Robert Harris : München

München
Originalausgabe: Munich Hutchinson, London 2017 München Übersetzung: Wolfgang Müller Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ISBN: 978-3-453-27143-2, 430 Seiten ISBN: 978-3-641-21372-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während Hitler auf einen Krieg gegen die Tschechoslowakei hinarbeitet, glaubt der britische Premierminister Neville Chamberlain, den Frieden durch Gespräche bewahren zu können. Auf sein Betreiben überredet Mussolini den deutschen Amts­kollegen in letzter Minute zu Verhandlungen. Das Münchner Abkommen entzieht jedoch den Plänen einer Widerstandsgruppe für einen Staatsstreich Ende September 1938 den Boden ...
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Kritik

"München" kann man als Politthriller und historischen Roman lesen. Robert Harris stellt die Ereignisse aus den Perspektiven von zwei fiktiven Zeugen dar. Beim Lesen ist es, als ob man dabei wäre. Das ist lebendige, farbige Zeitgeschichte.
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27. September 1938: Putschpläne in Berlin

Paul von Hartmann, ein junger Beamter des Auswärtigen Amtes in Berlin, nimmt am 27. September 1938 an einem konspirativen Treffen im Privathaus des Generals Ludwig Beck teil – ebenso wie Oberstleutnant Hans Oster, der zweite Mann der Abwehr, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der Polizeivizepräsident von Berlin, die Regierungsräte Hans Bernd Gisevius und Hans von Dohnanyi, Erich Kordt, der Leiter des Ministerbüros im Reichsaußenministerium, und Hauptmann Friedrich Wilhelm Heinz. Die Verschwörer planen einen Staatsstreich [Wider­stand], um den von Hitler angestrebten Krieg zu verhindern, denn die Wehrmacht wäre noch nicht in der Lage, an zwei Fronten zugleich erfolgreich zu kämpfen. Für den Fall eines deutschen Angriffs gegen die Tschechoslowakei müsste jedoch mit einem militärischen Eingreifen Frankreichs und Großbritanniens an der Westfront gerechnet werden.

Ludwig Beck, der am 18. August 1938 aus Protest gegen Hitlers Kriegstreiberei in der Sudetenkrise als Generalstabschef zurücktrat, meint:

„Auf dem Gebiet der Außenpolitik hat er Bemerkenswertes erreicht, zugegeben – die Rückkehr des Rheinlands, die Eingliederung Österreichs. Aber das waren alles Siege ohne Blutvergießen. Und auch die Rückkehr des Sudetenlands könnte ohne Blutvergießen bewerkstelligt werden. Leider ist er nicht mehr daran interessiert, seine Ziele auf friedlichem Weg zu erreichen. Die Wahrheit über Hitler ist, und das habe ich im Laufe des Sommers begriffen, dass er den Krieg mit der Tschechoslowakei unter allen Umständen will.“

Rasch einigen sich die Männer darauf, am folgenden Tag zuzuschlagen. Länger dauert die Diskussion darüber, was mit Hitler zu geschehen habe. Müsste er sich vor Gericht verantworten, würde er das wie nach dem Marsch auf die Feldherrnhalle als Bühne nutzen. Ihn ohne Verfahren zu exekutieren, stößt ebenfalls auf Widerspruch, nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern vor allem auch, weil man ihn damit zum Märtyrer machen würde. Für die beste Lösung halten es die Verschwörer, wenn Hitler bei dem Putsch ums Leben käme.

Paul von Hartmann und Hugh Legat

Nach der Besprechung besucht Paul von Hartmann seine Geliebte, die Witwe des gefallenen Hauptmanns Winter, und verbringt die Nacht mit ihr. Frau Winter ist eine der drei Sekretärinnen im Vorzimmer des Staatssekretärs Ernst Heinrich Freiherr von Weizsäcker im Auswärtigen Amt. Am Morgen übergibt sie Paul von Hartmann die Mitschrift einer Erklärung Hitlers vom 30. Mai, die mit folgendem Satz beginnt:

„Es ist mein unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“

Paul von Hartmann spielt eine Kopie davon sofort über Erich Kordts älteren Bruder Theo, den Geschäftsträger der deutschen Botschaft in London, seinem früheren Freund Hugh Alexander Legat zu.

