Daniel Kehlmann : Tyll

Tyll
Tyll Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 2017 ISBN: 978-3-498-03567-9, 432 Seiten ISBN: 978-3-644-03501-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der zynische Gaukler Tyll nutzt die Mani­pu­lier­barkeit der Menschen aus und ver­spot­tet sie, wenn sie auf ihn hereinfallen. Während des Dreißigjährigen Krieges taucht er an mehreren Orten auf. Der Krieg wird im Namen der Konfessionen geführt, aber in der leid­tragenden Bevölkerung sind Magie und Aberglaube noch weit ver­breitet. So wird Tylls Vater, ein Müller, von spitzfindigen Jesuiten wegen Hexerei zum Tod verurteilt ...
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Kritik

Trotz des Titels ist Tyll in Daniel Kehlmanns Roman nur eine Rand­figur. Die acht auch einzeln lesbaren Ge­schich­ten, in denen sich Fakten und Fiktion verbinden, ver­an­schau­lichen auf schelmische und zu­gleich ernst­hafte Weise Ereignisse und Aus­wir­kungen des Dreißigjährigen Krieges.
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Herr der Luft

Claus Ulenspiegel stammt aus Mölln im lutherischen Norden. Der Katholik kam vor zehn Jahren in die Gegend und wurde Müllersknecht. Dann heiratete er die Tochter seines Dienstherrn, und weil sein Schwiegervater bald darauf starb, betreibt er nun selbst die Mühle. Dass er lesen konnte, beeindruckte Agneta zunächst. Inzwischen macht ihr seine Bildung Sorgen, denn er ist selten bei der Sache. Ständig beschäftigt er sich mit theoretischen Problemen und vernachlässigt seine Aufgaben als Müller. Beispielsweise wundert er sich darüber, dass man immer weiter zählen und zu jeder Zahl noch eine hinzufügen kann. Vor langer Zeit war er einen Winter lang bei dem Nachtwächter Wolf Hüttner in Konstanz in Dienst und ließ sich dabei in Chiromantie und Geisterbeschwörung unterrichten. Seither versteht er sich darauf, Kranke zu heilen.

Während er seine hochschwangere Frau Agneta, seinen Sohn Tyll und den Knecht Heiner mit einer Ladung Mehl zu dem Kunden Martin Reutter schickt, versucht Claus Ulenspiegel die Antwort auf die Frage zu finden, wann ein Kornhaufen durch das Wegnehmen einzelner Körner aufhört, ein Haufen zu sein.

Nie wird ein Kornhaufen allein dadurch, dass man ein einziges Korn wegnimmt, zu etwas, das kein Kornhaufen ist. Niemals auch wird etwas, das kein Kornhaufen ist, dadurch, dass man ein Korn dazulegt, zu einem Haufen.

Die Fahrt mit dem Eselskarren wird den ganzen Tag dauern. Die kleine Reisegruppe ist schon einige Stunden unterwegs, als Tyll am Rock seiner stöhnenden Mutter einen sich ausbreitenden Blutfleck bemerkt.

„Heißes Wasser“, sagt sie mit brüchiger Stimme. „Und Claus. Ich brauch heißes Wasser, und den Claus brauch ich auch mit seinen Sprüchen und Kräutern. Und die Hebamme aus dem Dorf brauch ich, die Lise Köllerin.“ Der Junge starrt sie an. Heiner starrt sie an. Der Esel starrt vor sich hin.

Das Fuhrwerk können sie auf dem schmalen Weg nicht umdrehen. Agneta bleibt nichts anderes übrig, als sich – gestützt von Heiner – zu Fuß auf den Rückweg zu machen. Tyll soll auf das Mehl aufpassen, das so viel wert ist wie die halbe Mühle.

Bevor die Schwangere und der Knecht die Mühle erreichen, bringt Agneta eine Tochter zur Welt, die kurz darauf stirbt wie schon drei andere Kinder von ihr davor und nicht bestattet werden darf, weil sie ungetauft geblieben ist.

