Peter Härtling : Hoffmann oder Die vielfältige Liebe

Hoffmann oder Die vielfältige Liebe
Hoffmann oder Die vielfältige Liebe Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001 ISBN 3-462-02970-3, 254 Seiten, Taschenbuch: dtv, München 2006 ISBN 3-423-13433-X, 249 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Roman über E. T. A. Hoffmann konzentriert sich Peter Härtling auf die fünf Jahre, die der Maler, Musiker und Schriftsteller in Bamberg verbrachte (1808 – 1813). So wie er ihn darstellt, war
E. T. A. Hoffmann ein Bürgerschreck, ein Säufer und Erotomane, der sich zum Narren machte, besonders als er im Alter von 34 Jahren für die dreizehnjährige Gesangsschülerin Julia Marc entflammte ...
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Kritik

Ob Peter Härtling dem vielseitigen Künstler E. T. A. Hoffmann mit seiner Darstellung gerecht wird, ist fraglich. Auf jeden Fall ist die Lektüre des übersprudelnd geschriebenen Romans "Hoffmann oder Die vielfältige Liebe" recht unterhaltsam.
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Der dreißigjährige preußische Regierungsrat E. T. A. Hoffmann lebt mit seiner polnischen Ehefrau Mischa in Warschau und erteilt nebenher jungen Mädchen Gesangsunterricht.

Sie [Mischa] ahnte, dass Hoffmann in Gedanken eine andere liebt, stets wechselnd, eine neue, ein Ideal, dem sie nie entsprach. Diese Mädchen, diese jungen Sängerinnen, denen er den Hof machte, im Spaß und aus Vergnügen, die er in seinen Träumen heimsuchte. (Seite 19f)

Die Unterstellung eines anderen Musiklehrers, er begehre seine Schülerinnen, weist er entrüstet zurück und behauptet, es gehe ihm einzig und allein um die Stimmen. Wieso er den Damen dann Rosen und Konfekt schenke, fragt der Kollege.

Er ist fleißig, traktiert das Klavier auch nachts, was Mischa berunruhigt, denn er ölt seine Inspiration mit Mengen von Bier und Wein. (Seite 21)

Peter Härtling beschreibt Hoffmann folgendermaßen:

[…] ein dürrer, stets hastiger, durstiger Hüpfer und Springer. Bewegungssüchtig. Die Gliedmaßen unruhig und aus der Kontrolle. (Seite 16)

Als Hoffmann beim Einmarsch Napoleons seine Beamtenstelle verliert, schickt er seine Frau mit der 1805 geborenen Tochter Cäcilia nach Posen und reist selbst nach Berlin, um sich eine neue Beschäftigung zu suchen. 1807 erfährt er aus einem Brief, dass die Tochter im Alter von zwei Jahren gestorben ist.

In Berlin beginnt Hoffmann eine Affäre mit Konstanze Berlepsch, deren Mann – ebenfalls ein preußischer Regierungsrat – einige Zeit in Königsberg zu tun hat. Hoffmann besucht seine Geliebte alle zwei Tage – bis er feststellt, dass er sich bei ihr mit Syphilis angesteckt hat.

Im Frühjahr 1808 überrascht ihn ein Angebot des Reichsgrafen Julius von Soden, der das Theater in Bamberg leitet und ihn als Kapellmeister einstellen möchte. Am 1. September 1808 treffen Hoffmann und seine Frau mit der Postkutsche in Bamberg ein und nehmen Quartier bei dem Färber Schneider. Weil Julius von Soden inzwischen die Leitung des Theaters in Würzburg übernommen hat, muss Hoffmann mit einem gewissen Heinrich Cuno vorlieb nehmen. Von ihm erfährt er, dass die Theatersaison erst Mitte Oktober beginnt. Bis dahin ist er ein Dirigent ohne Orchester – und ohne Einkommen. Doch als er endlich mit den Musikern üben kann, gerät er sogleich mit Dittmayer aneinander, dem ersten Geiger, der ihm seine Stellung streitig macht und dagegen protestiert, dass Hoffmann vom Klavier aus dirigiert. Aufgrund des Zerwürfnisses bekommt Hoffmann keinen festen Vertrag, und als dann auch noch das Theater im Februar 1809 bankrott geht, muss Hoffmann sich Gesangsschülerinnen suchen, um den Lebensunterhalt für sich und Mischa bestreiten zu können. Außerdem zieht das Paar im Mai 1809 in das Haus des Trompeters Warmuth um, der weniger Miete als Schneider verlangt.

