Kazuo Ishiguro : Als wir Waisen waren

Als wir Waisen waren
Originalausgabe: When We Were Orphans Faber and Faber, London 2000 Als wir Waisen waren Übersetzung: Sabien Herting Albrecht Knaus Verlag, München 2000 ISBN 3-8133-0168-X, 349 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Christopher Banks gilt in den 30er-Jahren als bester Privatdetektiv Englands. Aber es gibt einen Fall, den er noch nicht gelöst hat: das Verschwinden seiner Eltern in Schanghai. Damals war er noch ein Kind. Er glaubt, dass sie entführt wurden und erinnert sich, dass sein Vater für ein Handelsunternehmen arbeitete, das viel Geld mit Opiumimporten verdiente, während seine Mutter Kampagnen gegen den Opiumhandel organisierte.
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Kritik

Obwohl Kazuo Ishiguro zunächst den Eindruck erweckt, "Als wir Waisen waren" sei eine Detektivgeschichte, geht es in Wirklichkeit nicht um Kriminalfälle, sondern um eine zu spät erkannte Lebenslüge. Ungeachtet des tragischen Inhalts habe ich den Roman mit großem Vergnügen gelesen.
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Der englische Junge Christopher („Puffin“) Banks wächst als Einzelkind im International Settlement von Schanghai auf, wo sein Vater in dem Handelsunternehmen „Morganbrook and Byatt“ beschäftigt ist und die Familie mit Christophers Kindermädchen Mai Li und den anderen Hausangestellten in einer der Firma gehörenden Villa wohnt.

Im Nachbarhaus lebt die japanische Familie Yamashita mit der Tochter Etsuko und deren vier Jahre jüngeren Bruder Akira, dem besten Freund Christophers.

Als Christopher vier oder fünf Jahre alt ist, erlebt er, wie sein Vater am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer weinend zusammengebrochen ist und klagt, er sei nicht so stark, wie seine Frau es von ihm erwarte.

Durch eine Auseinandersetzung seiner Mutter mit einem Mitarbeiter von „Morganbrook and Byatt“ erfährt Christopher, dass das Unternehmen sehr viel Geld mit dem Import indischen Opiums verdient. Diana Banks missbilligt das schärfstens und setzt auch ihrem Mann zu, seine Stelle zu kündigen und mit der Familie nach England zurückzukehren.

„Schämst du dich nicht, bei einem solchen Unternehmen zu arbeiten? Wie kannst du ein ruhiges Gewissen haben, wenn du deine Existenz einem solch gottlosen Wohlstand verdankst?“ (Seite 84)

Akira behauptet, schon einmal außerhalb des International Settlement gewesen zu sein und erzählt Christopher Fantasiegeschichten über seine Erlebnisse. Eines Tages schildert er ausführlich, dass Ling Tien, der Diener der Familie Yamashita, abgetrennte Hände sammle, sie in seinem Zimmer aufbewahre und mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit in Spinnen verwandle, die er dann in der Umgebung aussetze. Als Ling Tien drei Tage frei hat und fort ist, schleichen sich Akira und Christopher voller Angst in das Dienerzimmer. Es liegen zwar keine Hände herum, doch Akira behauptet, die befänden sich in den Schubladen und Kommoden. Die beiden Jungen nehmen eine Flasche mit einer Flüssigkeit mit, von der sie nicht wissen, um was es sich handelt.

Als Akira gegenüber seiner Schwester mit der Tat prahlt, reagiert sie entsetzt und erzählt ihm zur Abschreckung, es gebe Diener, aus deren Zimmer Eindringlinge nie mehr herauskommen. Das steigert die Angst der beiden Jungen, aber sie beschließen, die Flasche vor Ling Tiens Rückkehr gemeinsam wieder zurückzubringen.

Zur vereinbarten Zeit, als Christopher gerade zu Akira hinübergehen will, fahren zwei Autos vor und einige Herren beginnen mit seiner Mutter eine offenbar sehr ernste Unterredung. Diana kommt kurz aus dem Salon und fordert ihren Sohn auf, im Haus zu bleiben, weil sie etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen habe. Christopher bleibt nichts anderes übrig, als seinen Freund im Stich zu lassen. Um so frustrierter ist er, als seine Mutter ihm nach eineinhalb Stunden nichts anderes mitteilt, als was er bereits durch Lauschen verstanden hat: Sein Vater kam am Morgen nicht im Büro an und ist spurlos verschwunden.