Immerhin schaffen Agneta und Heiner es wider Erwarten bis zurück zur Mühle.

Am nächsten Morgen macht sich Claus Ulenspiegel mit beiden Knechten – Sepp und Heiner – auf die Suche nach Tyll, dem Esel und der Ladung Mehl. Die Säcke sind aufgerissen. Vom Kadaver des Esels fehlt der Kopf. Auf einem zwischen Baumwipfeln gespannten Seil über ihnen lacht Tyll. Der Junge, der schon seit längerer Zeit das Seiltanzen geübt hat, statt seiner Mutter bei der Arbeit zu helfen, ist nackt, weiß vom Mehl und hat sich das blutige Kopffell des Esels mit den langen Ohren über den Kopf gezogen.

Bald darauf kommen die Doktores Oswald Tesimond und Athanasius Kircher – beides Jesuiten – durch die Gegend.

„Ich bin Doktor der Medizin und der Theologie, außerdem ein Chemikus mit dem Fachgebiet Drakontologie. Doktor Kircher beschäftigt sich mit den okkulten Zeichen, mit der Kristallkunde und dem Wesen der Musik.“

Doktor Tesimond hatte zu den Katholiken gehört, die den protestantischen König von England, Jakob I., die Regierung und die Abgeordneten während der Parlamentseröffnung am 5. November 1605 mit einem Sprengstoffanschlag töten wollten. Nach dem Scheitern des Vorhabens konnte Oswald Tesimond als einziger der Verschwörer fliehen.

In Paderborn rekrutierte er Athanasius Kircher als Famulus.

„Ich brauche dich. Mein Deutsch ist nicht gut, du musst helfen.“

Seit einem Jahr sind die beiden nun schon unterwegs von Paderborn nach Wien. Immer wieder werden sie aufgehalten.

In Lippstadt haben sie einen Dämon austreiben müssen, dann war in Passau ein ehrvergessener Priester zu verjagen. Um Pilsen haben sie einen Bogen gemacht, weil die dort besonders wütenden Protestanten durchreisende Jesuiten womöglich hätten verhaften können, und dieses Umwegs wegen hat es sie in ein Dörfchen verschlagen, wo die Verhaftung, Folterung und Verurteilung einer üblen Hexe sie ein halbes Jahr in Anspruch genommen haben. Dann haben sie Kunde von einem drakontologischen Kolloquium in Bayreuth erhalten. Natürlich haben sie dorthin reisen müssen, um Erhard von Felz, den größten Rivalen des Doktors, daran zu hindern, unwidersprochen Unsinn von sich zu geben; die Debatte der beiden hat sieben Wochen, vier Tage und drei Stunden gedauert. Danach hat er inständig gehofft, dass sie die Kaiserstadt nun endlich erreichen würden, aber als sie im Collegium Willibaldinum in Eichstätt übernachtet haben, hat der Fürsterzbischof sie zur Audienz bestellt: „Meine Leute sind verschlafen, Doktor Tesimond, die Pfleger machen nicht genug Anzeigen in den Dörfern, der Hexer werden mehr und mehr, keiner tut etwas, mein eigenes Jesuitenseminar kann ich kaum finanzieren, weil der Domherr dagegen ist. Wollt Ihr mir helfen? Ich ernenne Euch zum Hexen-Commissarius ad hoc, und ich erteile Euch die Erlaubnis, das kapitale Supplicium der Malefikanten an Ort und Stelle vorzunehmen, wenn Ihr mir nur bitte helft. Ihr erhaltet jede Vollmacht.“

Nachdem die Doktores Tesimond und Kircher in dem gottverlassenen Dorf gehört haben, dass der Müller Claus Ulenspiegel Bücher besitzt und Kranke heilt, nehmen sie ihn fest, denn sie verdächtigen ihn der Hexerei.

