Milan Kundera : Die Unwissenheit

Die Unwissenheit
Erstausgaben im Jahr 2000: Spanien: La Ignorancia Frankreich: L'Ignorance Die Unwissenheit Übersetzung: Uli Aumüller Carl Hanser Verlag, München 2001
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der in Dänemark lebende tschechische Tierarzt Josef kehrt nach 20 Jahren Abwesenheit für ein paar Tage in das Land zurück, in dem er aufgewachsen ist. Am Flughafen in Paris begegnet er Irena, einer attraktiven Tschechin, die wie er zu einem Besuch nach Prag fliegt. Er erinnert sich nicht an sie, aber Irena glaubt, in ihm einen Bekannten wiederzuerkennen ...
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Kritik

Wie auch in anderen Büchern flicht Milan Kundera in "Die Unwissenheit" kurze Essays ein. Sie handeln diesmal – wie die Handlung auch – von Nostalgie und Erinnerung, Heimweh und Sehnsucht.
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Josef stammt aus einer tschechischen Arztfamilie. Auch sein älterer Bruder studierte Medizin, aber im dritten Semester musste er 1949 – als die Kommunisten die Macht übernahmen – die Universität wegen seiner bürgerlichen Herkunft verlassen und konnte erst später, als er in die Partei eingetreten war, sein Studium fortsetzen. Josef machte 1951 Abitur und studierte dann Tiermedizin, um zu demonstrieren, dass ihm Kühe lieber als Menschen waren. Aber man verstand seine Entscheidung nicht als Revolte, sondern als Zeichen mangelnden Ehrgeizes. Anfang der 60er Jahre ließ er sich nach kurzer Ehe scheiden. Als die Russen und andere Mitglieder des Warschauer Paktes 1968 einmarschierten, emigrierte er nach Dänemark. Inzwischen ist seine dänische Frau verstorben. Nach 20 Jahren kehrt er jetzt als beinahe Sechzigjähriger erstmals für einige Tage in das Land zurück, in dem er aufgewachsen war.

Am Flughafen in Paris begegnet er Irena, einer etwa 40 Jahre alten attraktiven Frau, die wie er nach 20 Jahren Exil zu einem Besuch nach Prag fliegt. Er erinnert sich nicht an sie, aber Irena glaubt, in ihm einen Mann wiederzuerkennen, den sie damals in der Tschechoslowakei flüchtig kennen gelernt hatte.

1969 kam sie mit ihrem um 15 Jahre älteren Mann Martin und einer Tochter nach Paris. Dort gebar sie ihre zweite Tochter. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie die Geliebte Gustafs, eines Schweden, der etwa im gleichen Jahr wie ihr verstorbener Mann geboren war.

Während die Franzosen Gustaf als „kosmopolitischen sympathischen Skandinavier“ bewunderten, hielt man sie für „eine aus ihrer Heimat verbannte, leidende junge Frau“. „Weißt du, die Franzosen brauchen keine Erfahrung“, sagt Irena zu Josef. „Bei ihnen gehen die Urteile der Erfahrung voraus. Als wir dort ankamen, brauchten sie keine Informationen. Sie waren schon gut darüber informiert, dass der Stalinismus ein Übel ist, dass die Emigration eine Tragödie ist. Sie interessierten sich nicht für das, was wir dachten, sie interessierten sich für uns als lebende Beweise für das, was sie dachten.“ Ihre französischen Freunde konnten deshalb auch nicht verstehen, wieso sie nicht nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die erste Gelegenheit nützte, um in ihre Heimat zurückzukehren.

Irena meint es gut und bringt zu einem Treffen mit ihren früheren Freundinnen in Prag eine Kiste mit 12 Flaschen Bordeaux mit. Doch eine der Damen verkündet gleich, sie ziehe Bier vor. Niemand will etwas über ihr Leben in Paris wissen. Wollte Irena wieder als Tschechin anerkannt werden, musste sie die 20 Jahre wohl auf dem Altar des Vaterlandes opfern.

Josef stellt erschüttert fest, dass einige seiner Verwandten auf dem Friedhof liegen und man ihn nicht einmal über ihren Tod benachrichtigte. Er besucht seinen Bruder und die Schwägerin. Als er abreiste, schickte Josef seinem Bruder den Wohnungsschlüssel und forderte ihn auf, sich aus seiner Wohnung zu holen, was ihm gefiel. Den Rest beschlagnahmte der Staat. Seine damalige Armbanduhr jetzt am Handgelenk seines Bruders zu sehen, berührt ihn dennoch seltsam. Ein Gemälde, das ihm früher gehörte, hängt an der Wand, und obwohl sein Bruder und dessen Frau wissen, wieviel es ihm bedeutet, schenken sie es ihm nicht. Dabei gehört ihnen nun das Haus des Vaters. (Nach der Enteignung durch die Kommunisten lebte die Familie darin zur Miete. Als Folge der Ereignisse von 1989 wurden solche Immobilien ihren ehemaligen Besitzern rückerstattet.)

Irena und Josef sind in ihrem Heimatland nicht mehr zu Hause.

An Josefs Abreisetag verabreden sie sich in einem Hotel in Prag. Nachdem sie wild übereinander hergefallen sind, begreift Irena plötzlich, dass Josef sich überhaupt nicht an sie erinnert und nicht einmal ihren Namen kennt. Nach einem Weinkrampf schläft sie ein. Und er flieht zurück nach Dänemark.

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Wie auch in seinen anderen Büchern flicht Milan Kundera in die Geschichte, die er in dem Roman „Die Unwissenheit“ erzählt, kurze Essays ein. Sie handeln diesmal – wie die Handlung auch – von Nostalgie und Erinnerung, Heimweh und Sehnsucht. Zwei Menschen, die wie Odysseus 20 Jahre von zu Hause fort waren, erfahren schmerzvoll, dass sie ihren Verwandten und Freunden von damals fremd geworden sind. Das Land, in dem sie aufgewachsen sind, ist nicht mehr ihre Heimat. Aber auch unter ihren Bekannten in Frankreich bzw. Dänemark sind sie Fremde geblieben.

Die folgende Stilblüte stammt vom Übersetzer Uli Aumüller: „[…] doch es ist das erste Mal, dass sie sie sieht. Als sie sie sieht, ist sie doppelt bewegt […]“

„Die Unwissenheit“ ist vielleicht nicht Milan Kunderas bestes Werk, aber ohne Zweifel ein lesenswerter und bewegender Roman.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

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