Lise Meitner


Elise (»Lise«) Meitner wurde am 17. November 1878

in Wien als drittes von acht Kindern des Hof- und Gerichtsadvokaten Philipp Meitner (1840 – 1910) und dessen Ehefrau Hedwig (1850 – 1924) geboren. Die wohlsituierten, seit 1875 verheirateten Eltern stammten zwar beide aus jüdischen Familien, aber sie dachten eher freigeistig, boten ihren Kindern eine aufgeschlossene, intellektuelle Atmosphäre und vermittelten ihnen die Liebe zu Musik und Literatur.

Da die staatlichen Gymnasien in Wien damals noch keine Mädchen aufnahmen, besuchte Lise Meitner stattdessen vom 11. bis 13. Lebensjahr eine Mädchen-Bürgerschule. Nach dem Schulabschluss am 15. Juli 1892 ließ sie sich auf einer Höheren Töchterschule zur Lehrerin ausbilden und bereitete sich zunächst autodidaktisch, dann durch Privatstunden auf die angestrebte Reifeprüfung vor. »Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren«, erinnerte Lise Meitner sich später in einem Brief. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren bestand sie als Externe die Matura am Akademischen Gymnasium in Wien. Parallel dazu legte sie das Lehramts-Examen ab. Im Oktober 1901, vier Jahre nachdem Frauen in Österreich zum Universitätsstudium zugelassen worden waren, begann Lise Meitner, Mathematik, Physik und Philosophie zu studieren. Am 1. Februar 1906 promovierte sie zusammen mit ihrer Kommilitonin Selma Freud am Physikalischen Institut der Universität Wien. Das hatte vor ihnen außer Olga Steindler (1879 – 1933; Promotion: 1903) noch keine Frau geschafft.

Lise Meitner studierte in einer Zeit, in der das klassische Weltbild der Physik ins Wanken kam: Nachdem man seit der Antike geglaubt hatte, die Atome seien die kleinsten Bestandteile der Materie, stellte sich heraus, dass sie aus subatomaren Partikeln zusammengesetzt sind. Max Planck beobachtete 1900, dass Strahlungsenergie nicht stufenlos, sondern portionsweise emittiert bzw. absorbiert wird (Quantentheorie). Fünf Jahre später leitete Albert Einstein aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit die Erkenntnis ab, dass Raum und Zeit nicht absolut sind und postulierte zugleich die Äquivalenz von Masse und Energie (spezielle Relativitätstheorie).

Lise Meitner interessierte sich besonders für die 1896 erstmals von Antoine Henri Becquerel beobachtete und von dem Ehepaar Marie und Pierre Curie erforschte Radioaktivität. Mit ihrer Bewerbung bei Marie Curie an der Sorbonne scheiterte Lise Meitner allerdings. Statt nach Paris zog sie im September 1907 nach Berlin und besuchte Vorlesungen von Max Planck – als Gasthörerin, weil Frauen in Preußen erst ein Jahr später zur Immatrikulation zugelassen wurden. Experimente durfte sie zwar mit dem fast gleichaltrigen Radiochemiker Otto Hahn (1879 – 1968) durchführen, der sich in einer ehemaligen Holzwerkstatt im Chemischen Institut der Friedrich-Wilhelm-Universität ein Labor eingerichtet hatte, doch sie musste den Hintereingang benutzen und durfte die anderen Arbeitsräume nicht betreten. Nachdem Lise Meitner 1909 mit Otto Hahn zusammen den radioaktiven Rückstoß bei der Aussendung von Alpha-Strahlen entdeckt hatte, wurde sie in der Fachwelt wahrgenommen und erregte sogar die Aufmerksamkeit von Marie Curie und Albert Einstein.

Ab 1912 arbeiteten Otto Hahn und Lise Meitner am neu gegründeten Institut für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin. Allerdings galt Lise Meitner lediglich als Gast in der von Otto Hahn geleiteten Abteilung für Radioaktivität und wurde für ihre Forschungstätigkeit nicht entlohnt. Als erste Frau an einer preußischen Universität bekam sie noch im selben Jahr von Max Planck eine Assistentinnenstelle, und im Jahr darauf wurde sie endlich als wissenschaftliches Mitglied vom Kaiser-Wilhelm-Institut aufgenommen. Im Alter von fast fünfunddreißig Jahren erhielt Lise Meitner ihr erstes Gehalt und konnte sich nun statt eines Zimmers in Untermiete eine eigene Wohnung in Berlin leisten und ein Klavier aufstellen.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete Otto Hahn sich sofort zum Militär. Lise Meitner, die gerade Ferien bei ihrer seit 1910 verwitweten Mutter in Wien machte, kehrte nach Berlin zurück und setzte die Arbeit zunächst allein fort, bis sie eine Möglichkeit fand, sich als freiwillige Helferin in einem k. u. k. Lazarett zu betätigen. Im August 1915 fuhr sie nach Lemberg – sechzig Stunden dauerte die Bahnreise – und schrieb einer Freundin nach ihrer ersten Konfrontation mit verwundeten Soldaten: »So schrecklich habe ich es mir nicht vorgestellt, wie es in Wirklichkeit ist.«