Der Scharfrichter Meister Tilman reist aus Eichstätt an, um den Müller und die mit ihm angeklagte Hanna Krell fachgerecht zu foltern. Als sie nach einigen Wochen vor den Richter Oswald Tesimond gezerrt werden, sind ihre zerquetschten Finger mit dicken Verbänden umwickelt. Doktor Kircher amtiert als Schriftführer, die Dorfbewohner Peter Steger und Ludwig Stelling wurden als Beisitzer ausgesucht, und Ludwig von Esch, der Pfleger und Vorstand des Amtsgerichtsbezirks, wird am Ende das von Doktor Tesimond gefällte Todesurteil verkünden müssen, damit es gültig wird und von Meister Tilman vollstreckt werden kann.

Hanna Krell hat längst alles gestanden, was die Jesuiten hören wollten, und dabei Claus Ulenspiegel schwer belastet. Darüber hinaus hat der Knecht Sepp ausgesagt, dass der Müller des Öfteren tagsüber eingeschlafen sei. Die Inquisitoren wissen das zu deuten: Offenbar ließ der Hexer seinen Körper zurück, wenn er losflog und Unheil anrichtete.

Während des Prozesses taucht unerwartet Doktor Vaclav van Haag auf. Er schreibe eine Abhandlung über die Hexerei, erklärt er, und wolle den angeklagten Müller verteidigen. Doktor Tesimond hält ihm entgegen, dass Claus Ulenspiegel bereits gestanden habe.

„Aber offensichtlich unter Folter?“
„Ja natürlich“, ruft Doktor Tesimond. „Warum hätte er sonst gestehen sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!“

Kurzerhand lässt der Richter den Neuankömmling abführen und einsperren. Die Beisitzer weisen nach der Störung darauf hin, dass es höchste Zeit sei, die Kühe zu melken, aber das lässt Doktor Tesimond nicht gelten:

„Wenn deinem Vieh die Euter weh tun, dann tun sie weh für die Sache Gottes.“

Am Abend – noch bevor sein Vater hingerichtet wird – fordert Tyll Ulenspiegel die Bäckerstochter Nele auf, das Dorf mit ihm gemeinsam zu verlassen. Sie ist froh darüber, denn sie wurde einem Steger-Sohn versprochen, möchte aber keinen heiraten.

Es ist ihr nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie ihr Zuhause je verlassen würde, es war nicht vorgesehen, und halb rechnet sie damit, dass sie gleich daheim aufwachen wird, neben dem großen Ofen, aus dem in Schwaden die Brotwärme wabert. Mädchen gehen nicht anderswohin. Sie bleiben, wo sie geboren sind, so war es immer: Du bist klein, du hilfst im Haus, du wirst größer, du hilfst den Mägden, du wirst erwachsen und heiratest einen Steger-Sohn, wenn du hübsch bist, oder aber einen Verwandten des Schmieds oder, wenn es schlecht läuft, einen Heinerling. Dann bekommst du ein Kind und noch ein Kind und weitere Kinder, von denen die meisten sterben, und weiterhin hilfst du den Mägden und sitzt in der Kirche etwas weiter vorne, neben deinem Mann und hinter der Schwiegermutter, und dann, wenn du vierzig bist und deine Knochen schmerzen und deine Zähne dahin sind, sitzt du auf dem Platz der Schwiegermutter.
Weil sie das nicht wollte, ist sie mit Tyll gegangen.

Der unbegabte Bänkelsänger Gottfried, der angeblich von Gerhard Vogtland in Trier ausgebildet wurde, nimmt die Kinder mit und erklärt ihnen:

„Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den schützt keine Gilde, und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird denken, du hättest Feuer gelegt.“

Hunger

Von dem Bänkelsänger Gottfried wechseln Tyll und Nele zu dem Gaukler Pirmin. Der reiste 1612 im Tross des pfälzischen Kurprinzen Friedrich nach England und kehrte später von dort zurück.

Der [Friedrich] ist nach England gereist, um Prinzessin Elisabeth zu heiraten, und da die Engländer Schausteller schätzen, hat er alles mitgebracht, was sein Land zu bieten hat: Bauchredner, Feuerschlucker, Kunstrülpser, Puppenspieler, Schaukämpfer, Handgeher, Bucklige, malerische Krüppel und eben auch Pirmin.