Am nächsten Tag ignoriert Akira ihn, aber bald darauf kommt er herüber und bemüht sich um seinen Freund, denn inzwischen hat er erfahren, dass dessen Vater vermisst wird, und er weiß jetzt, warum Christopher die Verabredung nicht einhalten konnte.

Zwei oder drei Wochen nach dem Verschwinden seines Vaters beobachtet Christopher den Besuch eines fetten Chinesen, der von zwei Leibwächtern und Onkel Philip begleitet wird. Philip ist nicht wirklich ein Verwandter, sondern er hatte vor Christophers Geburt vorübergehend als Hausgast bei den Banks gewohnt. Seit seiner Kündigung bei „Morganbrook and Byatt“ leitet er eine Wohltätigkeitsorganisation mit dem Namen „Der Heilige Baum“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensbedingungen in den Chinesenvierteln von Schanghai zu verbessern und dabei auch mit Diana Banks zusammenarbeitet, die sich für eine Beendigung des Opiumhandels einsetzt. Die Unterredung der Besucher mit Diana Banks endet offenbar im Streit. Von Christophers Mutter heftig beschimpft, kehrt der fette Chinese lächelnd zu seinem Wagen zurück und lässt sich wegfahren.

Kurz darauf wird Christopher von Onkel Philip eingeladen, mit in die Stadt zu kommen. Dort hat Philip angeblich ein Akkordeon gesehen, das er dem Jungen kaufen will. Sie fahren ans andere Ende des International Settlement, aber statt mit Christopher in ein Musikgeschäft zu gehen, lässt Onkel Philip ihn mitten auf der Straße stehen und läuft davon. Voller dunkler Vorahnungen eilt Christopher nach Hause, aber er kommt zu spät: Seine Mutter ist nun ebenfalls verschwunden.

Im Büro von Harold Anderson, dem früheren Vorgesetzten seines Vaters bei „Morganbrook and Byatt“, wird dem verwaisten Knaben ein Colonel Chamberlain vorgestellt. Der wird ihn zu einer Tante nach England bringen.

In England kommt Christopher in das Internat St. Dunstan.

An seinem vierzehnten Geburtstag erhält er von seinen Freunden Robert Thornton-Browne und Russell Stanton eine 1887 in Zürich angefertigte Lupe als Geschenk, denn sie glauben, dass er ein großer Detektiv wie Sherlock Holmes wird. Tatsächlich zieht Christopher im Sommer 1923, nach seinem Studienabschluss in Cambridge, gegen den Willen seiner Tante nicht zu ihr nach Shropshire, sondern nach London und fängt dort als Privatdetektiv an.

Sein früherer Schulfreund James Osbourne, der schon immer auf gute Beziehungen aus war, lädt ihn 1930 zu einem Empfang ein, der im Charringworth Club zu Ehren des Tycoons Leonard Evershott gegeben wird. Bei dieser Gelegenheit fällt Christopher die junge, attraktive Sarah Hemmings auf. Ein anderer Gast erzählt ihm, sie sei mit dem Dirigenten Herriot-Lewis verlobt gewesen, habe sich jedoch nach dessen kläglichem Versagen bei einem Schubert-Konzert in der Albert Hall von ihm getrennt. Ihrem nächsten Geliebten, dem Rechtsanwalt Henry Quinn, sei es nicht besser gegangen: Nach seiner Niederlage im Fall Charles Browning verließ sie ihn und tat sich mit dem aufstrebenden jungen Minister James Beacon zusammen.

Christopher fühlt sich zu Sarah Hemmings hingezogen, doch als er sie zufällig im Palmengarten des Waldorf Hotel sieht und anspricht, blickt sie ihn arrogant an und lässt ihn stehen.

Umso verblüffter ist Christopher drei Jahre später, als ein Bekannter behauptet, Sarah Hemmings habe ihn als einen ihrer Freunde bezeichnet.

Inzwischen gilt Christopher Banks als bester Privatdetektiv Englands. Er ist gerade dabei, den Mord an Charles Emery in Shackton, einem Dorf in Oxfordshire, aufzuklären und liegt am Tatort neben einem Gartenteich auf dem Bauch, um mit seiner Lupe Spuren zu suchen, als plötzlich Sarah Hemmings auftaucht und ihn nach ein paar Höflichkeitsfloskeln bittet, sie zu einem Dinner der Meredith Foundation im Claridge Hotel mitzunehmen. Christopher hat die Zurückweisung nicht vergessen und lehnt das Ansinnen rundweg ab.

