James Hamilton-Paterson : Nachtblüte

Nachtblüte
Originalausgabe: Griefwork Jonathan Cape, London 1993 Nachtblüte Übersetzung: Ebba D. Drolshagen Insel Verlag, Frankfurt/M 2002 ISBN: 3-458-17126-6, 294 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als 15-Jähriger verliebte sich Leon 1928 in ein unerreichbares asiatisches Mädchen. Weil er Cou Min weder haben noch vergessen konnte, zog er sich schließlich in das Palmenhaus des Botanischen Gartens zurück, wo es der Autodidakt und Außenseiter aufgrund seiner besonderen Nähe zu den Pflanzen 1938 zum Kurator brachte. Seinen Schlafplatz im Kesselhaus teilte er vom letzten Kriegsjahr an mit einem von Rassisten entmannten Zigeunerjungen, dem er das Leben gerettet hatte ...
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Kritik

Der skurrile Roman "Nachtblüte" wirkt v. a. durch die Sprache, die James Hamilton-Paterson so kultiviert und präsentiert, wie der Protagonist die exotischen, wärmebedürftigen Pflanzen im Palmenhaus.
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Leon war fünf Jahre alt, als seine lebenslustige Mutter Christina bei einem Unfall ums Leben kam: Sie stand unter den Schaulustigen vor dem Leuchtturm nahe des Heimatdorfes, dessen Linsen ausgewechselt wurden. Eine der Rhombenscheiben löste sich aus ihrer Fassung, traf Christina im Nacken und tötete sie auf der Stelle.

Danach kam Leon zu seinem Vormund, einem Onkel, der sein Geld als Fischer verdiente. Mit zehn durfte der Junge zum Unterricht in der Dorfschule, allerdings nur, wenn er vorher alle Fische ausgenommen und aufgespießt hatte.

Schon als Kind litt Leon unter heftigen Hustenanfällen. Dreimal musste er deshalb zwischen dem achten und vierzehnten Lebensjahr in das fünfzehn Kilometer entfernte Landeskrankenhaus.

Mit fünfzehn verliebte Leon sich in die Tochter eines asiatischen Dienstmädchens, das mit dem holländischen Fischereiexperten Dr. Koog und dessen Ehefrau gekommen war. Dr. Koog wollte ein paar Wochen lang Fische beobachten, um Vorschläge für verbesserte Fangmethoden machen zu können. – In der Hoffnung, die Angebetete hin und wieder aus der Nähe sehen zu können, ließ Leon sich von Dr. Koog als Gehilfe anstellen. Das veränderte sein Leben. Dr. Koog nahm den wissbegierigen Jungen im Boot mit und eröffnete ihm mit seinen Erläuterungen eine neue Welt. Beeindruckt zeigte sich der Meeresbiologe, als Leon ihm erzählte, er halte hin und wieder seinen Kopf unter Wasser und höre den Fischen zu.

Das Mädchen hieß Cou Min, war halb Chinesin und halb Inderin. Während eines Asienaufenthaltes des Ehepaars Koog hatte Cou Mins Mutter die während der Schwangerschaft an Malaria erkrankte Mrs Koog gepflegt und war ihr dann auch nach der Totgeburt beigestanden. Als die Koogs nach Europa zurückkehrten, nahmen sie die Witwe und deren Tochter mit. Zu Leons Leidwesen konnte er sich aufgrund von Sprachschwierigkeiten nicht mit Cou Min verständigen, aber der Außenseiter glaubte an eine Geistesverwandtschaft mit dem Mädchen, das fern von zu Hause in einer fremden Kultur lebte. Bevor sie mit ihrer Mutter nach Asien zurückkehrte, lernte sie eigens einen Satz in Leons Sprache, weil sie offenbar gemerkt hatte, was sie für ihn bedeutete: „Ich gehe vielleicht fort.“ – Von Dr. Koog erfuhr Leon, dass Cou Min als Neunjährige mit einem wohlhabenden Chinesen in Batavia verlobt worden war, den sie nun heiraten sollte.

Im Jahr darauf bewarb Leon sich im Botanischen Garten der Königlich Botanischen Gesellschaft in der Hauptstadt des nordeuropäischen Landes und hatte Glück, denn gerade war ein Gehilfe entlassen worden, der zwei Zentner Spalierkrampen aus Blei gestohlen hatte. Leons Onkel, dem die kostenlose Hilfskraft fehlte, ertrank kurz darauf während eines Gewitters in der Nordsee.