Von Pirmin lernen Tyll und Nele alles, was ein Gaukler können muss. Aber er ist gemein, lässt sie hungern und schlägt sie.

Später wird Tyll gegenüber dem Winterkönig Friedrich behaupten, Nele habe Pirmin schließlich mit einem Pilzgericht vergiftet, während Nele etwa zur gleichen Zeit Elisabeth in den Haag erzählt, Tyll habe Pirmin umgebracht.

Könige im Winter

König Jakob VI. von Schottland hätte seine älteste Tochter Elisabeth, die Enkelin Maria Stuarts, gern mit dem Schwedenkönig Gustav Adolf aus dem Hause Wasa verheiratet, aber der war nicht darauf eingegangen. 1613 hatte die 17-jährige Protestantin stattdessen den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz geheiratet. Dieser nahm sechs Jahre später die Wahl zum König von Böhmen an. Damit lieferte er der Katholischen Liga einen Vorwand für die Eroberung der Pfalz und einen Angriff gegen Böhmen. Nach der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag am 8. November 1620 – der ersten großen Schlacht im Dreißigjährigen Krieg – floh der wegen seiner kurzen Regierungszeit als „Winterkönig“ verspottete Friedrich aus Böhmen. Er verlor nicht nur Böhmen, die Pfalz und die Kurwürde, sondern wurde überdies geächtet.

Die holländischen Generalstände haben Friedrich und Elisabeth schließlich in Den Haag widerwillig Zuflucht zugewährt.

Da sitze ich, dachte sie, Königin von Böhmen, Kurfürstin der Pfalz, Tochter des Königs von England, Nichte des Königs von Dänemark, Großnichte der jungfräulichen Elisabeth, Enkelin der Maria von Schottland, und kann mir kein Feuerholz leisten.

In der Hoffnung auf Unterstützung seiner Ansprüche reist Friedrich mit seinem Narren Tyll, einem Koch und dem Grafen Hudenitz unter dem Schutz von vier Soldaten der holländischen Generalstände zum Feldlager des Schwedenkönigs. Gustav Adolf lässt ihn erst einmal stundenlang warten. Friedrich, dem auch der Gestank im Lager zusetzt, ärgert sich über das seiner Ansicht nach ungebührliche Benehmen.

Die Wenzelskrone war älter als die Krone Schwedens, und Böhmen war das ältere und reichere Land, also genoss der Herrscher über Böhmen einem Schwedenkönig gegenüber Seniorität – gar nicht zu reden davon, dass ein Kurfürst ebenfalls Königsrang hatte, darüber hatte der pfälzische Hof einst ein Gutachten erstellen lassen, das war erwiesen. Nun war er zwar mit der Reichsacht belegt, aber der schwedische König hatte dem Kaiser, der die Acht verhängt hatte, den Krieg erklärt, und die Protestantische Union hatte die Aberkennung der Kurwürde nie akzeptiert, daher musste der Schwedenkönig ihn als Kurfürsten behandeln, und als solcher war er ihm gleichgestellt – eine Gleichstellung im allgemeinen Fürstenrang, und wenn man die Anciennität der Familie gelten ließ, war das pfälzische Haus zweifellos mehr wert als das Haus Wasa. Wie man es also wendete, es ging nicht an, dass Gustav Adolf ihn warten ließ.

Gustav Adolf kündigt seinem Gast schließlich an, dass er Bayern und die Kurpfalz erobern werde.

„Wenn es gutgeht, brauchen wir nicht mal eine große Feldschlacht, schon haben wir die Kurpfalz, und dann geb ich sie dir als Lehen, und dann beißt sich der Kaiser in den Hintern.“
„Als Lehen?“
„Ja, wie sonst?“
„Ihr wollt mir die Pfalz als Lehen geben? Mein eigenes Erbland?“
„Ja.“

Aufgebracht weist Friedrich das joviale Angebot zurück. Daraufhin wirft ihn Gustav Adolf hinaus.

