Ulla Hahn : Aufbruch

Aufbruch
Aufbruch Originalausgabe: Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009 ISBN: 978-3-421-04263-7, 587 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 19-jährige Tochter eines Arbeiters macht Abitur und emanzipiert sich von dem Rollenverständnis, in dem die Frau an den Herd gehört. Die ebenso intelligente wie nachdenkliche und feinfühlige junge Frau entwickelt sich aus der Engstirnigkeit ihres Heimatdorfs im Rheinland heraus und stößt damit bei ihren Eltern auf Unverständnis. Das Trauma einer Vergewaltigung droht sie aus der Bahn zu werfen ...
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Kritik

"Aufbruch", der zweite Teil einer Trilogie von Ulla Hahn mit autobiografischen Zügen, ist nicht nur ein bewegender Entwicklungsroman, sondern auch eine detailreiche Milieustudie mit pointierten Szenen.
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Was bisher geschah

Lommer jonn, hatte der Großvater gesagt, lasst uns gehen!, in die Luft gegriffen und sie zwischen den Fingern gerieben. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten?
Wie freudig war ich ihm alle Mal gefolgt, das Weidenkörbchen mit den Hasenbroten in der einen, den Bruder an der anderen Hand. Aus dem kleinen Haus in der Altstraße 2, wo die Großmutter regierte und der liebe Gott, der Vater op de Fabrik ging und die Mutter putzen, zogen wir vorbei an Rathaus, Schinderturm, Kirchberg, durch Rüben-, Kohl- und Porreefelder an den Rhein, ans Wasser. Dorthin, wo keine Großmutter Gott und Teufel beschwor, kein Vater drohte, keine Mutter knurrte, wo ich mich losriss von der Hand des Großvaters und loslief, auf und davon und weit hinein ins Leben, durch Kindergarten und Volksschule, Mittelschule und erste Liebe, eine Lehrstelle auf der Pappenfabrik, die Flucht in den Alkohol und die Erlösung daraus. War Beichtkind, Kommunionkind, Firmling gewesen, hatte mich von Hildegard in Hilla umgetauft, mir das schöne Sprechen beigebracht, das Essen mit Messer und Gabel. (Seite 7)

So beginnt Ulla Hahn ihren Roman „Aufbruch“.

Hillas Großvater ist inzwischen gestorben. Sie wohnt mit ihrem Vater, dem Hilfsarbeiter Josef Palm, ihrer Mutter Maria, ihrem jüngeren Bruder Bertram und ihrer verwitweten Großmutter in einem kleinen Haus in Dondorf zwischen Köln und Düsseldorf.

Nachdem sie ihre Lehre als Industriekaufmannsgehilfin abgebrochen hat, überreden der Pastor und zwei ihrer früheren Lehrer Josef Palm, seine begabte Tochter auf eine weiterführende Schule zu schicken. Die Siebzehnjährige besteht die Aufnahmeprüfung und besucht ab Anfang Januar 1963 das Wilhelm-von-Humboldt-Aufbaugymnasium in Riesdorf. Für die Bewältigung des im ersten Schuljahr vorgesehenen Stoffes stehen ihr nur vier Monate zur Verfügung. Anders als anfangs bei Hilla haben die Eltern nichts dagegen, dass Bertram auf eine höhere Schule wechselt, zumal seine Patentante das Schulgeld fürs Möhlerather Schlossgymnasium übernimmt.

Hilla liest viel und antwortet mit Ja, als sie der Deutschlehrer Dr. Werner Rebmann, der seinen linken Arm im Krieg in Afrika verlor, als Erstes fragt, ob sie „Die Leiden des jungen Werther“ kenne. Deutsch und Latein fallen ihr leicht. In Mathematik hat sie dagegen Schwierigkeiten.

Dass es mir weniger auf den Inhalt, den Stoff eines Buches ankam. Erst recht nicht auf die Spannung einer Handlung. Es waren die Wörter, die Sätze, der Rhythmus, die mich erregten, das lange, langsame Zusammensein mit einem Buch, die Form, die Gestalt der Wörter, ihr Rollen und Rauschen im Ohr, die mich in die sicher gefügte Wirklichkeit einer Geschichte davontrugen. (Seite 82)

In der Buchhandlung Julius Buche in Riesdorf, wo Hilla gebrauchte Bücher und Reclamhefte kauft, wird sie von einem jungen Mann angesprochen, der sich als Godehard van Keuken vorstellt. Er wohne zwar in Köln und studiere dort Geologie, erklärt er, besuche jedoch häufiger seine Großtante in Riesdorf. Von dem aufgeregten Buchhändler erfährt Hilla, dass es sich bei ihrem neuen Bekannten um einen Sohn des erfolgreichen Unternehmers van Keuken handelt.