Doch als er zu dem Dinner geht, kommt in der Hotelhalle Sarah Hemmings auf ihn zu. Christopher wechselt ein paar Worte mit ihr und lässt sie dann stehen. Ein paar Minuten später kommt es am Saaleingang zu einem Tumult: Sarah Hemmings besteht darauf, trotz fehlender Einladung eingelassen zu werden. Noch bevor er selbst die Gelegenheit hatte, dem Ehrengast Sir Cecil Medhurst vorgestellt zu werden, beobachtet Christopher Sarah Hemmings im Gespräch mit dem angesehen älteren Politiker.

1934 erfährt Christopher bei einer Gesellschaft von einem zehnjährigen Mädchen namens Jennifer, dessen Eltern bei einem Schiffsunglück vor Cornwall ertranken. Jennifer lebt jetzt bei ihrer Großmutter in Kanada, aber die Greisin ist gebrechlich und kann sich nicht einmal ausreichend um sich selbst kümmern. Voller Mitleid erklärt Christopher sich bereit, das Kind bei sich aufnehmen. Er ist dazu in der Lage, denn er verfügt inzwischen über ein Haus in London, das er sich nach dem Tod seiner Tante von der Erbschaft kaufte.

Einige Wochen später kommt Jennifer zu ihm, und er stellt ein Kindermädchen für sie ein.

Auf einer Gesellschaft trifft er 1937 Sarah wieder, die inzwischen mit Sir Cecil Medhurst verheiratet ist und ankündigt, sie werde mit ihrem Ehemann für längere Zeit nach Schanghai reisen.

Im September 1937 trifft auch Christopher in seiner Geburtsstadt ein: Aufgrund jahrelanger Ermittlungen ist er überzeugt, dass seine Eltern damals entführt wurden und noch immer in Schanghai festgehalten werden. Einzig und allein, um diesen Fall aufzuklären, hatte er sich für den Beruf des Privatdetektivs entschieden. Die Befreiung seiner Eltern soll die Krönung seiner erfolgreichen Karriere sein.

Mr Grayson, der dem Stadtrat von Schanghai angehört, zweifelt nicht am Erfolg des Meisterdetektivs und bereitet schon eine entsprechende Willkommensfeier für das Ehepaar Banks vor. John MacDonald stellt sich als als Konsulatsbeamter vor und erklärt, er sei mit protokollarischen Aufgaben betraut, aber Christopher ist überzeugt, dass es sich um einen auf ihn angesetzten Geheimagenten handelt.

Während die Japaner die chinesischen Viertel Schanghais von einem Kriegsschiff aus beschießen, geben die Engländer im International Settlement weiterhin ihre Gesellschaften. Dabei treffen sich auch Christopher, Sarah und Sir Cecil Medhurst wieder. Einige Tage danach folgt Christopher dem Ehepaar in eine verruchte Spielhölle und beobachtet, wie der alte, der Spielleidenschaft verfallene Engländer viel Geld beim Roulette verliert und vor Trunkenheit kaum noch aufstehen kann.

Anthony Morgan, ein früherer Schulfreund, bringt Christopher in ein Haus, in dem die acht- oder neunköpfige Familie Lin wohnt und die Besucher höflich begrüßt. Erst nach einer Weile merkt Christopher, dass es sich um sein inzwischen umgebautes Elternhaus handelt. Seit achtzehn Jahren wohnen hier die Lins, aber das Familienoberhaupt beteuert, dass man selbstverständlich ausziehen werde, sobald der berühmte Detektiv seine Eltern gefunden habe und mit ihnen wieder hier einziehen wolle.

Während der Rückfahrt fragt Christopher Anthony Morgan nach Inspektor Kung, der damals, als seine Eltern verschwanden, die Ermittlungen leitete. Der sei inzwischen zum verwahrlosten, drogenabhängigen Alkoholiker heruntergekommen, sagt Morgan.

Christopher sucht ihn im „Inn of Morning Happiness“ auf, wo Kung in einem der Verschläge haust. Er befragt den früheren Inspektor nach der Wu-Cheng-Lu-Schießerei im Jahr 1915. Damals wurden in einem Restaurant mit diesem Namen drei Männer erschossen. Die Polizei verhaftete einen Tatverdächtigen, aber es stellte sich heraus, dass er gar nicht an der Schießerei beteiligt gewesen war. Allerdings – und deshalb interessiert Christopher sich für ihn – soll er einer Entführerbande in Schanghai angehört haben. Zur Enttäuschung Christophers kann Kung sich nicht an weitere Einzelheiten erinnern.

