Gudrun Lerchbaum : Lügenland

Lügenland
Lügenland Originalausgabe: Pendragon Verlag, Bielefeld 2016 ISBN: 978-3-86532-550-1, 424 Seiten ISBN: 978-3-86532-560-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Wien haben fremdenfeindlilche Popu­listen die Regierung übernommen, Öster­reich eingezäunt und einen Über­wachungs­staat errichtet. Die 27-jährige Milizionärin Mattea Inninger erschießt am Abend vor ihrer Hochzeit im Drogen- und Alkohol­rausch eine Freundin und flieht deshalb. Aufgrund eines vertauschten Fahndungs­fotos hält man sie für die Terroristin Ina Matusek. Ausgerechnet bei den Unter­grund­kämpfern findet Mattea Zuflucht, und bald weiß sie selbst kaum noch, ob sie Ina oder Mattea ist ...
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Kritik

Mit überbordendem Einfallsreichtum lässt Gudrun Lerchbaum in dem dystopen Polit-Thriller "Lügenland" die Protagonistin Mattea Inninger stringent und temporeich erzählen. Unerwartete Wendungen, Sarkasmus, trockener Humor und Wortwitz sorgen für ein intelligentes Lesevergnügen.
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In den USA herrscht eine Hungersnot, weil Schädlinge durch die jahr­zehnte­lange Kultivierung genmanipulierter Monokulturen Resistenzen gegen Pestizide entwickelt und die Ernte vernichtet haben. Die Europäische Union zerbrach am Nationalismus der Mitglieder, und in Österreich brachte die angebliche Bedrohung durch Flüchtlinge die Aufrechten an die Macht. Mit Ausnahme von Staats­ange­hörigen der Republik Padanien schob das Wiener Regime alle Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund ab.

„Ob schwarz ob braun, dein Land ist fern. Bei uns sehen wir dich nicht mehr gern. Chris! Ten! Heit! Zum! Kampf! Be! Reit!“

Gegen ein Versprechen der Sicherheit wurden die Grundrechte in Österreich abgeschafft. Man spricht jetzt von einer Demokratur mit einem Kanzler als starkem Mann. Die Bürger werden lückenlos überwacht, nicht nur mit intelligenten Videokameras, Drohnen und mikrobiotischen Schwarmkameras, sondern auch durch Fonbänder. Diese Armbänder, die als Smartphone, zum Bezahlen, zur Ortung und Identifikation benutzt werden, müssen von allen Bürgern getragen werden. Bargeld gibt es kaum noch. Über GPS in den Fonbändern und in jedem Auto werden Bewegungsprofile erstellt. Jeder ist dazu angehalten, verdächtige Beobachtungen anzuzeigen und dabei weder auf Nachbarn, Freunde oder Verwandte Rücksicht zu nehmen. Missliebige Postings im sozialen Netzwerk Mindmine überdauern nur wenige Sekunden, denn eine ganze Behörde ist damit beschäftigt, zu löschen, was der Propaganda widerspricht, die über die in allen Haushalten, Gaststätten und anderen öffentlichen Einrichtungen angebrachte Mediawand verbreitet wird. In jeder österreichischen Gemeinde steht ein Hologramm des Kanzlers. In Deutschland sorgen zwar die 80-jährige Kanzlerin und ein aus Syrien stammender Innenminister für einen Fortbestand der Demokratie, aber die österreichischen Grenzen sind mit Zäunen gesichert, und es gibt so gut wie keine Möglichkeit, das Land zu verlassen.

Am Tag vor ihrer Hochzeit mit Johannes Martin Mittermüller feiert die 27-jährige Milizionärin Mattea Inninger mit Julia Rattner und Katharina („Kati“) Engels in der Parkanlage am Kaiserwasser in Wien. Die Frauen stoßen mit Wodka auf Matteas Abschied sowohl von der Miliz als auch vom Single-Dasein an und bringen sich mit Designerdrogen (Go-Pills) in Stimmung.