Am 22. August 1915 machte ihr ein griechischer Professor, der sie bei einem Kongress kennen gelernt hatte, einen Heiratsantrag, und im Juli des folgenden Jahres scheint Lise Meitner sich in einen österreichischen Oberleutnant verliebt zu haben, aber sie blieb im Unterschied zu ihren vier Schwestern unverheiratet und achtete darauf, dass andere über ihr Privatleben möglichst wenig erfuhren. Es ist nur bekannt, dass sie seit ihrer Jugend gern las und Musik hörte, ins Theater und in Konzerte ging. Erholung suchte sie außerdem in der Natur und fühlte sich dabei am wohlsten im Wald und in den Bergen. »Ich habe […] eine geradezu kindische Sehnsucht nach einem Wald, so einem richtigen mit Buchen und schönem Unterholz und Sonnenflecken zwischen den dichten Bäumen.« Für die Frauenbewegung ließ sie sich nicht gewinnen. Wichtig war ihr vor allem die Physik. »Herzlich liebe ich die Physik«, schrieb sie in einem Brief. »Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt.«

Als Otto Hahn in einem Brief die Befürchtung äußerte, das Labor im Kaiser-Wilhelm-Institut könne für militärische Zwecke genutzt werden, wenn es noch länger verwaist bliebe, kehrte Lise Meitner im September 1916 nach Berlin zurück.

Im Jahr darauf wurde sie Leiterin der eigens für sie geschaffenen Physikalisch-Radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Am 31. Juli 1919 verlieh man ihr sogar einen Professorentitel, der allerdings nicht mit einer Lehrerlaubnis verbunden war. Als das preußische Kultusministerium genau ein Jahr später verfügte, dass sich auch Frauen habilitieren dürfen, machte Lise Meitner von diesem neuen Recht Gebrauch – als zweite Physikerin in Deutschland –, bekam 1922 die Venia legendi für Physik und hielt im Oktober ihre Antrittsvorlesung als Privatdozentin. Vier Jahre später berief die Friedrich-Wilhelm-Universität sie zur außerordentlichen Professorin für experimentelle Kernphysik.

Die Nationalsozialisten entzogen der renommierten protestantischen Wissenschaftlerin aufgrund ihrer jüdischen Abstammung im September 1933 die Lehrerlaubnis.

Ihre Forschungen konnte sie zunächst noch fortsetzen, und sie überredete Otto Hahn, mit ihr gemeinsam Experimente zur Erzeugung von Elementen mit höheren Atomgewichten als Uran (Transurane) durchzuführen. Hahn, der inzwischen Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie war, zog Ende 1934 auch seinen Stipendiaten Fritz Straßmann (1902 – 1980) hinzu, und sie begannen, Uranproben mit Neutronen zu beschießen. Die Chemikerin Ida Noddack-Tacke (1896 – 1978) bezweifelte, ob sich auf diese Weise Transurane gewinnen lassen würden: »Es wäre denkbar, dass bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen.« Aber das konnte sich damals niemand vorstellen, auch Lise Meitner nicht.

»Lise Meitner hatte noch ganz die Erziehung einer höheren Tochter genossen, war sehr zurückhaltend, fast scheu«, schrieb Otto Hahn später. Auch wenn sie außerhalb der Arbeit keine Kontakte pflegten, ergänzten sich die Physikerin und der Chemiker optimal. Der gesellige und meist gut gelaunte Otto Hahn ging Fragestellungen eher intuitiv an, Lise Meitner verließ sich dagegen nur auf logisches Denken.

Fritz Straßmann respektierte die beiden verschiedenen Persönlichkeiten, die aus seiner Sicht der Elterngeneration angehörten, und fügte sich bescheiden ein. Aber das gut funktionierende Team wurde bald auseinander gerissen: Durch den »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich (12. März 1938) galt Lise Meitner nicht mehr als Österreicherin, sondern als Reichsdeutsche, und deshalb betrafen die drei Jahre zuvor in Nürnberg beschlossenen Rassengesetze nun auch sie. Am 22. März 1938 riet Otto Hahn ihr von weiteren Aufenthalten im Institut ab. Nach der Zurückweisung ihres Ausreiseantrags ließ sich die bald Sechzigjährige deshalb am 13. Juli 1938 von dem niederländischen Physiker Dirk Coster in Berlin abholen und ohne Visum mit dem Zug über die Grenze nach Groningen schmuggeln. Zwei Wochen später flog sie von dort nach Kopenhagen und verbrachte einige Tage bei dem Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr (1885 – 1962) und dessen Ehefrau Margarethe, bis sie eine Einreisegenehmigung für Schweden erhielt und in Stockholm einen Neuanfang versuchen konnte. Mit ihren Freunden und Kollegen blieb sie durch einen regen Briefwechsel in Kontakt.