Zunächst verrichtete Leon Instandhaltungsarbeiten. Dabei fiel auf, dass er mit den Pflanzen redete. Obwohl er keine formelle Bildung erhalten hatte, brachte er sich alle Pflanzennamen bei, auch die lateinischen, und man hielt ihn schließlich für eine Art Kräuterkundigen.

Weil er Cou Min nicht bekommen, aber auch nicht vergessen konnte, wollte er lieber gar keine Frau als eine andere. Den Botanischen Garten verließ er kaum noch.

Einmal ließ er sich allerdings von der zehn Jahre älteren Ehefrau des Besitzers des größten und ältesten Kaufhauses der Stadt verführen: Greta besuchte ihn nachts im Botanischen Garten, wollte nackt mit einem Vogelnetz auf einem Torfballen festgezurrt und von ihm a tergo genommen werden. Als sie einige Abende später erneut zu ihm kam, erregte ihn das Spiel nicht mehr, und beim dritten Mal fand er es albern.

1938 erlag der Kurator des Palmenhauses einem Schlaganfall. Daraufhin ernannte Dr. Claud Anselmus, der Direktor des Botanischen Gartens, Leon zum Nachfolger. Der neue Kurator schickte sich sogleich an, die Präsentation der Pflanzen zu verbessern, legte Tümpel an, in denen er Sumpfschildkröten ansiedelte und dehnte die Öffnungszeiten nach Einbruch der Dunkelheit aus, damit die Besucher den Duft von Nachtblüten bestaunen konnten.

Für ihn war das Palmenhaus mehr als ein Laboratorium oder eine Außenstelle der Universität. Es repräsentierte eine eigene, geheimnisvolle Welt voller Wunder, die man in einem kalten nördlichen Land sonst niemals sehen würde. (Seite 115)

Leon brachte seine Matratze ins Kesselhaus. Obwohl das Palmenhaus scheinbar nutzlos, zumindest nicht lebensnotwendig war, bekam Leon während des Krieges weiter Heizmaterial, auch wenn die Qualität von Jahr zu Jahr abnahm: Steinkohle, Braunkohle, Torf, getrocknete Rübenschnitzel. Als es im letzten Kriegswinter nichts mehr gab, ließ Leon die im Botanischen Garten stehenden Bäume schneiden und daraus Brennholz machen. Auf diese Weise brachte er die empfindlichen, wärmebedürftigen Pflanzen gut durch den Krieg.

Was außerhalb des Botanischen Gartens geschah, interessierte ihn nicht. Nur einmal, kurz vor Kriegsende, schritt er ein, als er Schreie hörte: Eine Horde von Rassisten war dabei, einen Zigeunerjungen zu lynchen. Das Gemächt hatten sie ihm bereits abgeschnitten. Unerschrocken trieb Leon die Männer in die Flucht und holte den Verletzten ins Kesselhaus. Eine Möglichkeit, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, bestand nicht, denn das das Universitätsklinikum hatten die Deutschen für ihre verwundeten Soldaten requiriert, das andere Krankenhaus war ausgebombt, und außerdem bestand eine Ausgangssperre.

Weil der Junge, dessen Alter Leon auf zwischen siebzehn und einundzwanzig schätzte, kein Wort sagte, gab er ihm den Namen Felix. Auch als Felix nach drei, vier Wochen wieder aufstehen konnte, versteckte Leon ihn weiter im Kesselhaus. Und er fing an, den Verstümmelten zu missbrauchen.

Im ersten Winter nach dem Krieg kam Abend für Abend eine illustre Gesellschaft aus Diplomaten und Honoratioren im Palmenhaus zusammen, denn es handelte sich um einen der wenigen beheizten Räume in der Stadt. Leon, inzwischen dreiunddreißig Jahre alt, erfuhr von Intrigen, Skandalen, Amouren, Korruption und Schwarzmarkt-Geschäften.

Unter den regelmäßigen Besuchern war eine junge Prinzessin aus Asien: Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Imluk. Hin und wieder kam sie auch tagsüber und ließ sich von Leon nicht nur über Pflanzen, sondern auch über die Konstruktion von Gewächshäusern belehren. Ihr Land sei in den letzten fünf Jahren zuerst von den Japanern und dann von den Alliierten „befreit“ worden, erzählte sie ihm, ohne dass jemand gefragt hätte, was die Bevölkerung darüber dachte. Sie hielt ihn für einen starken, innerlich freien Mann, denn sie beobachtete mehrmals, wie er einem Diplomaten, der verbotenerweise im Palmenhaus rauchte, die Zigarette abnahm und in ein mit Wasser gefülltes Glas warf. Er mache das vor allem, erklärte er ihr, weil sich der Sud gut als Pflanzenschutzmittel eignete.