Julia hat ihre Unterschenkel-Prothese abgenommen. Als sie, Kati und Mattea noch Kinder waren, spielten sie Basketball bei den Garagen. Es war kurz nach der Machtübernahme der Aufrechten, als die Männer sich die Bärte abrasierten, um nicht für Islamisten gehalten zu werden und viele zum Selbstschutz ihre Gärten verminten. Shirin, eine Spielgefährtin der drei anderen Mädchen, war damals schon von einem Tag auf den anderen verschwunden. Als die elfjährige Julia über einen Zaun kletterte, um einen von Kati verschossenen Ball zu holen, trat sie auf eine Mine, die ihr den Unterschenkel zerfetzte. Seit damals kann Mattea Kati nicht mehr leiden, und es missfällt ihr, dass diese sich noch immer wie eine Klette an Julia hängt.

Ein Kleinkind taumelt mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, stolpert über den Rand der Decke und fällt auf alle viere. Ich drehe mich zu ihm, den Kopf in die Hand gestützt.
„Na, du Süßer!“ Ich schnalze mit der Zunge.
Lachend zeigt das Kind mir seine vier Zähne und krabbelt auf mich zu. Es sucht Halt an meinem Shirt und zieht sich hoch in einen breitbeinigen Stand. Ich streiche mit dem Zeigefinger über seine pralle Wange und lasse die Fingerkuppe in dem Grübchen auf seinem Doppelkinn verschwinden. Bald werde ich selbst Mutter sein, da kann ein wenig Übung nicht schaden. Mit seinen aufgeblasenen Händchen patscht der Zwerg auf die Waffe, die in meinem Hüftholster steckt. Ich öffne den Druckknopf, halte ihm die Glock entgegen. Glucksend greift er nach dem Lauf.
Ich muss lachen. „Ja, du weißt, worauf es ankommt!“
„Nimm ihm das Ding weg!“, kreischt Kati und dann ist auch schon die Mutter da. Ohne ein Wort packt sie das Kind mit beiden Händen um seine Mitte und stolpert rückwärts davon, die Augen panisch aufgerissen.

Ein Schuss kracht in einen Baum neben den drei Frauen. Ein 70-Jähriger in der Uniform der Bürgerwehr schreit: „Schert’s euch weg, versoffenes Gesindel!“ Kati geht langsam auf den Greis zu und versucht ihn zu beschwichtigen. Mühsam erhebt sich auch Mattea. Ein zweiter Schuss kracht. Kati bricht zusammen. Der Mann und die Milizionärin lassen ihre Waffen sinken.

Der Schuss löste sich aus Matteas Dienstpistole. Der Kleine muss an den automatischen Auslöser gekommen sein, der nur im Kampfeinsatz eingeschaltet werden darf. Allerdings hatte Mattea – von Drogen und Alkohol benebelt und vielleicht und durch ihre Abneigung gegen Kati motiviert – die Waffe auf die Lehrerin gerichtet. Kati ist tot.

„Lass, wir müssen weg, bevor die Miliz kommt!“
Ich schiebe die Glock in das Holster, greife nach der Beinprothese und werfe sie Julia zu.

Am nächsten Morgen gibt Mattea wie vorgesehen ihre Dienstwaffe ab und scheidet aus der Miliz aus. Kurz danach beginnt die Hochzeitszeremonie. Weil sich die Braut vor der Kirche übergibt, tuscheln Gäste, ob sie nervös, verkatert oder schwanger ist. Julia überreicht der Braut nach der Trauung den dornigen, aber blütenlosen Stängel einer Rose, und während des Hochzeitsmahls geht sie hinaus.

Ich muss ihr nach. Mein Kleid, die ungewohnten Stöckelschuhe behindern mich beim Gehen. Als ich die Tür aufstoße, sehe ich sie in der Sonne stehen, das Handgelenk am Mund. Ich stakse auf sie zu. Sie spricht die Adresse ins blinkende Band, sagt „Schnell!“ und blickt dann auf.
„Mit wem hast du geredet?“
Sie hebt die Schultern. „Kati war meine beste Freundin.“
„Sie?“

Zum Weglaufen ist es zu spät, und jeder Winkel vor dem Restaurant wird mit Überwachungskameras kontrolliert. Mattea versucht es in der Küche. Rasch erklärt sie dem Koch, man habe ihr gerade im Rahmen eines verrückten Hochzeitsspiels die Aufgabe gestellt, innerhalb von zehn Minuten in männlicher Kleidung zu erscheinen. Hastig wechseln sie die Sachen. Dann geht Mattea unerkannt durch die Hintertür auf die Straße und an den beiden inzwischen eingetroffenen Mannschaftswagen vorbei.