Während der Rückreise bricht bei Friedrich die Pest aus, und bis auf Tyll verlassen ihn alle Begleiter.

Schuhe

Tyll Ulenspiegel kommt mit einem Planwagen in eine abgelegene Gegend. Allerdings hat man selbst dort bereits durch Flugschriften von ihm erfahren.

Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte Kapuze und den Mantel aus Kalbsfell, wir kannten sein hageres Gesicht, die kleinen Augen, die hohlen Wangen und die Hasenzähne. Seine Hose war aus gutem Stoff, die Schuhe aus feinem Leder, seine Hände aber waren Diebes- oder Schreiberhände, die nie gearbeitet hatten […].

Mit Nele und einer Greisin zusammen führt er zunächst eine Tragödie, dann eine Komödie auf. Zwischendurch gehen die beiden Frauen mit einem Becher herum und sammeln Geld ein.

In einer Pause nähert sich ein Mädchen namens Martha dem Esel, der den Planwagen zog – und erschrickt, als er unvermittelt spricht und etwas von einem Bauchredner erzählt. Er heißt Origenes.

Nach den Theaterstücken balanciert Tyll auf einem zwischen einer Fahnenstange und einem Fensterkreuz des Kirchturms gespannten Seil über den Köpfen der Zuschauer. Von da oben herunter fordert er sie auf, ihre Schuhe auszuziehen und wegzuschleudern. Als die Leute es getan haben, lacht er sie aus, weil sie ihm unkritisch Folge leisteten. Noch mehr amüsiert es ihn, dass sich die Leute bei der Suche nach ihren Schuhen gegenseitig in die Haare kriegen.

Kurz darauf rumpelt der Planwagen durchs Stadttor hinaus.

Wir sprachen nie über das, was geschehen war. Wir sprachen auch nicht über den Ulenspiegel. Ohne es ausgemacht zu haben, hielten wir uns daran; sogar Hans Semmler, den es so fürchterlich erwischt hatte, dass er von nun an im Bett liegen musste und nichts essen konnte außer dicker Suppe, tat so, als wäre es nie anders gewesen. Und auch die Witwe von Karl Schönknecht, den wir am nächsten Tag auf dem Gottesacker begruben, verhielt sich, als wäre es ein Schicksalsschlag gewesen und als wüsste sie nicht genau, wem das Messer in seinem Rücken gehört hatte.

Ein Jahr später kommt der Krieg doch noch in die Gegend. Söldner brennen alles nieder, plündern, vergewaltigen und morden. Nur drei Bewohner überleben: der Gelähmte Hans Semmler in seinem Bett sowie Elsa Ziegler und Paul Grünanger, die heimlich miteinander im Wald waren.

Die große Kunst von Licht und Schatten

Adam Olearius, der Hofmathematiker im Schloss Gottorf, Kurator des herzoglichen Kuriositätenkabinetts und Autor eines Berichts über eine strapaziöse Gesandtschaftsreise nach Russland und Persien, von der er wenige Jahre zuvor fast unbeschadet zurückkehrte, hat sogar die Hieroglyphen entziffert.

Er bekam Briefe von Mitbrüdern aus dem Orient, die ihm von Zeichenfolgen berichteten, die sich nicht der von ihm beschriebenen Ordnung fügten, und er musste ihnen zurückschreiben, dass es keine Rolle spiele, was irgendein Tölpel vor zehntausend Jahren in Stein geritzt habe, irgendein kleiner Schreiber, der doch weniger über diese Schrift wusste als eine Autorität wie er – wozu also sich mit dessen Fehlern befassen?