Als ihm die Prinzessin andeutete, es könne Veränderungen in seinem Leben geben, erschrak Leon: Er wollte keine Veränderung, und es beunruhigte ihn, als er Gerüchte hörte, der Botanische Garten solle aufs Land verlegt werden, damit das wertvolle Grundstück mitten in der Stadt bebaut werden könne.

Aber Leon wollte keinen anderen Garten, er wollte diesen. Er wollte auch kein neueres und verbessertes Palmenhaus. Als er es, kaum mehr als ein Junge, zum ersten Mal betrat, hatte er augenblicklich erkannt, dass es perfekt gestimmt war. (Seite 169)

Prinzessin Imluk erzählte Leon schließlich, sie beabsichtige, in ihrem Heimatland ein Gewächshaus errichten zu lassen, allerdings eines, in dem es kühler sein würde als außerhalb. Darin wolle sie Pflanzen züchten, für die es in den Tropen sonst zu heiß wäre. Die Regierung habe dem Projekt bereits zugestimmt, für Material und Arbeitskräfte sei gesorgt. Sie lud Leon ein, die Leitung des Gewächshauses zu übernehmen und versprach ihm, er könne frei über alles entscheiden und sein Gehalt innerhalb vernünftiger Grenzen selbst festlegen. Bevor Leon etwas erwidern konnte, verschwand sie, weil Felix überraschend in der Tür auftauchte.

„Etwas geschieht mit mir“, wunderte Leon sich im Gespräch mit den Pflanzen.

Eines Nachts griff Felix ihn im Palmenhaus an. Der Junge war nackt, und Leon zog sich ebenfalls aus. Es gelang Felix, dem Kurator einige Büschel Haare abzuschneiden, aber am Ende konnte Leon ihn überwältigen, weil Felix in seiner Unerfahrenheit in ein dorniges Gebüsch von Acacia farnesiana geraten war.

Leon blieb nichts anderes übrig, als zum Friseur zu gehen und sich die restlichen Haare kurz schneiden zu lassen. Danach sah er wie ein KZ-Häftling aus, und alle wunderten sich darüber, auch Claud Anselmus, als Leon ihn aufsuchte, um ihm die Verwüstung mehrerer Pflanzen zu melden. Leon fragte, was es mit den Gerüchten über eine Verlegung des Botanischen Gartens auf sich habe. Der Direktor beschwichtigte ihn: Das würde man doch nie planen, ohne sich vorher mit dem unersetzlichen Kurator des Palmenhauses beraten zu haben. Leon argwöhnte, dass Anselmus log und ihm das Angebot der Prinzessin, von dem er offenbar wusste, zupass kam, weil er hoffte, auf diese Weise einen lästigen Gegner der Verlegung loszuwerden.

Am Abend brachte ein Diplomat Leon eine Nachricht von Prinzessin Imluk und berichtete den Umstehenden, einer ihrer Onkel habe mit Hilfe des Militärs geputscht, die Mitglieder der königlichen Familie unter Arrest stellen lassen und veranlasst, dass sie gezwungen wurde, sofort nach Hause zurückzufliegen. Dort müsse sie aufgrund des Umsturzes mit ihrer Inhaftierung oder sogar Erschießung rechnen. – In dem Billet verabschiedete sich Prinzessin Imluk von Leon und bedauerte, ihr Projekt nicht verwirklichen zu können.

Am anderen Morgen, als Leon fiebernd erwachte, vermisste er Felix neben sich. Er konsultierte einen mit Claud Anselmus befreundeten Arzt, der ihm nach der Untersuchung dringend riet, sich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen.

Leon kehrte jedoch stattdessen ins Palmenhaus zurück. Dort stellte er fest, dass die Temperatur nur noch 11 Grad betrug und die Heizkessel ausgefallen waren. Auf der Galerie turnte Felix herum und zertrümmerte mit einem großen Hammer die Scheiben. Einer der herabprasselnden Glassplitter durchbohrte Leon und nagelte ihn am Boden fest. Zur Verwunderung des Sterbenden begann Felix zu sprechen:

„Genug! Schluss und fertig! Das ist nicht normal! Nur weil (Klirren) heißt das nicht, dass ich kein Mann bin, du Bastard […] Deine Belohnung dafür, dass du ein Held warst, stimmt’s? Kannst damit machen, was du willst? (Klirren) für (Klirren) für jede verdammte Nacht […] Gibt dir das Recht, mich wie einen Idioten zu behandeln, was? Kein Schwanz, (Klirren) keine Eier, (Klirren) keine Stimme? Etwa so, Herr Meistergärtner? Machst einfach, was du willst, mit dieser armen Zigeunerkanaille?“ (Seite 285)

Während einige Männer gelaufen kommen, um nach dem Kurator zu sehen, spricht eine Tamarinde:

„Ich habe nie gewusst, woher ich komme, und nun werde ich es nie wissen, aber sagen wir, ich kann in meinen Wurzeln spüren […], dass auch ich für einen anderen Ort, ein anderes Land, ja ein anderes Universum bestimmt war. Sie können meine Überreste von einem Kunsthaus ins nächste verfrachten, aber für sie produziere ich nicht einen einzigen grünen Trieb. Niemals. Wir waren immer Betrogene, und ich wünschte, ich hätte mehr auf das geachtet, was meine Wurzeln mir sagten. Ich muss allerdings gestehen, dass der große Betrüger sogar jetzt noch ein wenig Grün aus mir herausschmeicheln könnte, wenn er nicht selbst jenseits von allem wäre.“ (Seite 290)

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Leon irrt, wenn er glaubt, er und das Palmenhaus, in das er sich zurückgezogen hat, seien „authentisch“. Das kathedralenartige Gewächshaus ist eine den ganzen Roman „Nachtblüte“ bestimmende Metapher. James Hamilton-Paterson erzählt in dem skurrilen Roman von einem traumatisierten Außenseiter, einem autodidaktischen Gärtner („ich habe beobachtet, gesehen, gelernt“ – Seite 273).

„Als Botaniker erkenne ich in den letzten einhundert Jahren ein klares Muster: zunehmende Zerstörung, Plünderung, Mechanisierung […]
Leute werden an immer weiter entfernte Orte reisen, auf der Suche nach der reinen, jungfräulichen Natur, der wirklichsten, der allerauthentischsten, der unzerstörtesten. Aber das werden sie nie finden, weil sie selbst da sind, und wenn sie da sein können, können es alle anderen auch.“ (Seite 241)

Diese Lebensgeschichte ergänzt James Hamilton-Paterson durch zahlreiche Exkurse, etwa über die sinnliche Wahrnehmung und über die Geschichte der Glashäuser. Am Ende eines jeden Kapitels lässt er Pflanzen sprechen und beispielsweise eine Kokospalme sagen:

„Seit der Jahrhundertwende wird ziemlich viel Unsinn geredet über Egalitarismus, jeder Idiot weiß, dass das der Anfang völliger Anarchie ist.“ (Seite 221f)

Wenn auch die Reden der Pflanzen eher befremden, wirkt der Roman „Nachtblüte“ vor allem durch die Sprache, die James Hamilton-Paterson so kultiviert und präsentiert, wie der Protagonist die exotischen, wärmebedürftigen Pflanzen im Palmenhaus.

Wie fette Tropenpflanzen ranken sich die Erinnerungen um sein [Leons] Herz, wild wuchern die Eindrücke und Beobachtungen – auch die Sprache gehorcht in diesem Buch botanischen Gesetzen, und James Hamilton-Paterson ist ihr Gärtner. Aber wo sonst eine Meeresbrise oder der Gestank von Manila durch seine Bücher zieht, da weht es einen hier eher süßlich an, so betörend wie betäubend. Denn das Glashaus, in dem Leons Leben gleichzeitig gedeiht und verdorrt, ist ein recht luftleerer Raum […]
Wie Leon pflegt der Autor seine kostbaren Sätze, seine seltenen Einblicke, seine raren Beobachtungen – weshalb das Buch auch eine gewisse, wenngleich sehr gepflegte, Langeweile ausstrahlt. Bei aller konstruierten Dramatik beschreibt Hamilton-Paterson selbst am besten den leicht sedierenden Eindruck, den die Lektüre hinterläßt: „Gepflegte Menschen schlenderten, sich leise unterhaltend, über den Kies oder standen in Grüppchen beisammen“, heißt es einmal, „ihr Lachen kräuselte mit dem verbotenen Zigarettenrauch langsam hinauf in das Maßwerk der Eisenkonstruktion hoch über ihnen.“ Ein Buch, wie aus der Zeit gerutscht. (Georg Diez, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Januar 2003)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Insel Verlag

James Hamilton-Paterson: JayJay

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