Bei einem heimlichen Treffen mit Christopher sagt Sarah, sie habe Reisedokumente und Schiffskarten besorgt, um ohne ihren Mann nach Macao zu reisen. Christopher lässt sich von ihr überreden, seine Nachforschungen aufzugeben und sie zu begleiten.

Da erfährt er durch einen Anruf von Kung, dass die Polizei damals auf höhere Anordnung hin davon abgehalten wurde, ein Haus zu durchsuchen, in dem man Opfer der Entführerbande vermutete. Das Haus stehe gegenüber dem eines Blinden namens Yeh Chen. Was hätte Christopher noch vor ein paar Tagen für diese Information gegeben?! Doch jetzt, wo er seine große Liebe Sarah nach Macao begleiten will, interessiert ihn der Hinweis nicht mehr sonderlich.

Nichtsdestotrotz erkundigt Christopher sich bei dem Taxichauffeur, der ihn zu dem mit Sarah vereinbarten Treffpunkt fährt, beiläufig nach Yeh Chen. Der Mann kennt den blinden Schauspieler und weiß auch, wo er wohnt: ganz in der Nähe des Plattenladens, in dem Sarah auf Christopher wartet. Im Hinterzimmer küsst sich das Paar zum ersten Mal. Da sie ohnehin noch ein paar Minuten warten müssen, läuft Christopher noch einmal hinaus zu dem Taxi und fordert den Fahrer auf, ihn zum Haus von Yeh Chen zu bringen. In den Gassen verliert der Chauffeur die Orientierung, verlässt versehentlich das International Settlement und gerät in das von den Japanern angegriffene Chinesenviertel Chapei. Dort lässt er den Wagen stehen, zeigt Christopher den Weg zu einem nahen Polizeirevier und läuft fort, um sich vor den Japanern in Sicherheit zu bringen.

In den Ruinen des ehemaligen Polizeireviers trifft Christopher auf chinesische Soldaten. Widerstrebend ist der Leutnant, der die Männer befehligt, bereit, Christopher trotz des Risikos zu der Adresse zu bringen. In unmittelbarer Nähe der Front geraten sie in eine Schießerei zwischen chinesischen und japanischen Soldaten. Der Leutnant muss zurück, aber Christopher geht weiter. In zerstörten Häusern, die er durch Einschusslöcher in den Wänden betritt, trifft er auf verängstigte chinesische Familien. In einem Haus liegt ein gefesselter japanischer Soldat am Boden, den die Chinesen umzubringen drohen. Es ist Akira! Christopher befreit den schwer Verletzten von den Hand- und Fußfesseln, verbindet ihn notdürftig und verlangt, dass er ihm bei der Befreiung seiner Eltern hilft. Danach werde er sich um eine medizinische Versorgung für Akira kümmern, verspricht Christopher.

Das gesuchte Haus, das sich auf der anderen Seite der Front befindet, steht augenscheinlich kaum beschädigt in einem völlig zerstörten Viertel. Ein etwa sechsjähriges Mädchen kommt herausgelaufen und bittet die beiden Männer, sich um seinen verletzten Hund zu kümmern. Dabei blutet das Kind selbst am Kopf. Sobald Christopher durch die Tür tritt, merkt er, dass zwar die Fassade noch steht, aber dahinter alles zertrümmert ist, und auf dem Boden liegen drei tote Chinesen, darunter vermutlich auch die Mutter des Mädchens, deren Arm am Ellbogen abgerissen wurde.

Akira warnt seinen Freund: Soldaten! Aber der sucht verzweifelt nach seinen Eltern, bis sie beide von japanischen Soldaten abgeführt werden.

Oberst Hasegawa lässt Christopher zum Britischen Konsulat bringen. Seinen Freund, bei dem es sich um einen Verräter handeln soll, sieht er niemals wieder.

Im Konsulat will Christopher mit John MacDonald sprechen, aber stattdessen holt Mr Grayson ihn zu einer Unterredung ab. Der Stadtrat klärt seinen Gast darüber auf, dass nicht MacDonald, sondern er für den Geheimdienst arbeitet.