Der inzwischen zum Professor des Collegium Roma avancierte Jesuitenpater Athanasius Kircher – ein Drakontologe wie sein verstorbener Förderer Oswald Tesimond – reist nach Gottorf und überredet Adam Olearius, mit ihm einen in Holstein vermuteten Drachen zu suchen, mit dessen Blut sich die Pest kurieren ließe. Gerade weil man in Holstein noch nie einen Drachen gesehen hat, ist Kircher von dessen Existenz überzeugt:

„Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt – jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. […] ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist. […] In dieser Gegend ist offensichtlich überhaupt noch nie ein Drache bezeugt worden. Somit habe ich die Zuversicht, dass einer da sein muss.“

Olearius willigt ein, Kircher zu begleiten und nimmt seinen Assistenten Magister Paul Fleming mit.

In der Holsteinischen Heide stoßen die drei Männer auf einen Wanderzirkus. Als der den Planwagen ziehende Esel Professor Kircher anspricht, vermutet dieser einen Bauchredner. „Stimmt“, sagt der Esel. „Ich bin Origenes.“ Und auf die Frage, wo sich der Bauchredner verstecke, antwortet das Tier, der schlafe. Tyll und Nele haben eine Alte namens Else Kornfass aus Stangenriet bei sich, die auswendig Balladen aufsagen kann. Das interessiert vor allem Paul Fleming.

Kircher, der in der Kutsche zurückgeblieben ist, merkt plötzlich, dass ihm jemand gegenüber sitzt. Es ist Tyll, und der fragt: „Kennst mich gar nicht mehr, Athanasius?“

Kurz darauf reitet Athanasius Kircher davon, ohne sich von seinen Begleitern zu verabschieden oder ihnen auch nur eine Nachricht zu hinterlassen.

Nele verbringt die Nacht mit Adam Olearius im Feld und kündigt Tyll am nächsten Morgen an, dass der verwitwete Hofmathematiker sie mit nach Gottorf nehmen und heiraten werde. Ob Tyll mitkommen wolle, fragt sie. Aber der Narr meint, er würde es im Schloss nicht lange aushalten.

Bevor Nele sich verabschieden kann, bricht Tyll mit dem Esel auf. Er nimmt nur ein Seil und die Jonglierbälle mit.

Im Schacht

Nach einem Streit wird Tyll auch von dem sprechenden Esel Origenes verlassen.

Er reist nach Brünn, weil es heißt, dort sei es sicher. Aber die Stadt wird von dem schwedischen General Lennart Torstensson belagert, und als sich der Stadtkommandant über Tyll ärgert, muss der Narr zu den Mineuren.

Der Tunnel, in dem er mit zwei anderen Mineuren schaufelt, stürzt ein. Tyll ist zunächst nicht sicher, ob er tot ist, aber als er sich in der völligen Dunkelheit sprechen hört, weiß er, dass er noch lebt. Am Ende gibt es jedoch nur noch ihn, und er ruft:

„Und ich sterbe auch nicht morgen und an keinem andren Tag. Ich will nicht! Ich mach’s nicht, hörst du? […] Ich mach’s nicht, ich geh jetzt, mir gefällt es hier nicht mehr. […] Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht!“

Zusmarshausen

Martin Graf von Wolkenstein, ein am Wiener Hof aufgewachsener 25-jähriger Nachfahre des Minnesängers Oswald von Wolkenstein, erhält den kaiserlichen Auftrag, den berühmtesten Spaßmacher des Reichs nach Wien zu holen. Tyll Ulenspiegel soll im Kloster Andechs Zuflucht vor dem Krieg gefunden haben.

Als Begleiter wählt der dicke Graf den Reichshofratssecretarius Karl von Doder und drei kampferprobte Männer aus dem Lobkowitz’schen Dragonerregiment. Die Ortschaften, durch die sie kommen, sind verwüstet, und die wenigen noch lebenden Bewohner berichten von Plünderungen sowohl der Protestanten als auch der Katholiken.

Erst in Andechs fällt dem Grafen auf, dass er vergaß, ein Pferd für Tyll mitzunehmen. Weil in der Gegend alle Tiere gegessen wurden oder davongelaufen sind, muss Tyll hinter dem Dragoner Franz Kärrnbauer aufsteigen.