Nachdem sie sich bei einem Modediscounter neu eingekleidet hat, steigt sie in den Zug nach Melk. Sie will zu ihrer Großmutter Brigitte Inninger nach Eferding westlich von Linz. Mattea und ihre Mutter hatten allerdings keinen Kontakt mehr mit ihr, seit Matteas Vater Lukas, ein geständiger Grünsozialist, vor vier Jahren im Gefängnis gestorben war. Unterwegs reißt die Flüchtige das Fonband vom Handgelenk, zerbricht es und schleudert es aus dem Zugfenster, damit sie nicht mehr geortet werden kann. Damit fehlen ihr nun auch Telefon, Internet, Banking, Personalausweis und Führerschein.

Dem einzigen Mitreisenden im Abteil ist das nicht entgangen, obwohl er so getan hat, als schlafe er. Er stellt sich schließlich vor – Hofrat Dr. Paul Christian Schiele, Sektionschef im Medienministerium –, und Mattea gibt sich als Katharina Mittermüller aus. Er bietet ihr an, sie nach Linz zu fahren, wenn sie die Nacht mit ihm verbringt.

„Ich wohne nur ein paar Kilometer von Melk entfernt. Mein Auto steht am Bahnhof“, sagt der Mann, der bald auf mir liegen wird im Austausch für meine sichere Weiterreise. In meiner Hochzeitsnacht.

Seine Wohnung in Wien habe er nach seiner dritten Scheidung der Frau und den Kindern überlassen, erklärt Schiele; er wohne deshalb in einem Jagdhaus im Dunkelsteinerwald. Während Mattea dort in der Badewanne liegt, steht er plötzlich in der Tür, mit einer Pistole in der Hand. Er habe soeben herausgefunden, wer sie wirklich sei, erklärt er; sie heiße Ina Matusek und werde als Terroristin von der Polizei gesucht. Statt sofort die Miliz zu rufen, öffnet er seine Hose. Mattea steigt aus der Wanne und beugt sich darüber. Er penetriert sie von hinten. Aber Mattea kriegt ihr vorsorglich unter dem Duschvorhang verborgenes, auf dem Bade­wannen­rand abgelegtes Messer zu fassen und rammt es ihm in den Unterarm. Mit der zu Boden gefallenen Waffe erschießt sie ihn. Dann muss sie sich übergeben.

Weil Schiele kurz vor seinem Tod eine elektronische Anfrage an die Behörde richtete, geht die Polizei davon aus, dass er von der vor zwei Jahren in den Untergrund abgetauchten Terroristin Ina Matusek erschossen wurde. Nach ihr wird nun gefahndet, und zwar mit dem Foto, das Schiele zuletzt auf seinem Bildschirm hatte. Das ist allerdings von Mattea Inninger.

Die schafft es nach Eferding, wo Brigitte Inninger, die selbstverständlich die Nachrichten mit dem Fahndungsaufruf gesehen hat, ihre Enkelin für Ina Matusek hält.

Irre ich mich und weiß selbst nicht, wer ich bin, oder irrt sie?
„Wie kommst du bloß auf mich?“, fragt Oma. „Seit Lukas tot ist, stehe ich doch auf keiner Liste mehr.“ Sie schüttelt den Kopf. „Was hast du nur angestellt, Mädel? So ein Aufruhr deinetwegen, dein Gesicht in allen Medien.“

Die alte Dame möchte von der Hilfesuchenden nicht mit „Oma“ angesprochen werden, sondern mit ihrem Namen, aber Mattea beteuert, nicht die „Scheißverräterin“ zu sein.

Bitte, Oma, ich brauche deine Hilfe. Ich bin auf der Flucht wie sie, wie diese Matusek. Und ich war es, die den Schiele erschossen hat.

Als Mattea am nächsten Morgen erwacht, sitzt Brigitte auf einem Stuhl und hat eine Waffe auf dem Schoß.