Godehard lädt Hilla zum Essen ein. Der Chauffeur seines Vaters bringt sie im Rolls Royce zum Restaurant. Der junge Herr bestellt Champagner und eine teure Flasche Rotwein. Als Vorspeise gibt es Nudeln, und der Kellner hobelt etwas von einer Knolle darüber. Großmutters Makkaroni mit Ei schmecken Hilla besser, und erst nach einer Weile begreift sie, dass sie Trüffel isst. Trüffel! Das ist wie in dem Roman „Babettes Gastmahl“ von Tania Blixen. Vor dem Hauptgang wird Zitronen-Sorbet serviert. Eis kannte Hilla bisher nur als Nachspeise.

Bei einer anderen Gelegenheit nimmt Godehard seine neue Freundin mit in eine avantgardistische Kunstausstellung. An der Wand hängen aufgeschlitzte Säcke.

Godehard umklammerte meine Hand. „Diese Wucht! Diese Raserei. Diese Kompromisslosigkeit. Das ist Kunst: keine Kompromisse. Entgrenzung. Kühle Überlegung. Das ist: Zerstörung als Öffnung in den unendlichen Raum.“
„Ist aber doch Durchschnitt!“, sagte ich trocken. „Mitten durch. Meistens jedenfalls. und ins ‚Unendliche‘? Bis gegen die Wand.“
„Hilla!“ Godehard schleuderte meine Hand von sich. „Das ist nicht dein Ernst! Ist das alles, was dir dazu einfällt?“
Entsetzt wie ein Kind, dem man droht, sein Meerschweinchen zu verspeisen, sah er mich an. (Seite 85)

Ein guter Zuhörer ist Godehard nicht; er redet lieber selbst. Nach einiger Zeit lässt Hilla sich von ihm küssen, und er darf ihre Brüste berühren.

Wie Hilla ist auch ihre Mitschülerin Astrid Kowalski „das Kenk vun nem Prolete“. Ihr Vater ist in der IG Metall aktiv, Vertrauensmann in der Fabrik, in der er arbeitet – und Mitglied der Büchergilde Gutenberg. Wo bei den Palms Hummelfiguren stehen, sind bei den Kowalskis Bücher aufgereiht. Aber sein Bier trinkt Kowalski aus der Flasche, auch wenn Hilla zum Essen eingeladen ist.

Arm waren wir beide. Doch unsere Armut, der Mangel der Altstraße 2, wurde anders erfahren und gelebt.
Die Armut der Familie Palm war eine verdrossene, gleichwohl erduldete Armut. Sie wurde hingenommen. Weil sie erträglich war. Da war das eigene Häuschen, auch wenn es weniger Platz bot als die Genossenschaftswohnung der Kowalskis. Da war der Garten, in dem man frei entscheiden konnte, ob man Erbsen oder Möhren oder beides ziehen wollte […] Hier war man sein eigener Herr, und der Vater hatte seinen Schuppen, seine Werkzeuge, die er erfinderisch zu nutzen verstand.
Und dann die Dorfgemeinschaft. Meine Familie zählte zu den Eingesessenen […]
Und das alles gekrönt von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche […] Ein jeder von uns auf einem angestammten, von Seiner Hand angewiesenen Platz. Oben und unten, arm und reich: vorherbestimmt seit Ewigkeit. Gottes Kind sein. Die Kirche gab Halt. Verhinderte ein Abrutschen in die Armut als Verwahrlosung. Aber dieses Gehaltensein spornte nicht an. Es machte demütig, bescheiden. Ermutigte nicht, diesen von Gott in seiner Allmacht zugewiesenen Platz zu verlassen […]
Kowalskis lebten ihre Armut ohne den barmherzigen Schleier der Religion […] Die Armut der Kowalskis war eine strenge, aufrechte, fast aufsässige Armut. Oja, alle Menschen waren gleich – und zwar jetzt und hier. in der Demokratie. Vor dem Gesetz […] Nie hätte Kowalski zu seiner Tochter gesagt: Jlöv jo nit, dat de jet Besseres bes. Sie waren nix Besseres und wollten das auch nicht werden. Sie wollten bleiben, was sie waren, nur bessergehen sollte es ihnen […] Es gab eine Armut mit Häuschen und Garten und Kirche, und es gab die andere mit Büchergilde, Genossenschaftswohnung, Flugblattverteilen und acht Prozent mehr Lohn. (Seite 106f)

