang ihrer Schellen kauten …

Jedes Kapitel ist mit einer Angabe über die Lage der Wohnung überschrieben („Erster rechts“). Außer den Bewohnern des Hauses kommen jedoch auch andere Figuren in „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“ zu Wort, so zum Beispiel die Frau, die vor 40 Jahren in Angola von dem im 2. Stock links wohnenden portugiesischen Ex-Offizier geschwängert wurde:

Anfangs wohnte mein Vater im Haus und wir, da wir nicht weiß waren, in einer Baracke nebenan mit unseren Bastmatten, unseren Hühnern und einem aus dem Krankenhaus mitgebrachten Bett, das aber niemand außer ihm während der Sonntagssiestas benutzte, wenn er, ohne die Stiefel auszuziehen, meiner Mutter befahl, sich hinzulegen, und seinen Gürtel lockerte, mein Bruder und ich saßen auf dem Boden und leckten an einem Stück Zucker, ich erinnere mich an die Füße meiner Mutter, die fast so groß waren wie die Stiefel, an Teile ihres Körpers, die nackt waren und Teile seines Körpers, die bekleidet waren, an das Zicklein an der Tür, das uns ansah, mein Vater vertrieb es, indem er einen aus der Wand gefallenen Lehmklumpen nach ihm warf, daran, dass das Bett immer schiefer stand, daran, dass das Gesicht meines Vaters immer röter wurde, dass er keuchte und meine Mutter, als er zu keuchen aufgehört hatte, wegschob […]

Irgendwo im Haus liegt eine Geschäftskarte mit folgendem Aufdruck:

Antunes & Lobo Alle Klempnerarbeiten Wir kommen ins Haus Moderate Preise

Ein weiterer Gag ist das letzte Kapitel. Da zeigt uns António Lobo Antunes, wer auf dem Dachboden haust. Es ist niemand anderer als António de Oliveira Salazar (1889 – 1970), dessen Ende der Zwanzigerjahre errichtete Diktatur erst 1974 durch die „Nelkenrevolution“ beseitigt wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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