„Oma …“
„Nix Oma, es hat sich ausgeomat. Ich habe deine Mutter angerufen. Die Tochter meines Sohnes – eine Mörderin. Eine, die Freundinnen in den Rücken schießt.“

Brigitte, die früher wie ihr Sohn zur Opposition gehörte, zu den „Zecken“, hilft ihrer Enkelin dann doch, allerdings in der Erwartung, dass diese sich als Ina Matusek ausgibt und sich festnehmen lässt, damit die Terroristin weitermachen kann.

„Finde einen Weg, für den du dich nicht schämen musst, Mattea.“

Mattea will nach Süden. In Kirchdorf an der Krems lässt sie sich von dem jungen Mann, der ihr in einem Straßencafé einen Becher Milchkaffee und einen Schinken-Käse-Toast serviert hat, ins Parkbad einladen. Sie könne einen Bikini seiner Schwester tragen, sagt Tom, und seine Mutter werde eventuelle Gäste bedienen.

Kaum sind Tom und Mattea im Wasser, heulen Sirenen, und die Badegäste eilen zum Schutzraum. Mattea bleibt als Einzige zurück und versteckt sich unter dem Auslauf der Rutsche vor den sechs Kampfdrohnen, die den Ort bombardieren.

Mit einem Mal ist mir klar, woher die Panik der Leute rührt. Wir sind in der Mitte des Landes. Wie konnten Kampfdrohnen unbehelligt bis hierher kommen? Wo bleibt die angeblich unfehlbare Abwehr? Und wer greift hier an? Die russische Föderation kann es nicht sein, die Tage der Expansion sind vorbei, die neuen Machthaber üben sich im Händeschütteln auf allen Kanälen, in allen Ländern. Das Kalifat? Selbst wenn Bosnien seine bisher inoffizielle Unterstützung ausgeweitet haben sollte, hätten die Drohnen mehrere Grenzen passieren müssen. Wie soll das gehen? Bleibt nur eine Möglichkeit: Es müssen die Aufständischen sein, Omas geliebte Zecken, die irgendwie an unser Gerät gelangt sind und uns jetzt aus den Bergen attackieren.

Die Nachricht, dass die Landesverräterin Ina Matusek aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung in Tirol verhaftet worden sei, derzeit in Innsbruck verhört und bald nach Wien gebracht werde, scheint Matteas Vermutung zu bestätigen: Wollen die „Zecken“ Ina Matusek freipressen?

Mattea sucht Zuflucht in einer Jagdhütte, aber dort wird sie am nächsten Morgen von zwei Milizionären entdeckt, mit Kabelbindern gefesselt und im Geländewagen zum Postenkommandanten Hauptmann Hannes Redl nach Kirchdorf zurückgebracht, der sie sogleich vernimmt und zunächst nach ihrem Namen fragt.

„Mattea“, antworte ich, „Inninger.“
Er hebt die Augenbrauen, senkt das Kinn.
„Verzeihung“, sage ich, „nicht Inninger, Mittermüller ist korrekt. Ich bin frisch verheiratet […].“

Der Hauptmann hält sie für Ina Matusek, und das stellt ihn vor ein schwieriges Problem:

„Nun, was meinen Sie? Will der Kanzler, dass ich ihm, so kurz nach diesem großartigen, öffentlich propagierten Fahndungserfolg, eine zweite Matusek präsentiere? Eine womöglich bessere Matusek. Eine, die, anders als die echte Matusek“, er akzentuiert die Wörter mit in die Luft gezeichneten Anführungszeichen, „wirkliche Ähnlichkeit mit den Fahndungsbildern aufweist. Wird der Kanzler sich freuen, wenn ich ihm diese neue Matusek bringe?“

Schließlich lässt Hauptmann Redl die Festgenommene in eine Zelle sperren und ordnet an: „Standardbehandlung und keine Herrenbesuche“.

Als Mattea im Dunkeln aufwacht, steht die Tür halb offen. Will man sie zur Flucht verleiten und erschießen? Sie wagt es. Draußen ist Tom. Er hilft ihr, über die Mauer der Kaserne zu klettern. Erst als sie in Sicherheit sind, erklärt Tom, Hauptmann Hannes Redl sei sein Onkel und habe persönlich die Tür geöffnet. Er werde es als Befreiungsaktion der Rebellen darstellen.

