Gerhart Hauptmann : Bahnwärter Thiel

Bahnwärter Thiel
Bahnwärter Thiel Manuskript: 1887 Erstveröffentlichung 1888 in der Zeitschrift "Die Gesellschaft"
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Thiel arbeitet seit zehn Jahren als Bahnwärter. Obwohl der Bahnübergang nur selten benützt wird, schließt und öffnet er gewissenschaft die Schranken. Vor fünf Jahren nahm er eine schmächtige, kränklich aussehende Frau namens Minna zur Frau, die zwei Jahre später bei der Geburt des ersten Kindes starb. Weil der kleine Tobias nicht ohne Ersatzmutter aufwachsen sollte, heiratete Thiel nach Ablauf des Trauerjahres ein zweites Mal ...
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Kritik

Sprachgewaltige Naturbeschreibungen spiegeln in dieser berühmten Novelle Gerhart Hauptmanns die psychischen Vorgänge. "Bahnwärter Thiel" ist eines der hervorragenden Beispiele naturalistischer Literatur.
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Thiel arbeitet seit zehn Jahren bei Neu-Zittau in der märkischen Heide als Bahnwärter. Obwohl der Bahnübergang nur selten benützt wird, schließt und öffnet er gewissenschaft die Schranken.

Wieder meldet die Glocke einen nahenden Zug.

Ein dunkler Punkt am Horizonte, da, wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war.
Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte — ein starker Luftdruck — eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heil’ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen.

Thiel wohnt zusammen mit zwanzig Fischern und Waldarbeitern sowie deren Familienangehörigen in dem Dorf Schön-Schornstein an der Spree. Vor fünf Jahren nahm er eine schmächtige, kränklich aussehende Frau namens Minna zur Frau, die zwei Jahre später bei der Geburt des ersten Kindes starb. Weil der kleine Tobias nicht ohne Ersatzmutter aufwachsen sollte, heiratete Thiel nach Ablauf des Trauerjahres ein zweites Mal, diesmal die robuste Kuhmagd Lene, die nach zwei Ehejahren ebenfalls von einem Sohn entbunden wurde.

Längst hat Thiel sich daran gewöhnt, dass seine streitsüchtige Frau an allem etwas auszusetzen hat und ihn herumkommandiert. Es schmerzt ihn nur, mit ansehen zu müssen, wie sie ihren Stiefsohn Tobias misshandelt und so vernachlässigt, dass er in seiner Entwicklung zurückbleibt. Dabei liebt er Tobias über alles, weil ihm sonst nichts von Minna geblieben ist. Aber er ist zu schwach, um sich zu wehren, und obwohl er leidet, muss er immer wieder Lenes kräftige Brüste und breite Hüften anstarren, und dann überkommt ihn das Verlangen nach ihr.

Das einsame Wärterhäuschen bildet seine Zuflucht. Hier kann er ungestört seinen Erinnerungen an die Verstorbene nachhängen. Doch als der Pachtvertrag für den Kartoffelacker, um den Lene sich zu kümmern hat, gekündigt wird und Thiel in der Nähe seines Arbeitsplatzes Ersatz bekommt, kann er nicht mehr verhindern, dass Lene auch dorthin vordringt.

Eines Tages begleitet sie ihn mit den beiden Kindern. Am Vormittag darf Tobias seinen Vater auf einem Streckengang begleiten. Lene gräbt das vom Unkraut überwucherte Stück Land um und stillt zwischendurch den Kleinen. Nach dem Mittagessen im Wärterhäuschen geht sie wieder zu dem Acker, um Kartoffeln zu stecken, und diesmal nimmt sie auch Tobias mit, der sich um seinen kleinen Stiefbruder kümmern soll. „Pass auf, dass er den Geleisen nicht zu nahe kommt“, ruft Thiel ihr nach.

Der schlesische Schnellzug rast heran. Thiel schließt ordnungsgemäß die Schranken. Mehrmals ertönt das Notsignal. Der Zug bremst. Warum? Da sieht Thiel, wie etwas unter den Zug gerät und zwischen den Rädern hin und her geschleudert wird. Der Zug steht. Thiel muss auf seinem Posten bleiben, während die plötzlich kleinlaut gewordene Lene den schwerverletzten Tobias mit einem Mann vom Zugpersonal zum Bahnarzt bringt. (Ob Tobias absichtlich oder aus Versehen vor den Zug lief, erfahren wir nicht.)

Das Warten wird für Thiel zur Qual. Plötzlich hört er das Geschrei eines Säuglings aus dem nahen Birkenwäldchen. Den hat er ganz vergessen! Er läuft hin.

Ein roter Nebel umwölkte seine Sinne, zwei Kinderaugen durchdrangen ihn; er fühlte etwas Weiches, Fleischiges zwischen seinen Fingern. Gurgelnde und pfeifende Laute, untermischt mit heiseren Ausrufen, von denen er nicht wusste, wer sie ausstieß, trafen sein Ohr.
Da fiel etwas in sein Hirn wie Tropfen heißen Siegellacks, und es hob sich wie eine Starre von seinem Geist. Zum Bewusstsein kommend, hörte er den Nachhall der Meldeglocke durch die Luft zittern.
Mit eins begriff er, was er hatte tun wollen: seine Hand löste sich von der Kehle des Kindes, welches sich unter seinem Griffe wand. Es rang nach Luft, dann begann es zu husten und zu schreien.

Mit dem Kieszug bringen sie Tobias‘ Leiche. Der Arzt hat nichts mehr tun können. Thiel bricht zusammen. Zwei Arbeiter aus dem Zug tragen ihn auf einer Bahre nach Hause; Lene folgt mit dem Säugling im Kinderwagen. Als die Männer Stunden später mit der zunächst im Wärterhäuschen zurückgelassenen Kinderleiche zu Thiels Haus kommen, wundern sie sich über die weit offen stehende Haustür. Sie rufen, aber niemand antwortet. Lene finden sie mit zertrümmertem Schädel vor, und in der Wiege liegt der Säugling mit durchschnittener Kehle.

Thiel wird erst am nächsten Morgen entdeckt: An der Unglücksstelle sitzt er mit Tobias‘ Pudelmützchen zwischen den Schienen und kann nur mit Gewalt fortgezogen werden. Mit gefesselten Händen und Füßen bringt man ihn zuerst ins Berliner Untersuchungsgefängnis und von dort in die Irrenabteilung der Charité.

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Der gutmütige, anständige und pflichtbewusste Bahnwärter Thiel findet sich den Verhältnissen, die er durch seine zweite Eheschließung (und die unbedachte Annahme des kleinen Ackers neben dem Bahnwärterhäuschen) selbst geschaffen hat, nicht mehr zurecht. Aber statt sich dagegen aufzulehnen und sein Leben neu zu ordnen, unterwirft er sich resigniert dem Willen seiner Frau und seinen eigenen Trieben. Die Ereignisse werfen ihn aus der Bahn. Seine aufgestaute Wut entlädt sich am Ende in einem bestialischen Doppelmord.

Sprachgewaltige Naturbeschreibungen spiegeln in dieser berühmten Novelle Gerhart Hauptmanns die psychischen Vorgänge. „Bahnwärter Thiel“ ist eines der hervorragenden Beispiele naturalistischer Literatur.

Gerhart Hauptmann erhielt 1912 den Nobelpreis für Literatur.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Ullstein Verlag

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