Er wechselt vom Theaterkomponisten zum Gesangslehrer, vom Dirigenten zum Pianisten, vom Abonnementsverwalter zum Nachmittagssäufer, vom Gesellschaftslöwen zum Stimmenanbeter, vom ebenso eingebildeten wie wahren Liebhaber zum Ehemann. (Seite 92)

Einer blonden Opernsängerin aus Würzburg folgt Hoffmann in ein Gartenhaus, in dem sie sich wohl auch mit anderen Männern trifft. Die Affäre ist bald stadtbekannt.

1810 wird der Vierunddreißigjährige von Franziska („Fanny“) Marc beauftragt, ihrer dreizehnjährigen Tochter Julia Gesangsunterricht zu erteilen. Franziska Marc war mit ihrem Onkel Philipp – einen Bruder ihres Vaters – verheiratet, der seit einem Amerikaaufenthalt als Konsul der USA in Bamberg lebte. Seit seinem Tod im Jahr 1801 steht Franziska Marc unter dem Schutz ihres Schwagers und Onkels Dr. Adalbert Friedrich Marcus, der das Krankenhaus in Bamberg leitet.

Hoffmann schwärmt von der Stimme Julias – und verliebt sich wie ein pubertierender Schüler in sie. Als Julia ihm nach einigen Monaten von einem Ball erzählt, an dem sie teilnehmen wird, überredet er Mischa, ihn zu begleiten. Ohne sich lang hinzusetzen, geht Hoffmann auf die Tanzfläche und bittet den Herrn, mit dem Julia tanzt, ihm die junge Dame entführen zu dürfen. Er macht sich zum Gespött der Ballbesucher, denen nicht entgeht, dass er nur Augen für das Mädchen hat, und Mischa beobachtet außerdem sorgenvoll, wieviel Rotwein er trinkt. Schließlich fordert er Julia erneut zum Tanz auf, reiht sich jedoch nicht mit ihr in die Polonaise ein, sondern geht mit ihr vor die Tür und macht ihr eine Liebeserklärung. Erschrocken läuft Julia zum Tisch ihrer Mutter und der Verwandten zurück und zieht deren erstaunte Blicke auf sich. Was ist geschehen? Hoffmann entschuldigt sich, ohne zu sagen, wofür, und Mischa bringt ihn hinaus.

Am nächsten Tag sucht Adalbert Marcus ihn auf: Hoffmann soll Julia nicht länger mit „fatalen Wünschen und obszönen Fantasien“ verwirren (Seite 193). Mischa macht sich Sorgen um ihn und ihre Ehe:

Ich fürchte, du gehst mir verloren, wenn du dich weiter in diese Liebesfantasien hineinsteigerst. (Seite 170)

Es hilft alles nichts: Als Hoffmann erfährt, dass Julia bei Dittmayer im Theater ist und sich von ihm Gesangsunterricht geben lässt, rennt er hin und prügelt sich mit dem Konzertmeister.