Christopher erkundigt sich nach der „Gelben Schlange“. Dabei handelt es sich um einen Kommunisten, der eigene Leute an Chiang Kai-shek verraten haben soll und deshalb von Mao Zedongs Anhängern verfolgt wird. Aufgrund seiner gründlichen Vorbereitung weiß Christopher, dass in diesem Zusammenhang innerhalb von vier Jahren dreizehn Menschen ermordet wurden. Wunschgemäß arrangiert Grayson ein Treffen Christophers mit der „Gelben Schlange“. Unvermittelt steht er seinem Onkel Philip gegenüber! Der erzählt, dass er von Dschiang Kkai-sheks Männern gefangen genommen wurde. Um Folterungen zu vermeiden, verriet er einen Mann aus den eigenen Reihen, und weil die Nationalisten dafür sorgten, dass die Kommunisten davon erfuhren, ist er seither auf ihren Schutz angewiesen, weil die eigenen Leute hinter ihm her sind.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Christopher vermutet, dass sein Vater damals mutig gegen den Opiumhandel des Handelsunternehmens „Morganbrook and Byatt“ protestierte und deshalb aus dem Weg geräumt wurde, aber Onkel Philip klärt ihn darüber auf, dass sein Vater mit einer Geliebten namens Elizabeth Cornwallis durchbrannte. Ein Jahr lang lebten die beiden in Hongkong, dann zogen sie weiter nach Malakka, wo Christophers Vater nach einem weiteren Jahr an Typhus starb.

Und was geschah mit Christophers Mutter? Bei dem fetten Chinesen, an dessen Besuch Christopher sich erinnert, handelte es sich um den War Lord Wang Ku. Auf ihn und seine dreihundert Mann starke Privatarmee waren die Opiumimporteure damals angewiesen. Weil die europäischen Handelshäuser den lukrativen Opiumhandel nicht aufgeben wollten, wandten sich Onkel Philip und Diana Banks an Wang Ku, und der zeigte sich gewillt, seine Kooperation mit den Handelsunternehmen zu beenden. Bei seinem Besuch stellte sich jedoch heraus, dass er dabei eigennützige Interessen verfolgte und den Opiumhandel an sich reißen wollte. Da geriet Diana Banks in Zorn, beschimpfte den War Lord und ohrfeigte ihn. Obwohl Wang Ku scheinbar ungerührt wegfuhr, wussten Diana und Onkel Philip, dass der mächtige Chinese die Beleidigung nicht hinnehmen würde. Kurz darauf ließ Wang Ku wissen, dass er die Engländerin als Konkubine mit nach Hunan nehmen und dort „zähmen“ wolle. Onkel Philip konnte nur noch dafür sorgen, dass Christopher nicht im Haus war, als man seine Mutter abholte.

Sieben Jahre später war Onkel Philip bei Wang Ku eingeladen. Da bemerkte er, dass Diana Banks nicht nur zum Konkubinat gezwungen, sondern auch regelmäßig ausgepeitscht wurde. Nur aus Liebe zu ihrem Sohn nahm sie sich nicht das Leben, denn auf diese Weise erreichte sie, dass Wang Ku dessen Schul- und Universitätsausbildung finanzierte. Auch das vermeintliche Erbe stammte von Wang Ku; Christophers Tante hatte nie viel Geld besessen.

Was nach Wang Kus Tod vor vier Jahren aus Christophers Mutter wurde, weiß Onkel Philip nicht.

Jahre später kommt Christopher erneut nach Asien: Jennifer begleitet ihn nach Hongkong. Sie wollte eigentlich auch nach Schanghai, aber ihr Pflegevater findet die Veränderungen in Hongkong schon deprimierend genug.

Am dritten Tag lässt er sich ohne Jennifer zum Landgut Rosedale bringen, einer von Nonnen geleiteten Pflegeanstalt. Schwester Belinda Heaney führt ihn zu der vor zwei Jahren unter dem Namen Diana Roberts aufgenommen Patientin, die im Garten sitzt und auf undurchschaubare Weise allein mit Karten spielt. Sie erkennt ihren Sohn nicht, aber als er den Namen „Puffin“ erwähnt, verändert sich ihr Gesichtsausdruck, und er begreift, dass sie ihren Sohn noch immer liebt, auch wenn sie ihn nicht mit ihrem Besucher in Zusammenhang bringt. Ohne den Nonnen zu sagen, dass er Dianas Sohn ist, reist Christopher wieder ab, denn er weiß, dass seine Mutter in dem Heim gut aufgehoben ist.