Weil Hilla nicht warten möchte, bis sie mit einem Ferienjob am Fließband Geld verdient, lässt sie sich von Werner Rebmann als Nachhilfelehrerin vermitteln. Sie soll Ralf und Alf Wagenstein Orthografie- und Grammatik-Nachhilfestunden geben. Nach dem regulären Unterricht holt ein Chauffeur sie und die beiden Jungen von der Schule ab und bringt sie zum Bungalow von Wilfried Wagenstein, des Direktors der Kaiser AG. Eine Hausdame empfängt Hilla. Sibylle Wagenstein, die Wert darauf legt, mit „Frau Direktor Wagenstein“ angesprochen zu werden, bietet Hilla statt der erhofften 5 nur 3 Mark pro Stunde. Beim gemeinsamen Mittagessen mit Frau Direktor Wagenstein und ihren Söhnen bekommt Hilla nichts von der Suppe und anschließend ein Würstchen statt Kotelett. Am Monatsende stellt sich heraus, dass Frau Direktor Wagenstein ihr von dem kargen Honorar auch noch Geld fürs Essen abgezogen hat. Hilla rächt sich, indem sie Ralf und Alf grammatikalische Ausnahmen als Regeln beibringt – und erhält daraufhin eine schriftliche Kündigung. Sie sei charakterlich nicht als Nachhilfelehrerin geeignet, heißt es darin.

Godehard besteht darauf, Hillas Eltern vorgestellt zu werden. Vor seinem Besuch putzt die Mutter das ganze Haus, zieht den Couchtisch aus und kurbelt ihn hoch.

Godehard sagte: „Nennen Sie mich doch einfach Godehard, liebe gnädige Frau“, ergriff die Hand der Mutter und führte sie an die Lippen, das heißt, das hatte er vor, doch die Mutter entzog ihm die Rechte und versteckte sie hinter dem Rücken wie ein kleines Kind, das nicht das schöne Händchen geben will. (Seite 151f)

Es gibt Kaffee und Kuchen.

„Alles selbst jebacken. Un et Obst aus dem eijenen Jarten.“ (Seite 152)

Unerwartet kommt die neugierige Tante Berta. Es fehlt an Sitzgelegenheiten, und Godehard weicht höflich auf einen Hocker aus.

„Jololojie studieren Se also“, eröffnete die Tante, sich über ein Stück Pfirsich-Sahne hermachend, das Gespräch. „Isch weiß schon, wat mit Steinen. Wat lernt man denn da so?“ (Seite 153)

Der Vater arbeitet die ganze Zeit über im Garten. Erst als Godehard aufbricht und Maria ihn ruft, begrüßt er kurz den Gast.

Draußen hört Hilla, wie Godehard ihr Elternhaus im Selbstgespräch als „Loch“ bezeichnet. Bei der nächsten Verabredung gibt sie ihm den Ring zurück, den er ihr schenkte, und trennt sich von ihm.

Für die Ferien haben alle Mitschülerinnen Reisepläne. Selbst Astrid wird wegfahren, in ein Zeltlager der Gewerkschaftsjugend in Rottenburg. Monika beabsichtigt, einen Sprachkurs in Cornwall zu absolvieren und fordert Hilla auf, mitzukommen. Das Geld, das Hilla bei ihrem Ferienjob verdienen wird, könnte reichen. Allerdings findet der Kurs bereits in der ersten Ferienwoche statt. Hilla hofft deshalb, dass der Vater ihr den erforderlichen Betrag vorstreckt.

„Ich, ich brauch Geld!“
„Jeld? Dat bruche mir all!“ Aus der Kehle des Vaters löste sich ein heiserer Laut, ein Lachen, ein Räuspern?
„Waröm fröjs de dann nit dinge Kääl, dä rische Pinkel?“
„Der ist weg.“
„Ach, nä“, der Vater warf mir einen abschätzigen Blick zu. „Dann bin isch dir jitz widder jut jenuch. Un wofür?“ Der Vater wischte sich die Stirn, seine ölverschmierten Finger zogen Striemen wie von einer Verletzung. Als suche er etwas weit hinter mir im Verborgenen, sah er an mir vorbei.
„Jeld broch isch. Jeld. Un isch will et nur jeliehe han. Du kress et all widder!“, suchte ich Zuflucht in der Sprache meiner Kindheit, der Großvatersprache, der Zeit vor den Büchern […]
„Wat soll dat dann?“ Endlich sah der Vater mich an, richtete seinen Blick auf mich, fasste mich ins Auge, ich fühlte mich gefasst, gestellt, schlug die Augen nieder, konnte diesen Blick, diese Mischung aus Argwohn und Müdigkeit nicht ertragen. „Wie kalls du met mir? Jlövs de, isch künt keen Huhdüksch verstonn?“
Ich kniff die Lippen zusammen. Schon wieder falsch. (Seite 164)