Sie studierten zusammen von 1930 bis 1932 am Balliol-College der Universität Oxford Sprachen, Geschichte und Philosophie. Ihren Abschluss feierten sie im Sommer 1932 in München mit Paul von Hartmanns Freundin Lena. Seither hatten sie keinen Kontakt mehr.

Hugh Legat lebt mit seiner Ehefrau Pamela und den beiden drei- bzw. zweijährigen Kindern John und Diana in London. Im Frühsommer 1938 wurde er vom Außenministerium zum Amtssitz des Premierministers Neville Chamberlain versetzt. Dort untersteht er Osmund („Oscar“) Somers Cleverly, dem Ersten Privatsekretär des Regierungschefs.

Das Münchner Abkommen

Am 28. September 1938 erfahren die Verschwörer, dass Hitler von Benito Mussolini auf Betreiben Neville Chamberlains zu einem Treffen in München am nächsten Tag überredet wurde. Dabei wollen die Regierungschefs von Italien, Großbritannien und Frankreich ihren deutschen Amtskollegen für eine Verhandlungslösung in der Sudetenkrise gewinnen.

Das würde allerdings dem geplanten Staatsstreich die Grundlage entziehen. Um ein Münchner Abkommen zu vereiteln und Neville Chamberlain von seiner Appeasement-Politik abzubringen, will ihn Paul von Hartmann mit einem Dokument konfrontieren, das Hitlers wahre Absichten enthüllt. Der Mitverschwörer Erich Kordt sorgt durch ein Gespräch mit Staatssekretär von Weizsäcker dafür, dass Paul von Hartmann als Assistent Dr. Paul Schmidts, des Chefdolmetschers im Außenministerium, für die Konferenz in München akkreditiert wird.

Während Paul von Hartmann zu Hitlers Entourage im „Führerzug“ gehört, fliegt Hugh Legat in einer der beiden Maschinen mit, die Neville Chamberlain und seine Delegation am 29. September vormittags in einem dreistündigen Flug vom Heston Aerodrome westlich von London zum Flughafen Oberwiesenfeld im Norden Münchens bringen.

William Strang, der den Premierminister auch schon nach Berchtesgaden und Bad Godesberg begleitete, meint:

„Es ist durchaus möglich, dass unser Ausflug in einem Fiasko endet. Wir haben keine abgesprochene Tagesordnung. Es gab keinerlei Vorarbeiten. Es gibt keine offiziellen Dokumente. Wenn die Sache schiefgeht und Hitler doch in die Tschechoslowakei einmarschiert, dann könnte sich die groteske Lage ergeben, dass die Regierungschefs Englands und Frankreichs bei Kriegsausbruch auf deutschem Boden festsitzen.“

Die britische Delegation, zu der auch Nevile Henderson, der britische Botschafter in Berlin, und sein Kanzleichef Ivone Kirkpatrick stoßen, wird im Regina-Palast-Hotel in München untergebracht. Édouard Daladier und seine Begleiter logieren im Hotel Vier Jahreszeiten, und Benito Mussolini, den Hitler mit dem Sonderzug in Kufstein abgeholt hat, bezieht im Prinz-Carl-Palais Quartier. Für die Verhandlungen treffen sich die Regierungschefs und ihre Berater im Führerbau.

Hitler eröffnet die Konferenz.

Den Anfang machte ein Vortrag Hitlers, dessen Kernpunkte folgende waren: erstens, die Tschechoslowakei ist eine Bedrohung für den Frieden in ganz Europa; zweitens, in den letzten Tagen sind eine Viertelmillion Menschen aus dem Sudetenland nach Deutschland geflohen; drittens, die Lage ist kritisch, und das Problem muss bis Samstag gelöst werden. Entweder England, Frankreich und Italien garantieren, dass die Tschechen an diesem Tag mit der Evakuierung des in Rede stehenden Territoriums beginnen, oder er marschiert ein und besetzt es.