Jennifer erklärt er:

„Was ich sagen will, ist, mir wurde klar, dass sie nie aufgehört hatte, mich zu lieben, egal, was geschehen war. Alles was sie immer wollte, war, dass ich ein gutes Leben habe. Und der gesamte Rest, alle meine Bemühungen, sie zu finden, meine Bemühungen, die Welt vorm Untergang zu retten, waren eigentlich ohne Belang. Ihre Liebe zu mir war immer einfach da, sie war bedingungslos.“ (Seite 340)

London, 14. November 1958. Jennifer ist inzwischen einunddreißig Jahre alt und noch nicht verheiratet. Vor einem Jahr versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Christopher macht sich Vorwürfe, weil er sich nicht noch mehr um sie gekümmert hat.

Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, die Probleme der Welt lösen zu wollen. (Seite 343)

Die Obsession, als Meisterdetektiv seine Eltern retten zu wollen, hatte ihn auch daran gehindert, seine große Liebe Sarah nach Macao zu begleiten. Sarah heiratete nach dem Krieg den Grafen de Villefort, erholte sich jedoch nicht mehr von den während ihrer Internierung durch die Japaner erlittenen gesundheitlichen Schäden und starb inzwischen.

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Auf den ersten Blick handelt es sich bei Kazuo Ishiguros fünftem Roman – „Als wir Waisen waren“ – um eine Detektivgeschichte. Es werden auch zwei, drei Fälle erwähnt, durch deren Aufklärung der englische Meisterdetektiv Christopher Banks berühmt wird – aber mehr als die Bezeichnungen der Fälle erfahren wir nicht. Es geht auch gar nicht darum, sondern um das Psychogramm eines Waisen, der unter dem Zwang traumatischer Kindheitserlebnisse, die ihm nicht aus dem Kopf gehen, alles für die Obsession opfert, als Meisterdetektiv die Welt vom Bösen befreien und seine in Schanghai verschollenen Eltern zu retten. Wie der Butler Stevens in Kazuo Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“, begreift Christopher Banks am Ende, dass er sein Lebensglück für ein falsches Ziel geopfert hat.

Sie [Kazuo Ishiguros Protagonisten] sind oft sehr engagiert und widmen ihre ganze Energie einem Lebenswerk, weil sie vollkommen davon überzeugt sind, dass die Sache es wert ist. Und sie haben zunächst auch das Gefühl, ein gutes Leben zu führen. Doch später merken sie, dass sie auf die falsche Karte gesetzt haben. Insofern könnte man meine Bücher auch als Anleitung zum Unglücklichsein lesen. Nach dem Motto: „Wie vergeude ich mein Leben? (Seite Kazuo Ishiguro)

„Als wir Waisen waren“ ist also ein Roman über eine Lebenslüge.

Erzählt wird in der ersten Person Singular aus der Sicht des Protagonisten, der ganz konsequent nur schildert, was er selbst erfahren und erlebt hat. Das meiste davon erzählt er aus der Erinnerung, und darauf weist er auch immer wieder hin:

Wenn ich an diesen Nachmittag zurückdenke, kommt es mir so vor, als hätte ich allen Grund gehabt, ein wenig nervös zu sein […] (Seite 18)

Ich erinnere mich nicht mehr, ob sich die Esszimmer-Episode vor oder nach dem Besuch des Gesundheitsinspektors zutrug. Was ich weiß, ist, dass es an jenem Nachmittag heftig regnete, sodass es im ganzen Haus düster war […] (Seite 82)

Es gab in jenen Wochen nach dem Verschwinden meines Vaters eine andere kleine Begebenheit, an deren große Bedeutsamkeit ich erst heute glaube. (Seite 130)

Christopher Banks erzählt im Plauderton eines altmodischen Engländers und lässt sich durch Assoziationen von einer Erinnerung zur nächsten tragen. Obwohl alle paar Seiten darauf hingewiesen wird, dass hier jemand erzählt, ist die Darstellung szenisch, wobei selbst banale Szenen etwas Besonderes haben und originelle Details beinhalten. Wie Christopher Banks während des chinesisch-japanischen Krieges mitten in einem umkämpften Viertel von Schanghai nach seinen Eltern sucht, das wirkt kafkaesk. Nicht zuletzt die feine Ironie, die den meisterhaft komponierten Roman durchzieht, macht die Lektüre zu einem großen Vergnügen. Erst gegen Ende zu wird klar, dass es sich eigentlich um eine Tragödie handelt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Albrecht Knaus Verlag

Kazuo Ishiguro (kurze Biografie / Bibliografie)
Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten

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