Den Sprachkurs kann Hilla nicht besuchen. In den Ferien fängt sie in der Großenfelder Tubenfabrik zu arbeiten an, muss jedoch nach kurzer Zeit wegen einer Zinkallergie wieder aufhören. Als sie sieht, dass ihr früherer Freund Peter Bender Gräber auf dem Friedhof richtet, drängt sie sich seiner Mutter, der die Gärtnerei gehört, für 1.40 Mark pro Stunde als Hilfskraft auf.

Die Dondorfer Frauen hatten ein neues Thema: Dat Kenk vun dem Rüpplis Maria mät met dem Benders Peter de Jräwer! (Seite 186)

Als Hilla und Peter in einer Pause nebeneinander auf einer Grabumrandung sitzen, taucht Peters Verlobte Annemarie auf. Eifersüchtig sorgt die Tochter aus der Strauberger Gärtnerei dafür, dass Hilla ihren Lohn erhält und nicht länger für Frau Bender arbeiten darf.

Nach den Ferien erzählen die Schülerinnen von ihren Reisen. Hilla schwärmt von einem Jugoslawien-Urlaub, den sie angeblich gewann und behauptet, sie habe dort ihren Traummann kennengelernt, einen Finnen aus Helsinki namens Erkki Huusarii. Als Monika und Astrid ein Foto von ihm sehen möchten, zeigt Hilla ihnen eines von Rudi Kürten, dem Ehemann ihrer Cousine Hanni.

Sie erfährt, dass Godehard ein Forschungssemester in Guatemala absolviert. Es heißt, er überlasse das Familienunternehmen seinem Bruder und ziehe eine Karriere als Wissenschaftler vor. Julius Buche zeigt ihr eine alte Traueranzeige. Das Mädchen auf dem Foto sieht Hilla zum Verwechseln ähnlich. Es handelt sich um die Studentin Annemarie Weidenkötter, Godehards Braut. Sie starb an Leukämie. Da begreift Hilla, dass sie für Godehard nur Ersatz war.

Seit Josef Palm ein Fernsehgerät anschaffte, versammelt sich die ganze Familie um 20 Uhr zur Tagesschau: Prozess gegen Vera Brühne, Tod der Schauspielerin Marilyn Monroe, Peter Fechter verblutet an der Berliner Mauer, Jack Ruby erschießt Lee Harvey Oswald vor laufender Kamera, in Frankfurt am Main beginnen die Auschwitz-Prozesse, Cassius Clay wird Box-Weltmeister im Schwergewicht. Man schaut „Ein Platz für Tiere“ von und mit Bernhard Grzimek, „Was bin ich?“ mit Robert Lemke und den Krimi „Das Halstuch“ von Francis Durbridge („Dörbritsch“). Während es früher „Stell dir dat emal vor!“ hieß, hört man nun immer öfter „Has de dat jesinn?“ (Seite 237)

Der Lateinlehrer Dr. Johannes Sellmer berichtet im Unterricht vom Konzentrationslager Buchenwald. Der Mathematiklehrer, der die nächste Stunde übernimmt, wischt persönlich aus, was an der Tafel steht.

„Dafür haben wir nicht jahrelang draußen geblutet, dass man uns jetzt in der Heimat nach Jahr und Tag hiermit verfolgt. Wir haben genug gelitten. Schluss!“ (Seite 243)

Werner Rebmann fordert die Klasse auf, Material für die Jahresarbeit zu sammeln und zu diesem Zweck Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten über das „Dritte Reich“ zu befragen. So erfährt Hilla, dass ihre Großmutter einen Juden versteckte, den Nationalsozialisten zusammengeschlagen hatten. Ihre Tochter wirft ihr heute noch vor, sie dadurch gefährdet zu haben:

„Die hätt uns all en der Dud schicke künne.“ (Seite 251)

Vor Aufregung braucht Maria ein mit „Klosterfrau Melissengeist“ beträufeltes Stück Würfelzucker.