Der Julia-Wahn hält ihn nicht davon ab, ohne und mit Auftrag zu schuften. Fünf Jahre ergänzt, korrigiert, schreibt er Libretti, komponiert Opern, Singspiele, Schauspielmusik, Canzonen, Kammermusik und malt Kulissen. Beinahe jeden Tag besucht er Bekannte, unterrichtet keineswegs nur Julia, sondern eine ganze Schar junger Damen, nimmt an Bällen und anderen Abendunterhaltungen teil, versammelt, wenn auch nicht sonderlich ausdauernd, die Serapionsrunde, lässt sein Stammlokal, die „Rose“, so gut wie keinen Tag aus, führt gelegentlich die Theatergeschäfte, wirbt, angehalten von Doktor Marcus, Abonnenten, lässt sich von einer Gesellschaft, die sich für aufgeschlossen hält und zugleich mit ihrer Engstirnigkeit kokettiert, zum Narren halten, überrascht sie aber damit, tatsächlich ein Narr zu sein, ungreifbar und im Grunde auch unangreifbar. (Seite 205f)

Um klare Verhältnisse zu schaffen, sucht Adalbert Marcus 1812 für die inzwischen fünfzehnjährige Julia Marc einen Bräutigam aus: den Hamburger Kaufmann Johann Gerhard Gräpel. Das hält Hoffmann nicht davon ab, Julia bei einer Abendgesellschaft ihrem Tanzpartner Gräpel zu entreißen, und als sie ihn entsetzt stehen lässt, beschimpft er ihre Angehörigen.

Er läuft ihr nach, an den Marcschen Tisch, erklärt in einer einzigen Suada den Doktor Marcus zum perfiden Onkel, Franziska Marc zur berechnenden Kupplerin, Speyer [Dr. med. Friedrich Speyer, ein Vetter Julias] zum blöden Claqueur und wünscht der ganzen Sippschaft, dass es Jauche auf sie regne. (Seite 212)

Am nächsten Morgen entschuldigt er sich bei Franziska Marc für sein ungebührliches Benehmen. Tatsächlich wird Julias Gesangslehrer trotz des peinlichen Vorfalls auch zu einer Landpartie nach Pommersfelden eingeladen, mit der die Verlobung von Julia Marc und Gerhard Gräpel gefeiert werden soll. Das hätten Julias Angehörige besser nicht getan, denn als Hoffmann und der Bräutigam betrunken sind, raufen sie miteinander, und der Ausflug endet mit einem Skandal.

Im Dezember 1812 wird Julia Marc mit Gerhard Gräpel vermählt. Auch das ist keine gute Entscheidung der Familie Marc bzw. Marcus, denn „Gräpel säuft und hurt, schlägt sie [Julia], wenn ihm die Worte fehlen“ (Seite 225). Nach seinem Tod heiratet Julia im September 1821 ihren Vetter Ludwig Marc, einen Arzt. Als sie zum zweiten Mal Witwe wird, zieht sie nach München, wo sie drei Tage vor ihrem 70. Geburtstag stirbt.

Hoffmann hat in Bamberg noch eine kurze Affäre mit Wilhelmine Kunz, der Ehefrau seines Verlegers. 1813 reist er mit Mischa ab, denn Joseph Seconda, der Direktor des Leipziger Theaters, hat ihm die Stelle eines Kapellmeisters angeboten. Hoffmann und Seconda verabreden sich in Dresden, aber dort verfehlen sie sich. Bei der Weiterfahrt nach Leipzig gehen die Pferde durch und die Postkutsche stürzt um. Eine der Reisenden kommt dabei ums Leben, Mischa blutet aus einer Stirnwunde, Hoffmann bleibt unverletzt.

Wegen des drohenden Krieges zwischen Preußen und Napoleon, der geschlagen aus Russland zurückkam [mehr dazu], zieht Joseph Seconda mit seinem Theaterensemble nach Dresden. Die Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig ermöglicht es Hoffmann, endlich wieder in den preußischen Staatsdienst zurückzukehren: Er erhält eine Anstellung im Berliner Justizministerium.