Hugh Legat wird im Hotel von Dr. Hubert Masarik um Hilfe gebeten. Der Kanzleichef des tschechoslowakischen Außenministers kam vor einer Stunde mit dem Gesandten Dr. Vojtech Mastny aus Prag, um an der Münchner Konferenz teilzunehmen. Aber sie wurden am Flughafen von der Gestapo empfangen und statt zum Führerbau ins Hotel gebracht. Obwohl es um ihr Land geht, dürfen sie nicht mitreden.

Als Hugh Legat zum Führerbau geht, um sich für die Tschechoslowaken einzusetzen, begegnet er dort Paul von Hartmann. Der erhofft sich von ihm einen Zugang zum britischen Premierminister, aber dafür sieht der Engländer keine Möglichkeit. Paul von Hartmann übergibt ihm die Kopie des von Oberst Friedrich Hoßbach anhand von Notizen nachträglich angefertigten Protokolls einer streng geheimen Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937, in der Hitler erklärte, dass er einen Eroberungskrieg vorbereite, um den Lebensraum des deutschen Volkes zu erweitern.

Paul von Hartmann glaubt, dass die Unterschrift unter ein Abkommen verhindert werden kann, wenn es gelingt, dem britischen Regierungschef die Augen über Hitlers kriegerische Absichten zu öffnen. Dann wäre auch der Staatsstreich noch immer denkbar.

Nachdem Hugh Legat das Papier gelesen hat, bringt er es Neville Chamberlain und erreicht, dass dieser den Deutschen trotz des unüblichen Vorgehens empfängt. Paul von Hartmann trägt sein Anliegen vor:

„Das Schriftstück in Ihren Händen ist der eindeutige Beweis, dass Hitlers Behauptung, keine weiteren territorialen Forderungen in Europa zu haben, eine glatte Lüge ist. Im Gegenteil: Er plant einen Eroberungskrieg […]. Ich überbringe Ihnen diese Nachricht in gutem Glauben und unter großer persönlicher Gefahr, weil ich Sie dringend ersuchen möchte, das Abkommen heute Abend nicht zu unterzeichnen. Damit würde Hitlers Stellung in Deutschland unangreifbar. Wenn aber England und Frankreich standhaft blieben, da bin ich mir sicher, würde das Heer gegen ihn vorgehen, um einen verhängnisvollen Krieg zu verhindern.“

Chamberlain geht nicht weiter darauf ein und rät Hugh Legat, das Dokument verschwinden zu lassen.

Um 1.30 Uhr in der Nacht auf den 30. September unterzeichnen Chamberlain, Daladier, Hitler und Mussolini das „Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, getroffen in München am 29. September 1938“.

Lena

Hugh Legat wird um halb vier Uhr morgens von seinem früheren Freund aus dem Schlaf gerissen. Sie fahren zu Lena.

Hugh erinnert sich, wie sie im Sommer 1932 nach einem Picknick auf dem Königsplatz zu dritt zum Prinzregentenplatz gingen, wo Hitler seit Oktober 1929 wohnt. Am 18. September 1931 hatte sich seine 22-jährige Nichte Geli Raubal in einem der Räume erschossen. Als Hitler auf die Straße kam und zu einem bereitstehenden Wagen ging, rief Lena laut: „Nichtenficker!“ Dann rannten sie und ihre beiden Begleiter davon. An diesem Abend betrogen Lena und Hugh ihren Freund Paul. Am nächsten Morgen reiste Hugh ab.

Nun erfährt er, dass Paul und Lena sich damals trennten. Die jüdische Kommunistin Lena war 1935 einige Zeit im Frauen-KZ Moringen, machte aber nach der Freilassung im Untergrund weiter und wurde erneut festgenommen. Bei den Verhören erlitt sie einen Gehirnschaden. Paul trägt die Kosten für das Pflegeheim, in dem sie lebt.

Er bringt Hugh zu ihr, um ihm zu zeigen, wozu die Nationalsozialisten fähig sind.