Beim Schulrektor geht eine anonyme Beschwerde ein:

„Nicht nur ich und meine Frau, auch die gesamte Verwandtschaft, Freunde und Bekannte werden in geradezu inquisitorischer Manier mit Fragen nach unserem Verhalten im Dritten Reich belästigt […] Ich halte das Vorgehen dieses ‚Pädagogen‘ für unverantwortliche Brunnenvergiftung, Aufstachelung zu unerträglicher Schnüffelei und Nestbeschmutzung, Unterminierung der elterlichen Autorität in geradezu bösartiger Weise […] Es kann nicht das Ziel verantwortungsvoller Pädagogik sein, junge Menschen zum Widerstand gegen Eltern und Familie und damit gegen Staat und Vaterland zu erziehen.“ (Seite 272f)

In Dondorf wird ein Supermarkt mit Selbstbedienung eröffnet. Wenn Hillas Mutter dort einkaufen geht, achtet sie darauf, dass der alteingesessene Krämer Johann Pieper sie nicht mit der Tüte sieht. Billa Hings, die Ehefrau des Betriebsrats Jupp Hings, gerät im Supermarkt in einen Kaufrausch und packt für den Fernsehabend mit „Familie Hesselbach“ nicht nur Salzstangen und Erdnüsse, sondern auch eine Flasche Kröver Nacktarsch und eine Flasche Liebfrauenmilch in den Einkaufswagen. An der Kasse stellt sich heraus, dass sie nicht genügend Geld bei sich hat. Ob die Kassiererin den fehlenden Betrag nicht anschreiben könne, fragt Billa Hings, aber die italienische Gastarbeiterin besteht auf Bargeld. Das erbost Billa Hings und sie schimpft:

„Ävver die Kanake künne us doch nit verzälle, wat mir ze dun han!“ (Seite 286)

Obwohl Astrid Kowalski glänzende Noten hat, muss sie die Schulausbildung abbrechen und eine Lehre als Industriekaufmannsgehilfin anfangen, denn ihr Vater kam mit der Hand in eine Fräse und bekommt als Teilinvalide nur noch eine Pförtnerstelle.

In einer Zeitschrift liest Hilla, dass bei einer Repräsentativumfrage des Meinungsforschungsinstuts IFAS 72 Prozent aller Frauen und 75 Prozent der verheirateten Männer meinen, Frauenarbeit in Büros und Fabriken sei unnormal.

Nach dem Cäcilienfest in der Kölner Stadthalle versäumt Hilla den letzten Zug, weil sie von einem anderen Mädchen aufgehalten wird. Ein Auto hält. Weil neben dem Fahrer eine Frau sitzt, steigt Hilla ein. Unterwegs nimmt der Fahrer noch zwei angetrunkene Anhalter mit, die Hilla auf der Rücksitzbank zwischen sich einklemmen. Als sie anfangen, sie zu begrabschen, bittet Hilla den Fahrer um Hilfe, aber statt ihr beizustehen, biegt er im Krawatter Busch in einen Waldweg ein und bleibt stehen. Die Männer zerren Hilla aus dem Auto und zwängen ihr den Hals einer Flasche in den Mund, zwingen sie, von dem Fusel zu trinken. Sie verliert das Bewusstsein und kommt erst am nächsten Morgen wieder zu sich. Die drei Männer haben sie ausgezogen, aber Kleid, Unterwäsche und Schuhe liegen lassen. Nachdem Hilla sich übergeben hat, geht sie zu einer Straßenbahnhaltestelle und fährt nach Hause. Ihrer Mutter sagt sie, sie habe die letzte Bahn verpasst und bei ihrer Mitschülerin Monika übernachtet. Da die Palms kein Telefon besitzen, kommt die Mutter auch nicht auf die Idee, sie zu fragen, warum sie nicht wenigstens angerufen habe.

Selbst ihrem Bruder, dem sie sonst alles anvertraut, verschweigt Hilla die Vergewaltigung. Alles was sie in der Nacht trug, versenkt sie im Rhein. Am Ufer zieht sie Rock und Schlüpfer aus und stellt sich breitbeinig gegen den Fluss, dann legt sie sich mit geöffneten Beinen und hochgezogenen Knien auf den Boden, als ob sie ihr Geschlecht von der Sonne ausbrennen lassen wollte. Aus Angst vor Schwangerschaft fährt sie mit dem Fahrrad über holprige Wege, und als die Mutter am Samstag den Drillich des Vaters im kochend heißen Wasser einweicht, taucht sie den Unterleib in die Lauge.