Er schreibt in der Nacht und träumt bei Tag, er trinkt, beobachtet, lässt sich von Mischa verzärteln, gewinnt Freunde, wie Ludwig Devrient, den großen Schauspieler, der ihm in Wesen und Gemüt gleicht, ein Verwandter, ein ingeniöser Säufer, und selbstverständlich findet er die Stationen für den Kneipenweg, der im allgemeinen bei „Lutter und Wegener“ endet […]
Mischa ist stolz auf ihn, obwohl sie noch weniger von ihm hat als in Bamberg und in Dresden. (Seite 241f)

1815 veröffentlicht der Bamberger Verleger Kunz die ersten drei Bände der „Fantasiestücke in Callot’s Manier“, und die Oper „Undine“, die E. T. A. Hoffmann am 5. August 1814 vollendete, wird am 3. August 1816 in Berlin uraufgeführt.

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Seit ein paar Wochen träume ich von Hoffmann. Er nimmt Gestalt an, ist mir gegenwärtig wie ein Bekannter, ein Freund, den ich im Lauf der Jahre aus dem Gedächtnis verloren habe. Der nun aber zurückkehrt in eine Vertrautheit, die mich bestürzt. (Seite 135)

Peter Härtling, der sich auf ähnliche Weise bereits Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) und Franz Schubert (1797 – 1828) zu nähern versuchte („Hölderlin“, 1976; „Schubert. Zwölf Moments musicaux und ein Roman“, 1992), konzentriert sich in seinem Roman über E. T. A. Hoffmann (1776 – 1822) auf die fünf Jahre, die der Maler, Musiker und Schriftsteller in Bamberg verbrachte (1808 – 1813). „Hoffmann oder Die vielfältige Liebe“ ist ein Künstlerroman, in dem es nicht nur um die Spannung zwischen Liebe und Begehren geht, sondern auch um den Gegensatz zwischen dem kleinstädtischen Bürgertum und dem exzentrischen Dichter und Komponisten, Musikkritiker, Karikaturisten, Maler und Zeichner E. T. A. Hoffmann. So wie Peter Härtling ihn darstellt, war E. T. A. Hoffmann ein Bürgerschreck, ein Säufer und Erotomane, der sich fortwährend zum Narren machte. Ob Härtling ihm damit – und mit der Reduzierung auf einige wenige Charakterzüge – gerecht wird, ist fraglich wie die implizite These, erst der „Julia-Wahn“ habe E. T. A. Hoffmann zum Dichter werden lassen.

Es ist freilich unwahrscheinlich, dass Hoffmann dem um zwanzig Jahre jüngeren Mädchen je seine Liebe gestand; ja es ist sogar unwahrscheinlich, dass er jemals ernsthaft an eine Verbindung mit ihr gedacht hat. Denn noch während seines Umgangs mit ihr begann er, das erotische Begehren zu verdrängen, begann er, Julia zu einem ästhetischen Idol zu verflüchtigen, demgegenüber lediglich eine geistige, in der Kunst manifest werdende Liebe angemessen sei, wohingegen körperlicher Besitz seinen Bildzauber zerstören würde. Die „Liebe des Künstlers“, zu der sich Hoffmann durchrang, vergleicht sich mit der höfischen Minne und dem Marienkult. Sie vermag auf die Gegenwart der Geliebten zu verzichten, weil sie die Geliebte nur als inneren Besitz erstrebt. Sie ist keiner Enttäuschung, keiner profanen Erfahrung zugänglich, weil sie sich ihr nicht aussetzt.
(Gerhard Schneider im Nachwort zu E. T. A. Hoffmann. Werke in einem Band. Die Bibliothek deutscher Klassiker, Band 24. Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar 1979)

Der übersprudelnde Schreibstil entspricht der nervösen Betriebsamkeit des Protagonisten. Schade ist, dass Peter Härtling darauf verzichtet hat, auch auf Mischa einen Bühnenscheinwerfer zu richten. Auf jeden Fall ist die Lektüre des Romans „Hoffmann oder Die vielfältige Liebe“ recht unterhaltsam.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch.
Seitenangaben beziehen sich auf die gebundene Ausgabe.

E. T. A. Hoffmann (Kurzbiografie)

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