Wenige Monate später, am 17. Dezember 1938, entdeckten Otto Hahn und Fritz Straßmann – übrigens nicht in einem aufwändigen Labor, sondern an einem einfach ausgestatteten Arbeitstisch, der heute im Deutschen Museum in München zu sehen ist –, dass Ida Noddack-Tacke Recht hatte: Durch den Beschuss einer Uranprobe mit Neutronen entstanden nicht Transurane, wie erwartet, sondern leichtere Elemente. Der am 6. Januar 1939 von Otto Hahn und Fritz Straßmann in der Zeitschrift »Die Naturwissenschaften« veröffentlichte Bericht darüber ließ die Welt aufhorchen.

Otto Hahn hatte Lise Meitner bereits am 19. Dezember in einem Brief gebeten, die überraschenden Beobachtungen physikalisch zu deuten. Mit einem weiteren Brief Otto Hahns – die Post zwischen Berlin und Stockholm war damals nur zwei Tage unterwegs! – fuhr Lise Meitner über Weihnachten zu einer Freundin nach Kungälv nördlich von Göteborg und traf sich dort auch mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch (1904 – 1979), der als Kernphysiker bei Niels Bohr in Kopenhagen arbeitete. Am 28. Dezember fragte Otto Hahn seine frühere Kollegin: »Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba[rium] und ein Ma[surium]?« Bei einem Spaziergang im verschneiten Wald kamen Lise Meitner und ihr Neffe auf die Idee, dass es sich bei dem »Zerplatzen« um eine Kernspaltung handeln könnte und schätzten die dabei frei werdende Energie. In einem Anfang 1939 gemeinsam veröffentlichten Aufsatz lieferten sie die erste theoretische Erklärung der Kernspaltung.

Bei den in Berlin durchgeführten Versuchen blieben die Zahl der gespaltenen Kerne und die dabei frei werdende Energie gering. Aber schon im März 1939 fand Marie Curies Schwiegersohn Frédéric Joliot heraus, dass bei der Kernspaltung durch Neutronenbeschuss weitere zwei, drei (Sekundär-)Neutronen frei werden, die ihrerseits weitere Kerne zu spalten in der Lage sind und eine Kettenreaktion auslösen können. Weil bei einer zu kleinen Uranmasse viele Neutronen durch die verhältnismäßig große Oberfläche nach außen entweichen, reißt die Kettenreaktion ab. Erst wenn mindestens zwei »unterkritische« Massen zusammengepresst werden, kann die atomare Kettenreaktion ablaufen – kontrolliert im Kernreaktor oder explosionsartig bei der Atombombe.

Dass bei der Kernspaltung ein Teil der Materie in Energie verwandelt wird, ließ sich aufgrund der von Albert Einstein aufgestellten Gleichung E = mc² erwarten. Bevor die Kernspaltung für die Energiegewinnung verwendet wurde, nutzten die Amerikaner die Erkenntnisse erst einmal beim Bau von Atomwaffen. Das Atomzeitalter begann am 6. August 1945, als die Amerikaner eine Uranbombe (»Little Boy«) über Hiroshima abwarfen; drei Tage später folgte eine Plutonium-Bombe (»Fat Man«) über Nagasaki. Niemand kennt die Zahl der Getöteten und genetisch Geschädigten. [Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki]

Obwohl es Lise Meitner im Gegensatz zu ihrem Neffen Otto Robert Frisch, der 1943 nach Los Alamos, New Mexico, gegangen war, abgelehnt hatte, an der Entwicklung von Kernwaffen mitzuwirken, wurde sie 1946, während sie im Rahmen einer Gastprofessur an der Catholic University of Washington, D. C., Vorlesungen über Kernphysik hielt, zu ihrem Entsetzen als »Mutter der Atombombe« gefeiert und von der Presse zur »Frau des Jahres« gewählt.

Für die Entdeckung der Kernspaltung erhielt Otto Hahn 1946 allein den Nobelpreis für Chemie (rückwirkend für das Kriegsjahr 1944). Dirk Coster, der Lise Meitner 1938 bei der Flucht geholfen hatte, schrieb ihr: »Er hat es sicher verdient. Es ist aber schade, dass ich Sie 1938 aus Berlin entführt habe […] Sonst wären Sie auch dabei gewesen. Was sicher gerechter gewesen wäre.«

1960 zog die alte Dame nach Cambridge nördlich von London, wo ihr Bruder Walter und ihr inzwischen verheirateter Neffe Otto Robert Frisch lebten. Walter Meitner starb kurz darauf. Als letzte von acht Geschwistern folgte ihm Lise Meitner am 27. Oktober 1968 ins Grab – drei Wochen vor ihrem neunzigsten Geburtstag und drei Monate nach Otto Hahn.

© Dieter Wunderlich 2006

Lore Sexl und Anne Hardy: Lise Meitner

Zeruya Shalev - Nicht ich
Das Gefühlschaos der Ich-Erzählerin zerfetzt jede kohärente Form eines Romans. Zeruya Shalev hat "Nicht ich" wie in einem Rausch geschrieben. Wir folgen einem wilden, überdrehten Bewusstseinsstrom, in dem sich bizarre, groteske Splitter übereinander türmen. Viele davon passen nicht zusammen, schließen sich gegenseitig aus. Die Logik ist außer Kraft gesetzt.
Nicht ich