„Seit er dich gesehen hat, weiß er, dass sie einfach irgendein Mädel kassiert und als Ina Matusek ausgegeben haben. Solche Lügen machen ihn rasend.“

Tom hält Mattea aufgrund des Fahndungsfotos ebenso wie sein Onkel für die wahre Ina Matusek, und sie lässt ihn in dem Glauben, weil sie befürchtet, dass er ihr sonst nicht weiter helfen würde.

Er bringt sie zu einer geheimen Jagdhütte, in der sich die Bonzen der Aufrechten hin und wieder treffen. In der Zwischenzeit lebt dort nur der Koch Saif, Toms Vater, den die Besitzer vor acht Jahren zwischen Deportation und Sklavendasein mit einer implantierten Fußfessel wählen ließen. Saif war im Alter von 16 Jahren aus Afghanistan geflohen und am Ende einer dreijährigen Odyssee nach Österreich gekommen. In der Küche eines Flüchtlingsheims hatte er Kochen gelernt. Weil Saif zu den „Zecken“ gehört, nutzen diese das Anwesen immer wieder als Nest. Mattea trifft dort auch auf Ruth Fischer. Die 63-Jährige Sekretärin des Grafen von Wallenberg, die vor der Machtübernahme der Aufrechten eine Flüchtlingshilfeorganisation leitete, ist dazu auserkoren, nach einem erfolgreichen Putsch die Regierung zu übernehmen.

Mattea erfährt, dass der in Kirchdorf erlebte Drohnenangriff kein Werk der Rebellen war, sondern eine Aktion der Regierung zur Diskreditierung des Widerstands. Auf angeblich spontanen Kundgebungen wird bereits die öffentliche Hinrichtung der Rädelsführerin Ina Matusek als Vergeltung für die Drohnenangriffe gefordert. Die Inhaftierte hat inzwischen die Ermordung von zwei Partei­funktio­nären und die Kooperation mit dem Kalifat zugegeben. Der Kanzler plant ihre Hinrichtung in zwei Wochen, am Tag der Nation, betont jedoch, dass er dem Urteil des unabhängigen Gerichts nicht vorgreifen wolle.

Am nächsten Tag kommt Ruths 38-jährige Tochter Liliana mit zwei weiteren „Zecken“ – Josef und Nico – zu einer Strategiebesprechung. Liliana arbeitet im Medienministerium. Anders als ihr Vater, Ruths Ex-Ehemann, der stellvertretende Verteidigungsminister, konspiriert sie mit den „Zecken“. Sie sieht auf den ersten Blick, dass es sich bei der von Tom und seinem Onkel befreiten Frau nicht um Ina Matusek handelt, denn sie hatte eine monatelange Liebesbeziehung mit der Terroristin.

„Wer zum Teufel bist du?!“, faucht Ruth.
„Ich bin die Landstreicherin, die aussieht wie Ina Matusek“, sage ich leise und deutlich.

Mattea nennt ihren richtigen Namen, gesteht, am Abend vor ihrer Hochzeit im Alkohol- und Drogenrausch eine Freundin erschossen zu haben und berichtet, wie sie im Zug auf Schiele traf.

„Schiele hat mich nur mitgenommen, weil er mich für Ina hielt. Wollte mich, eigentlich sie, eigenhändig zur Strecke bringen, Held des Vaterlandes und so weiter, mit einem kleinen Bonusfick garniert.“

Ruth kannte Lukas Inninger, und Mattea weiß Einzelheiten über Schieles Leiche, die nicht über die Medien bekannt gegeben wurden. Das wirkt sich zu ihren Gunsten aus.

Liliana klärt die anderen darüber auf, dass sie das Fahndungsfoto vertauschte, um Ina zu helfen.

„Hätte ja auch funktioniert, wenn nicht in Tirol einer unserer eigenen Leute Ina ans Messer geliefert hätte.“

Mattea bleibt nichts anderes übrig, als Ruths Aufforderung, sich den Rebellen anzuschließen, nachzukommen. Ihre Aufgabe wird es sein, sich in der Öffentlich­keit zu zeigen. Damit sollen Zweifel an der Identität der verhafteten Frau genährt und die Autorität des Kanzlers untergraben werden. Ihre Hinrichtung am Tag der Nation könnte dann einen Aufstand auslösen.