Bei Zusmarshausen geraten sie im Mai ungewollt an den Rand einer Schlacht zwischen den Truppen des Kaisers und Bayerns auf der einen und den Armeen der Schweden und Franzosen auf der anderen Seite. Karl von Doder und die beiden Dragoner werden von Geschossen getötet. Martin von Wolkenstein und Tyll Ulenspiegel müssen allein weiter. Als sie im Wald übernachten, brauchen sie sich wenigstens keine Sorgen wegen der Wölfe zu machen, denn die finden auf dem Schlachtfeld genug zu fressen.

Wenn Martin von Wolkenstein später jemandem vorgestellt wird, heißt es stets, der Herr Oberhofmeister habe die Schlacht von Zusmarshausen miterlebt.

In einem beliebten Roman fand er eine Beschreibung, die ihm gefiel, und wenn Menschen ihn drängten, die letzte Feldschlacht des großen deutschen Krieges zu schildern, so sagte er ihnen das, was er in Grimmelshausens Simplicissimus gelesen hatte. Es passte nicht recht, weil es sich dort um die Schlacht von Wittstock handelte, aber das störte keinen, nie fragte jemand nach. Was der dicke Graf nicht wissen konnte, war aber, dass Grimmelshausen die Schlacht von Wittstock zwar selbst erlebt, aber ebenfalls nicht hatte beschreiben können und stattdessen die Sätze eines von Martin Opitz übersetzten englischen Romans [„Arcadia“] gestohlen hatte, dessen Autor [Philip Sidney] nie im Leben bei einer Schlacht dabei gewesen war.

Fünfzig Jahre später schreibt Martin von Wolkenstein einen Bericht über seinen Ritt von Wien nach Andechs und zurück. Über Erinnerungslücken hilft er sich mit Fantasie hinweg.

Westfalen

Elisabeth, die Witwe des Winterkönigs, reist 1648 unter dem falschem Namen Madame de Cournouailles mit ihrer Zofe und einem Kutscher von Den Haag nach Osnabrück, wo ein Gesandtenkongress stattfindet, der den Krieg beenden soll.

Sie will die Pfalz und die Kurwürde für ihren Sohn zurückgewinnen. Heinrich Friedrich, ihr Erstgeborener, ertrank 1614, und der zweitälteste Sohn taugt nichts, aber als Mutter fühlt sie sich verpflichtet, etwas für ihn zu tun. Und wenn der Bayer nicht nachgibt, will sie wenigstens erreichen, dass für Karl Ludwig eine achte Kurwürde geschaffen wird.

Mit dem Mut der Verzweiflung verschafft sie sich Zutritt zu Johann von Lamberg, dem Botschafter des Kaisers. Bei ihm beschwert sie sich über den katholischen Herzog von Bayern, der sich den Kurfürsten-Titel ihres verstorbenen Mannes widerrechtlich angeeignet habe. Johann von Lamberg hält ihr vor, mit ihrem Ehemann den Krieg angefangen zu haben, den er nun durch Verhandlungen beenden wolle.

Nachdem Elisabeth bei Johann von Lamberg nichts erreicht hat, versucht sie es am nächsten Vormittag bei den schwedischen Diplomaten Johan Axelsson Oxenstierna und Doktor Adler Salvius. Empfangen wird sie allerdings zunächst von Alvise Contarini, dem Botschafter der Republik Venedig, der als Vermittler auftritt. Gustav Adolf fiel zwar 1632 in der Schlacht bei Lützen, aber Elisabeth erwartet, dass die Schweden Prag erobern und dann den Kaiser auffordern, ihrem Sohn die böhmische Krone zurückzugeben. Daraufhin würde ihr Sohn anbieten, für die achte Kurwürde auf Böhmen zu verzichten.

Ohne eine feste Zusage bekommen zu haben, besucht Elisabeth am Abend vor ihrer Abreise einen Empfang des Bischofs in Osnabrück. Während des gesitteten Tanzes der Gäste steht plötzlich Tyll im Saal und jongliert mit fünf scharfen Degen.