30. September 1938: In Hitlers Privatwohnung

Als Hugh Legat nach einer fast schlaflosen Nacht im Hotel die Dusche abdreht und zum Handtuch greift, hört er Geräusche im Zimmer. Als er nachsieht, rennt ein Mann davon. Der Kleiderschrank steht offen. Sein Koffer liegt umgestülpt auf dem Bett. Die Kopie der Hoßbach-Niederschrift ist fort! Offenbar hat die Gestapo danach gesucht. Ist Paul in Gefahr?

Um 11 Uhr ist Neville Chamberlain mit Hitler in dessen Privatwohnung am Prinzregentenplatz verabredet. Der Premierminister hat eine Erklärung vorbereitet, mit der er Hitler darauf festnageln möchte, nach Klärung der Sudetenfrage durch das Münchner Abkommen für einen dauerhaften Frieden zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien einzutreten. Er weiß allerdings, dass das Papier rechtlich nicht bindend ist, also nur symbolische Bedeutung hat. Als Dolmetscher ist Dr. Paul Schmidt vorgesehen, aber Hugh Legat erreicht, dass Neville Chamberlain ihn ebenfalls mitnimmt.

Sie treffen Paul von Hartmann in der Wohnung an. Er wartet auf Hitler, um ihm nach dessen Termin mit dem britischen Premierminister den internationalen Pressespiegel vorzulegen. Hugh Legat wirft ihm einen warnenden Blick zu. Paul von Hartmann rechnet ohnehin jeden Augenblick mit seiner Verhaftung, denn er hat erfahren, dass seine Geliebte, von der er die geheimen Dokumente bekam, in der Nacht von der Gestapo abgeholt wurde.

Widerwillig unterschreibt Hitler die beiden Exemplare der gemeinsamen Erklärung, die ihm Chamberlain vorlegt.

Erst als Hugh Legat wieder in London ist, erfährt er, dass Joan, eine der Sekretärinnen in 10 Downing Street, die Kopie der Hoßbach-Niederschrift am Abend des 29. September unbemerkt aus seinem Hotelzimmer holte, weil sie eine Durchsuchung befürchtete. Deshalb fand die Gestapo am nächsten Morgen nichts mehr. Paul von Hartmann kam mit dem Schrecken davon. und inzwischen ist auch dessen Geliebte wieder frei.

Hugh Legat ist sich trotz allem sicher, dass Hitler einen Krieg anfangen wird.

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Die Handlung des Romans „München“ spielt vom 27. bis 30. September in London, Berlin und München. Man kann das Buch als Politthriller, aber auch als historischen Roman lesen. Im Mittelpunkt steht das Zustandekommen des Münchner Abkommens. Robert Harris verknüpft die Tatsachen mit einer fiktiven Geschichte, deren Hauptfiguren ein englischer und ein deutscher Diplomat sind. Hugh Legat und Paul von Hartmann beobachten das Geschehen in München, und Robert Harris stellt es abwechselnd aus den Blickwinkeln der beiden (erdachten) Zeugen dar.

Ein Dilemma steht im Zentrum: Während der britische Regierungschef Neville Chamberlain glaubt, durch Verhandlungen und Abkommen den Frieden bewahren zu können, bereitet Hitler unbeirrbar einen Krieg vor. Eine Widerstandsgruppe hofft paradoxerweise auf den militärischen Angriff, denn die Männer sind überzeugt, dass sie die dadurch entstehenden Besorgnisse vor allem in der Wehrmacht für einen erfolgreichen Staatsstreich nutzen könnten. Chamberlains Appeasement-Politik und das Münchner Abkommen vereiteln die Putsch-Pläne.

Robert Harris hat sehr viel recherchiert und beschreibt beispielsweise den Königsplatz in München ebenso wie einige Gebäude und Innenräume mit viel Liebe zum Detail. In diesen Kulissen erleben wir bei der Lektüre die Ereignisse, als wären wir dabei. Das ist lebendige, farbige Zeitgeschichte.

Den Roman „München“ von Robert Harris gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Frank Arnold (ISBN 978-3-8371-3937-2).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Wilhelm Heyne Verlag

Das Münchner Abkommen
Widerstand gegen den Nationalsozialismus

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