Katharina Hacker : Der Bademeister

Der Bademeister
Der Bademeister Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2000 ISBN 3-518-41169-1, 207 Seiten Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2006 ISBN 3-518-45905-8, 207 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Das Volksbad im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg wird nach der Wende wegen Einsturzgefahr geschlossen. Der dadurch arbeitslos gewordene 58-jährige Bademeister, der hier seit seinem 18. Lebensjahr darauf achtete, dass keiner ertrank, kann es nicht fassen, dass alles zu Ende sein soll. Nachdem er drei Wochen ziellos durch die Stadt gelaufen ist, kehrt er heimlich in das Gebäude zurück. Selbstgespräche führend umkreist der beschränkte Mann das leere Schwimmbecken ...
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Kritik

Katharina Hacker ist es eindrucksvoll gelungen, in dem mäandernden Monolog eine erschütternde Geschichte zu erzählen, ein eindrucksvolles Charakterbild zu zeichnen und eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen. "Der Bademeister" ist große Literatur.
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Ich bin der Bademeister

Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer.
Einsturzgefahr! Vor der Schwimmhalle steht ein Schild. Einsturzgefahr! Betreten der Schwimmhalle verboten!
Ein Placken Putz ist aus der Wand gebrochen.
Der Hausmeister hat nicht lange gezögert. Rasch war die Bauaufsicht verständigt, um die Statik der Schwimmhalle und des Schwimmbeckens zu untersuchen. Die Zuständigen haben gleich gesehen, dass der Verfall unaufhaltbar ist, das Becken sich gesenkt hat.
Ich habe nie viel gesprochen, aber in allem, was das Schwimmbad angeht, kenne ich mich besser aus als jeder andere. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. (Seite 7)

So beginnt der Monolog des achtundfünfzigjährigen Bademeisters Hugo.

Die Vorgeschichte

Vierzig Jahre lang war er Bademeister in dem fast hundert Jahre alten Volksbad im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dabei hatte er nie Bademeister werden wollen, aber nach dem Abitur war ihm ein Studienplatz verwehrt worden, weil sein Vater angeblich im Zweiten Weltkrieg Kinder erschossen hatte. Der Vater erhängte sich vor vierzig Jahren in der Wohnung. Hugo schnitt ihn ab. Er wurde damals Gehilfe des Bademeisters im Volksbad am Prenzlauer Berg. Was sein Vater wirklich getan hatte, weiß er bis heute nicht.

Vergangenheiten haben unabsehbare Folgen, die wirklichen Vergangenheiten wie die falschen. Wegen der Vergangenheit meines Vaters durfte ich nicht studieren, und seine Vergangenheit war der Grund, mich schuldig zu sprechen. (Seite 55)

Von dem damaligen Bademeister erfuhr Hugo, dass man bei Kriegsende zwölf Gefangene aus dem Keller des Volksbades geholt und erschossen hatte. Die blutigen Leichen waren dann im leeren Becken gelegen, und man hatte einen Mann aus der Nachbarschaft gezwungen, sie hinauszutragen und sauberzumachen. Der war nach der Wiederöffnung des Volksbades Bademeister geworden. Ein Jahr nachdem Hugo als Gehilfe bei ihm angefangen hatte, tauchten zwei Herren auf und führten den Bademeister ab. Drei Tage später holten sie Hugo zum Verhör. Sie zeigten ihm Fotos von Kinderleichen, die übereinander in einem Graben lagen, und am Rand stand ein Mann, der aussah wie sein Vater. Aber er wusste nichts darüber.

Weil der damalige Bademeister nicht zurückkehrte, übernahm Hugo dessen Stelle. Jeden Tag war er vierzehn Stunden im Dienst. Mittags verzehrte er in seiner Ecke außerhalb der Schwimmhalle zwei Brötchen, die er sich am Morgen auf dem Weg zum Volksbad am Kiosk holte. Zeitungen las er keine. Niemals war er krank, und Urlaub machte er auch keinen.