Ich, Hildegard Palm, hatte mit dieser Hildegard Selberschuld nichts zu schaffen. Wovon man nicht laut spricht, das ist nicht wahr. Lingua sequitur esse, hatte ich gelernt. Die Sprache folgt dem Sein. Nein! Niemals würde ich davon sprechen, niemals das Wort, die Wörter für das auf der Lichtung in den Mund nehmen oder weißes Papier damit bedrecken, beflecken, diese Wörter gehörten nicht in die Welt, so wenig wie die Nacht von Samstag auf Sonntag in die Zeit gehörte. Esse sequitur linguam. (Seite 322)

Seit sie auf der Lichtung zu sich kam, leidet sie unter einem Schluckauf. Weil es nicht besser wird, läuft die Großmutter ins Krankenhaus und holt Schwester Mavilia.

„Ihre Tochter braucht Ruhe“, sagte die Schwester [zu Hillas Mutter]. „Der Schluckauf hat sie schon sehr geschwächt. Ein heißes Bad würde ihr guttun.“
„Wärm bade tun mir nur am Samstag“, erwiderte die Mutter barsch. (Seite 317)

Alle warnen Hilla, die Sache ernst zu nehmen, der Papst sei am „Hicksen“ gestorben.

Sie legt ein Tagebuch an. Aufs Deckblatt schreibt sie: „Tagebuch von Petra Leonis“ und „Beati dies“. Erkki Huusarii sei mit dem Motorrad gegen einen Baum gefahren und tot, erzählt sie in der Schule. Weil sie es nicht erträgt, mit einem Mann in einem Raum zu sitzen, bricht sie den Mathematik-Nachhilfeunterricht ab, den ihr ein Mitschüler erteilt – und es dauert nicht lang, bis ihre Leistungen in diesem Fach wieder nachlassen.

In der Schule bricht Hilla zusammen. Oberstudienrat Sellmer fährt sie nach Hause und hebt sie aus dem Auto. Er fragt Maria Palm, wo er Hilla hinlegen könne und erfährt, dass sie kein eigenes Zimmer hat, sondern ein Refugium in einem unbeheizten Bretterverschlag. Als er fragt, ob man dort nicht wenigstens eine Heizung aufstellen könne, erwidert Hillas Mutter:

„Wenn et em ze kalt is, jeht et in de Kösch.“ (Seite 352)

Hilla wird im nur sonntags beheizten Wohnzimmer aufs Sofa gelegt. Der Hausarzt Dr. Mickel diagnostiziert Überanstrengung.

Übersetzt ins Lauffeuerdeutsch des Dorfes hieß das: Dat Weet vom Rüpplis Maria hätt es met de Nerve! Dat kütt dovon, dat kütt dovon! Erst de Meddelscholl. Dann noch Abitur! Und dat Äng vum Leed? Et hätt et met de Nerve. (Seite 351f)

Nicht nur die Mutter meint:

„Kütt alles von de Bööscher.“ (Seite 353)

Kreuzkamp, der Dorfpfarrer, wundert sich darüber, dass Hilla nicht mehr beichtet und bei der Kommunion nicht mehr nach vorne kommt.

Nachdem Hilla die Reifeprüfung bestanden hat, beginnt sie in Köln Germanistik zu studieren. Dazu fährt sie mit dem Bus bis zur Endstation in Großenfeld und weiter mit dem Zug zum Kölner Hauptbahnhof.

Ich wollte Wissen. Dieses Wissen. Wissen, das mich nicht betraf, mich nicht traf. Das Wissen der Welt gegen das Wissen um die Lichtung. (Seite 393)

Jede Fahrt von Köln nach Dondorf machte aus der Studentin wieder dat Kenk vun nem Prolete. (Seite 434)

Trat ich durch die Küchentür, wies das ausdruckshafte Sprechen noch immer ganz auf das Personsein des Menschen zurück, während die Tante ihre schweißige Hand auf das Wachstuch klatschte, um allein von der inneren Selbstgewissheit aus alle objektiven Ordnungen zu bewältigen.
Die Tassen klirrten.
„Berta!“, schrie die Großmutter. „Pass ob dat Melschkännsche op! Du brängs jo alles durschenander!“ (Seite 434)

In der letzten Woche des ersten Semesters bringt man sie im Krankenwagen nach Hause. Sie war an der Bushaltestelle in Großenfeld ohnmächtig geworden. Dr. Mickel meint, das Hin- und Herfahren sei zu viel für Hilla, sie benötige ein Zimmer in Köln. Dieser Vorschlag stößt bei Mutter und Großmutter auf heftigen Widerstand.