Josef fährt Mattea zum Mondsee. Sie erhält ein Fonband auf den fiktiven Namen Gerhard Rummler, mit dem die Rebellen sie jederzeit orten können, und einen Rucksack mit Wäsche und Proviant. Mattea soll sich bis zum Golfplatz am anderen Ufer durchschlagen, wo man sie nach Einbruch der Dunkelheit abzuholen verspricht.

In den Nachrichten heißt es, die inhaftierte Frau habe inzwischen gestanden, nicht die Terroristin Ina Matusek, sondern die wegen Mordes gesuchte ehemalige Milizionärin Mattea Inninger zu sein. Außerdem wird gemeldet, dass Ruth Fischer festgenommen wurde.

In einem gestohlenen Ruderboot schickt Mattea sich an, den See zu überqueren. In der Mitte fällt ihr eine Schwimmerin auf, die in die Wellen eines Katamarans geraten ist und zu ertrinken droht. Mattea zieht die schätzungsweise 70 Jahre alte Frau ins Boot. Als diese wieder zu Atem gekommen ist, stöhnt sie, dass sie seit 40 Jahren jeden Tag von Achort nach Loibichl und wieder zurück schwimme und ihr noch nie etwas passiert sei. Es dauert nicht lang, bis sie erkennt, dass sie es mit der Frau auf dem Fahndungsfoto zu tun hat und erneut um ihr Leben fürchtet. Mattea weist sie darauf hin, dass es widersinnig wäre, sie zuerst zu retten und dann zu ermorden.

Obwohl die Frau ohne Mattea ertrunken wäre, alarmiert sie, sobald sie von ihrem Ehemann am Ufer in Empfang genommen wurde, die Polizei. Wenige Minuten später nähert sich ein Geländefahrzeug der Miliz. Mattea gesellt sich zu einem im Garten spielenden Mädchen. Die Siebenjährige heißt Lisa und freut sich über unerwartete Gesellschaft. Als die Mutter des Kindes die Fremde entdeckt und damit droht, die Miliz zu rufen, lüpft Mattea ihr Shirt, damit die Frau das Messer sieht.

„Ich tue euch nichts und bleibe nur, bis es dunkel ist“, sage ich. „Machen Sie mir keine Schwierigkeiten und ich mache Ihnen auch keine.“

Tom und sein Onkel Hannes Redl holen Mattea ab und bringen sie zum Karkogel, wo Tom eine Woche lang mit dem Mountain Bike für die Europameisterschaft im Downhill trainieren wird. Er ist Sportpädagoge und Vize-Landesmeister; im Café seiner Mutter in Kirchberg hilft er nur nebenbei.

In den Medien wird darüber berichtet, dass die flüchtige Terroristin Ina Matusek eine Ertrinkende aus dem Mondsee gerettet und einem vaterlosen Kind Gute-Nacht-Geschichten erzählt habe. In Innsbruck behauptet eine Frau, Ina Matusek habe ihrer Tochter das Radfahren beigebracht, und auch aus anderen Landesteilen werden gute Taten der Terroristin gemeldet.

Die Fernsehmoderatorin Pia Hofstetter spricht in ihrer Sendung „Heute Abend zu Gast bei Pia – Live aus dem Lift“ mit Julia Rattner, einer langjährigen Freundin der inhaftierten „Mattea Inninger“.

„Eine Frage, die uns alle bewegt: Was trieb die gewissenlose Killerin dazu, sich als Ina Matusek auszugeben?“

Während es im Untertitel heißt „Mattea hat meinen Glauben an Freundschaft zerstört“, schaut Julia in die Kamera und sagt:

„Mattea! Wenn du irgendwo da draußen zuschaust – und ich weiß, das tust du, ganz egal, was sie sagen –, dann nimm …“, sie beißt sich auf die Unterlippe, „… bitte! … meine Entschuldigung an. Nie hätte ich dich verraten dürfen. Deine Mutter hat es mir erzählt, das mit Kati. Dass sie deinen Vater denunziert hat und er untertauchen musste, obwohl er niemandem etwas getan hatte, dass er letztlich wegen ihr gestorben …“