Nach der Vorführung geht Elisabeth über eine Wendeltreppe zu einem Balkon hinauf. Wie erwartet, taucht Tyll neben ihr auf. Elisabeth erkundigt sich nach dem Esel. „Er schreibt ein Buch“, behauptet Tyll. Sie schlägt dem Hofnarren des Kaisers vor, sie nach Den Haag zu begleiten.

„Willst mir Gnadenbrot geben, kleine Liz? Eine tägliche Suppe und eine dicke Decke und warme Pantoffeln, bis ich friedlich sterbe?“
„So schlecht ist das nicht.“
„Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?“
„Sag es mir.“
„Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser.“

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Daniel Kehlmanns Roman trägt zwar den Titel „Tyll“, ist aber alles andere als ein Buch über Till Eulenspiegel bzw. Dyl Ulenspegel oder Tyll Ulenspiegel. Falls der aus einer um 1510 in Straßburg veröffentlichten mittel­nieder­deutschen Schwank­sammlung bekannte Spaßvogel tatsächlich lebte, dann muss es im 15. Jahr­hundert oder früher gewesen sein. Angeblich lebte er in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Daniel Kehlmann, der das selbstverständlich weiß, macht aus ihm jedoch einen Zeitzeugen des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648.

Um diesen grausamen Krieg dreht sich der Roman „Tyll“. Daniel Kehlmann entwickelt allerdings keine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, sondern greift einzelne Ereignisse und Aspekte heraus, reichert die Tatsachen mit fiktiver Handlung an und formt daraus acht Kapitel, die nur lose durch ein paar Querverweise und die Nebenfigur Tyll Ulenspiegel verknüpft sind. Angeordnet sind die Kapitel, die auch als einzelne Erzählungen gelesen werden können, nicht chronologisch (wie in der Inhaltsangabe oben), sondern folgendermaßen:

  1. Schuhe
  2. Herr der Luft
  3. Zusmarshausen
  4. Könige im Winter
  5. Hunger
  6. Die große Kunst von Licht und Schatten
  7. Im Schacht
  8. Westfalen

Aufgrund dieses Aufbaus fehlt in „Tyll“ eine durchgängige Identifikationsfigur, und es gibt auch keinen Erzählfluss über die Kapitelgrenzen hinweg. „Tyll“, das sind einzelne Geschichten über eine schreckliche Kriegsepoche, zu der dieser zynische Gaukler Tyll passt, der die Manipulierbarkeit der Menschen ausnutzt und sie dann verspottet. Der Krieg wird im Namen der katholischen bzw. protestantischen Konfession geführt, aber in der leidtragenden Bevölkerung sind Magie und Aberglaube noch weit verbreitet. Der Müller Claus Ulenspiegel verbindet sie mit theoretischen Fragen. Diesem widersprüchlichen Charakter stehen in „Tyll“ spitzfindige Jesuiten, Drakonologen und andere Wissenschaftler gegenüber. Mit diesen Motiven jongliert Daniel Kehlmann in seinem Roman ähnlich wie Tyll mit Bällen oder Degen. Das ist schelmisch und humorvoll, ironisch und unterhaltsam, auch wenn es um einen Krieg geht, der Seuchen und Hungersnöte auslöste, denen in einigen süddeutschen Gebieten bis zu zwei Drittel der Bevölkerung zum Opfer fielen.

„Tyll“ ist polyphon, und nicht immer wissen wir, wessen Erzählstimme wir gerade hören. Wenn zum Beispiel Martin Graf von Wolkenstein 50 Jahre nach der Schlacht von Zusmarshausen über seine damaligen Erlebnisse berichtet und Erinnerungs­lücken mit Fantasie füllt, kommentiert das ein ungreifbarer Autor, der von dem Grafen und seinem Buch erzählt.

Vor allem, wenn es um die abergläubische Landbevölkerung geht, lässt Daniel Kehlmann die Sprache ein wenig antiquiert klingen und betont damit die Atmosphäre.

Den Roman „Tyll“ von Daniel Kehlmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen (ISBN 978-3-8398-1604-2).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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