„Alleen en Kölle. Nä, nä, wenn de ne Jong wärst. Ävver so als Mädsche. Nä, sach isch.“
„Mama“, sagte ich, „ich bin neunzehn, im nächsten Semester zwanzig.“
„Semester, Semester“, äffte die Mutter, „meins de, dat macht desch vernünftijer? Nä!“ Die Mutter klatschte die Hand aufs Wachstuch, wie sonst nur die Tante. „Mit mingem Willen nit!“ Und noch einmal auf Hochdeutsch: „Mit meinem Willen nischt!“ (Seite 441f)

Der Vater sagt dazu erst einmal nichts.

Der Vater war nicht mehr der Alte. Immer rücksichtsloser klapperte ihn die Großmutter morgens, bevor sie um fünf zur Messe im Kapellchen aufbrach, mit den Herdringen aus dem Schlaf, und die Scheiben, die ihm die Mutter sonntags vom Braten schnitt, wurden dünner. Er, der früher den Fisch aus der Dose, Hering in Tomatenmark, ganz für sich allein bekommen hatte, während wir den Soßenrest im Kartoffelbrei verrührten, beschwerte sich nicht, schien es kaum zu bemerken. Die Schwäche des Vaters stärkte die beiden Frauen. (Seite 440)

Ein paar Stunden später sucht Josef Palm seine Tochter zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrem Bretterverschlag auf und lädt sie zu einem Spaziergang ein. Er erzählt ihr, wie sein Vater sich die Kehle durchschnitt [Suizid]. Josef war damals elf. Nachdem seine Mutter wieder geheiratet hatte, kam er zu einer unverheirateten und kinderlosen Tante in die Eifel, die mit einer anderen Frau zusammenlebte. Aber nach einiger Zeit tauchte sein Stiefvater mit dem Schulrektor auf und holte ihn zurück. Die Weiberwirtschaft sei kein Umgang für einen Jungen, hieß es. Nach der Beerdigung der Tante drückte ihm deren Lebensgefährtin Edith auf dem Friedhof ein Sparbuch der Verstorbenen mit 4980 Mark Guthaben in die Hand. Davon wisse die Mutter nichts, sagt Palm, und sie soll auch nicht erfahren, dass er Hilla 1000 Mark davon für ein Zimmer in Köln zur Verfügung stellen wird.

Die Großmutter will sich vom Pastor bestätigen lassen, dass es falsch wäre, Hilla allein in Köln wohnen zu lassen, aber der Geistliche teilt ihre Meinung nicht und reserviert ein Zimmer in einem nach Hildegard von Bingen benannten neuen Wohnheim für katholische Studentinnen, im „Heldejaad-Kollesch“.

Nach dem Kirchgang flüstert Palm seiner Tochter zu: „Kuck mal unter deine Pflanzenbüscher, wenn de nach Haus kommst.“ Dort findet Hilla ein mit 1000 Mark auf ihren Namen angelegtes Sparbuch.

Hillas Zähne sind zwar gesund, aber krumm und schief. Das Geld, das sie in den Semesterferien am Fließband verdient, verwendet sie, um sich von der Zahnärztin Dr. Amanda Kritz die Schneidezähne abschleifen und überkronen zu lassen. Kaum jemand bemerkt die Veränderung, und die Großmutter klagt:

„Dat schöne Jeld! Für so ene Quatsch! Jitz wore dir och ald de Zäng nit mi jood genuch.“ (Seite 531)

Als der neue Quelle-Katalog herauskommt, trifft sich ein Kreis von aufgeregten Frauen bei Hillas Cousine Hanni, um darin zu blättern. Tante Berta ist entsetzt, als Hanni ankündigt, sich eine Hose zu kaufen.

„Nit unter meinem Dach! Als verheiratete Frau! Und Mutter!“ (Seite 486)

Verwundert nehmen Hanni und ihre Besucherinnen zur Kenntnis, dass man jetzt Slip statt Unterhose sagt und auch viele andere englische Begriffe in den Überschriften vorkommen. Hannis Ehemann Rudi prahlt mit seiner neuen Musiktruhe. Die sei „Hie-fie“. „Hai-fie“, korrigiert Hilla.

Rudi ließ sich nicht beirren. „Is doch ejal, wie et heißt. Et klingt jewaltisch. Wie escht.“ (Seite 473)

Man hört die Beatles, Nana Mouskouri mit „Weiße Rosen aus Athen“, Bill Ramsey mit der „Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ und Gitte mit „Ich will nen Kauhauboii als Mann“.

Die Nachbarin der Familie Palm stirbt. Ein Konzern kauft das Anwesen der hinterlassenen Gärtnerei, lässt die Obstbäume fällen, auf den Feldern am Möhnebusch ein Versuchsgut anlegen, die Gebäude abreißen und ein fünfzehnstöckiges Mietshaus errichten, das von Hillas Elternhaus nur durch eine schmale Straße getrennt ist.