Das Mikrofon wird abgedreht, und Pia Hofstetter weist Julia darauf hin, dass deren Freundin anstelle von Ina Matusek in der Todeszelle sitze und wohl kaum fernsehen dürfe. Tom, der die Sendung mit Mattea zusammen anschaut, glaubt, dass Julia Angst vor ihr habe. Und bei einer Blitzumfrage noch in der Sendung meinen 84 Prozent, Julia sei in Lebensgefahr, wenn es zuträfe, dass Mattea Inninger noch auf freiem Fuß ist. Pia Hofstetter erhält über den Knopf im Ohr die Information, dass die Identität der einsitzenden Verbrecherin inzwischen durch Gen-Tests zweifelsfrei geklärt sei, und sie wendet sich ans Publikum:

„Es handelt sich um …“, mit Handbewegungen deutet sie einen Trommelwirbel an, „die Mörderin Mattea Matusek – entschuldigen Sie, unsere Frau Rattner hier hat mich mit ihren wirren Theorien schon völlig durcheinandergebracht –, natürlich Mattea Inninger.“

71 Prozent der befragten Zuschauer treten dafür ein, der hilfsbereiten, tier- und kinderlieben Ina Matusek eine zweite Chance einzuräumen. Darauf springt der Kanzler an, obwohl er selbstverständlich weiß, dass es sich bei der Inhaftierten um Ina Matusek und bei der von den meisten für die Terroristin gehaltenen Flüchtigen um Mattea Inninger handelt. Er bietet „Ina Matusek“ freies Geleit für ein Gespräch mit ihm vor der Fernsehkamera an. Offenbar deckt sich inzwischen das Interesse der Regierung an der Vertauschung der Identitäten mit dem der „Zecken“. Mattea hat keine Wahl und muss das Risiko eingehen, dass der Kanzler sie trotz seiner Zusicherung verhaften lässt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Sie sitzt bereits in der Maske, als Liliana ihr mitteilt, dass der Kanzler einen Überraschungsgast eingeladen hat. Liliana vermutet, dass es sich entweder um Julia Rattner oder die echte Ina Matusek handelt: „Original und Kopie in einem Raum.“ Unmittelbar vor dem Beginn der Sendung werde sie Mattea eine Pistole neben dem Sender fürs Mikrofon hinten in den Hosenbund schieben, kündigt Liliana an. Läuft der ganze Plan darauf hinaus, dass sie den Kanzler ermordet, fragt Mattea sich. Oder soll sie mit der Waffe Ina Matusek befreien, wenn der Kanzler sie zum Gespräch dazuholt? Liliana schärft ihr jedoch ein:

„Wichtig ist zunächst einmal, dass du erst handelst, wenn eine ernsthafte Bedrohung erkennbar ist, damit du deine Sympathien nicht verspielst. Wenn du ihn einfach abknallst, können wir dir nicht mehr helfen.“

Vor laufender Kamera drängt der Kanzler die als Ina Matusek vorgestellte Frau, mit ihm zu kooperieren und ihm zu helfen, „das Krebsgeschwür des Aufstandes aus dem Volkskörper zu schneiden“. In diesem Fall werde er sich nachsichtig zeigen und sie amnestieren. „Nur ein gezogenes Schwert hält das andere in der Scheide“, sagt der Kanzler.

„Schiele“, stoße ich heiser hervor. „Der hätte mich auch gern mit seinem Schwert in meiner Scheide erzogen. Mit der Pistole in der Hand hat er mich vergewaltigt.“ Ich schlucke, doch es ist zu spät, die Worte sind draußen. Ohne Absicht bin ich aus meiner Rolle gefallen und kann nicht mehr zurück. Also vorwärts. „Die Frau, die Sie gefangen halten, hat den Mord an Schiele nicht begangen. Sie hat überhaupt keinen Mord begangen. Ihr einziges Verbrechen war es, sich eine bessere Welt zu wünschen.“

„Verdammt, ich bin nicht Ina Matusek und Sie wissen das! Ina Matusek sitzt im Gefängnis und soll am Tag der Nation auf Ihren Wunsch hin exekutiert werden. Mein Name ist Mattea Inninger!“