Zu Semesterbeginn bringt Bertram seine Schwester ins „Heldejaad-Kollesch“. Dort wird sie von Auguste Oppermann begrüßt und in ein Zwei-Bett-Zimmer geführt. Hilla besteht jedoch auf einem Zimmer für sich allein. Es ist ein neuer Aufbruch.

Fortsetzung: „Spiel der Zeit“

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Die Handlung des Romans „Das verborgene Wort“ setzt sich in „Aufbruch“ nahtlos fort. Es geht um die Tochter eines Arbeiters im Rheinland, die Abitur macht und sich von dem Rollenverständnis emanzipiert, in dem die Frau an den Herd gehört. „Aufbruch“ deckt dabei die erste Hälfte der Sechzigerjahre ab, eine Zeit, in der die Protagonistin Hildegard („Hilla“) Palm zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt ist.

Wir erleben in „Aufbruch“ mit, wie die junge Frau sich aus der provinziellen Engstirnigkeit ihres Heimatdorfs herausentwickelt und bei ihren Eltern, der verwitweten Großmutter und ihrer Tante auf Unverständnis stößt. Eine Vergewaltigung droht sie aus der Bahn zu werfen, zumal sie versucht, das traumatische Ereignis zu verdrängen. „Aufbruch“ ist jedoch nicht nur ein bewegender Entwicklungsroman über die Adoleszenz einer ebenso intelligenten wie nachdenklichen und feinfühligen jungen Frau, sondern auch eine detailreiche Milieustudie und ein Panorama der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der Sechzigerjahre.

Wie weit „Aufbruch“ autobiografisch ist, wissen wir nicht, aber die Parallelen zwischen Hilla Palm und Ulla Hahn sind nicht zu übersehen. Der fiktive Ort Dondorf entspricht Ulla Hahns Geburtsort Monheim zwischen Köln und Düsseldorf.

Formal ist „Aufbruch“ zwar konventionell, aber das schmälert das Lesevergnügen nicht. Ulla Hahn schreibt chronologisch in der Ich-Form, also aus der subjektiven Perspektive der Hauptfigur. Die Charaktere und die gut beobachteten Szenen wirken anschaulich, farbig und lebendig. Das einfühlsam dargestellte Verhalten der Figuren ist gut nachvollziehbar, und die realistischen Dialoge – viele davon in Mundart – überzeugen. Ansonsten ist die Sprache geschliffen und außergewöhnlich melodiös. Obwohl der Inhalt von „Aufbruch“ im Grunde nicht lustig ist, erzählt Ulla Hahn mit sehr viel Humor.

Den Roman „Aufbruch“ von Ulla Hahn gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Gudrun Landgrebe (Bearbeitung: Karin Weingart, Regie: Petra Metzger, Köln 2009, 6 CDs, ISBN: 978-3-86604-917-8).

Volker Einrauch (Drehbuch) und Hermine Huntgeburth (Regie), die bereits den ersten Teil der Romantrilogie von Ulla Hahn verfilmten („Teufelsbraten“), adaptierten auch „Aufbruch“ fürs Fernsehen. Die Erstausstrahlung erfolgte am 7. Dezember 2016 im Ersten Programm.

Originaltitel: Aufbruch – Regie: Hermine Huntgeburth – Drehbuch: Volker Einrauch nach dem Roman „Aufbruch“ von Ulla Hahn – Kamera: Sebastian Edschmid – Schnitt: Uta Schmidt – Musik: Biber Gullatz, Andreas Schäfer – Darsteller: Anna Fischer, Margarita Broich, Ulrich Noethen, Barbara Nüsse, Daniel Sträßer, Saskia Rosendahl, Heiko Pinkowski, Markus John u.a. –  Minuten

Mit „Spiel der Zeit“ (2014) und „Wir werden erwartet“ (2017) setzte Ulla Hahn die Geschichte von Hilla Palm fort.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009 / 2015
Textauszüge: © DVA

Ulla Hahn: Das verborgene Wort
Ulla Hahn: Spiel der Zeit
Ulla Hahn: Wir werden erwartet

Uwe Tellkamp - Der Turm
In "Der Turm" entwirft Uwe Tellkamp ein Panorama der DDR in den 80er-Jahren. Die Darstellung ist unaufgeregt, ausufernd und außergewöhnlich detailfreudig, die Sprache z. T. überambitioniert.
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