Da hält der Kanzler den Zeitpunkt für den Auftritt des Überraschungsgasts für gekommen, und er begrüßt „Frau Inninger“. Aber es ist nicht Ina Matusek, sondern Matteas Mutter! Und die bestätigt, dass es sich bei der anderen Gesprächspartnerin des Kanzlers nicht um ihre Tochter handelt. Mattea begreift, dass ihre Mutter sie auf diese Weise vor einer Mordanklage bewahren möchte. Aber der Kanzler hat noch einen zweiten Überraschungsgast, den er ebenfalls mit „Frau Inninger“ begrüßt. Diesmal handelt es sich um die inhaftierte Terroristin. Ina Matusek umarmt Mattea und zieht ihr von anderen unbemerkt die Pistole aus dem Hosenbund. Damit schießt sie auf den Kanzler. Soldaten stürmen ins Studio. Während Ina Matusek den Kanzler mit einem zweiten Schuss tötet und im nächsten Augenblick selbst tödlich getroffen wird, zerrt jemand Mattea hinaus und in ein Milizfahrzeug. Hauptmann Hannes Redl bringt sie zum Karkogel zurück.

Eine Übergangsregierung verspricht freie Wahlen in zwei bis drei Monaten und genehmigt Ruth Fischer die Gründung einer Partei.

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Die Handlung des dystopen Polit-Thrillers „Lügenland“ von Gudrun Lerchbaum spielt in naher Zukunft. Die Wiener Schriftstellerin veranschaulicht am Beispiel Österreich, was geschehen könnte, wenn fremdenfeindliche Populisten vom Unmut der Bevölkerung über die anderen Parteien profitieren und die Regierung übernehmen. Mit überbordendem Einfallsreichtum malt Gudrun Lerchbaum das „Was-wäre-wenn“ aus. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie Intoleranz, Indoktrination und undemokratische Regime ablehnt, prangert die Verlogenheit der Politiker im „Lügenland“ (!) an, deckt aber auch die Manipulation Einzelner und der Öffentlichkeit durch die Widerstandskämpfer auf. Die Protagonistin Mattea Inninger hatte zwar einen Oppositionellen als Vater, wurde aber dennoch in einem von den Aufrechten beherrschten Staat sozialisiert. Erst als sie sich zwischen System und Widerstand entscheiden muss, denkt die ehemalige Milizionärin über die politischen Verhältnisse nach und stellt sich die Frage, wohin sie gehört.

Diesen brisanten Ansatz verbindet Gudrun Lerchbaum in „Lügenland“ mit einer Liebesgeschichte, mit dem Sündenbock-Muster und einem intelligenten Verwirrspiel um vertauschte Identitäten: Mattea Inninger gerät in eine Lage, in der sowohl die Regierung als auch die Untergrundkämpfer daran interessiert sind, dass sie von der Öffentlichkeit für die Terroristin Ina Matusek gehalten wird.

Gudrun Lerchbaum lässt Mattea Inninger stringent und temporeich, in der Ich-Form, im Präsens und chronologisch vom ersten bis zum 20. Tag erzählen. Dabei wird die Hauptfigur mehrmals mit unerwarteten Wendungen konfrontiert – und die Leserinnen und Leser des Romans „Lügenland“ werden ebenfalls überrascht. Immer wieder blitzen Sarkasmus, trockener Humor und Wortwitz auf. Die Lektüre ist spannend, unterhaltsam, und weil Gudrun Lerchbaum ohne erhobenen Zeigefinger eine Menge Stoff für Diskussionen liefert, eignet sich „Lügenland“ als Schullektüre.

Gudrun Lerchbaum wurde im April 1965 in Wien-Währing geboren. Sie wuchs in Wien, Paris und Düsseldorf auf, studierte vorübergehend Philosophie und absolvierte dann ein Architektur-Studium. Sie jobbte u. a. als Kellnerin und Sekretärin, Aktmodell und Lagerarbeiterin, bevor sie sich in den Bereichen Architektur, Grafik und Kunst betätigte. 2001 begann sie zu schreiben, aber erst nach einem Sportunfall im Jahr 2006 veröffentlichte sie Kurzgeschichten. Im Januar 2015 debütierte sie mit dem Roman „Die Venezianerin und der Baumeister“.

Nachtrag, Dezember 2023: Der Roman „Lügenland“ von Gudrun Lerchbaum soll nach einem Drehbuch von Léonie-Claire Breinersdorfer und Jasmin Wind verfilmt werden.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Pendragon Verlag Günther Butkus

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