Ich habe nie verstanden, warum die Leute schwimmen, aber ertrunken ist mir keiner. (Seite 17)

Die Schließung des Volksbads

Die zwei Herren von der Bauaufsicht, die nach der Wende das Gebäude inspizierten, ignorierten den Bademeister. Sobald sie gegangen waren, nahm der Hausmeister den Eimer der Putzfrau Christa und kippte den Inhalt ins Schwimmbecken. Frau Karpfe, die Verwalterin, warf eine brennende Zigarettenkippe hinterher, und der Heizer Klaus eine Serviette mit Ketchupflecken. Dann erhielt der Bademeister den Auftrag, das Wasser abzulassen. Er protestierte nicht. Und als die Kollegen ihn aufforderten, abends mit ihnen durch die Kneipen zu ziehen, machte er mit. Unter dem schallenden Gelächter der anderen setzte sich Christa auf seinen Schoß und versuchte ihn zu küssen.

Obwohl ich nie mit ihnen in eine Kneipe gehen wollte, bin ich mitgegangen, obwohl ich ihren Hohn gespürt habe, bin ich mit ihnen mitgegangen, saß mit ihnen an einem Tisch und war betrunken wie sie auch. Ich hatte vorher nie getrunken, Klaus musste mich nach Hause begleiten, vier Nächte waren es, so spät war ich sonst nicht mehr draußen […] (Seite 70)

Das Volksbad wurde geschlossen, aber der Bademeister glaubte immer noch, man werde es renovieren. Als Frau Karpfe ihm ein Blatt Papier zum Unterschreiben hinlegte, hielt er es für eine Bestellung von Chlor, aber der Hausmeister – von dem Klaus annahm, dass er ein Verhältnis mit der Verwalterin hatte – klärte ihn höhnisch darüber auf, dass es sich um die Einverständniserklärung mit der Vorruhestands-Regelung handelte.

Als der Eingang des Gebäudes mit Ketten und Schlössern gesichert wurde, begriff auch der Bademeister, dass es vorbei war. Der Achtundfünfzigjährige, der noch immer mit seiner fast achtzigjährigen Mutter in der Wohnung lebte, in der sein Vater sich vor vierzig Jahren erhängt hatte, schwieg über die Schließung des Bades. Er hatte überhaupt nie viel mit seiner Mutter geredet, sondern war eigentlich nur zum Schlafen nach Hause gekommen. So als ob er noch Bademeister gewesen wäre, verließ er weiterhin frühmorgens das Haus und kehrte spätabends zurück. Drei Wochen lang lief er ziellos durch die Stadt. Dann betrat er das geschlossene Gebäude wieder durch den Seiteneingang, zu dessen Tür er einen Schlüssel hatte.

Seit heute Morgen umkreise ich das Schwimmbad wieder, gehe langsam von Pfeiler zu Pfeiler, unsicher, weil ich außer Übung bin. In den ersten drei Wochen nach meiner Entlassung bin ich durch die Stadt gelaufen. Ich habe wieder leise vor mich hingeredet, die Kinder haben mich ausgelacht, wie früher. (Seite 12)

Klaus ließ zwei Aquarien mit Fischen zurück. Die kleineren waren alle tot, und der Gestank des Wassers hatte sich im ganzen Keller ausgebreitet. In dem anderen Aquarium hatten sich die Welse über einen toten Artgenossen hergemacht und waren deshalb noch nicht verhungert.

Das Ende

Kurz darauf starb seine Mutter. Sie lag am Morgen tot in ihrem Bett. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, wandte er sich an den Kioskbesitzer Cremer, bei dem er seit fünfzehn Jahren die Brötchen fürs Mittagessen holte und dessen siebenjähriger Tochter Tanja er Schwimmunterricht gegeben hatte, bis sie von einem Lastwagen totgefahren worden war. Cremer rief den Arzt und den Bestatter. Der Arzt redete von einer Überdosis Schlaftabletten, aber der Sohn wusste von nichts, wählte eine anonyme Urnenbestattung und ging nicht hin. Auch bei der Beerdigung seines Vaters war er nicht dabei gewesen. Er zog das Bett seiner Mutter ab und trug die Sachen zur Mülltonne. Ein Fotoalbum, in dem seine Mutter Bilder von seinem Vater und von ihm als Kind aufgehoben hatte, warf er ebenfalls fort.

Der Bademeister holte seinen Ausweis und Geld aus der Wohnung, packte eine Decke ein und Sachen zum Anziehen, kaufte Konserven und brachte alles in den Heizungskeller des Volksbades – zusammen mit seinem Globus und drei weiteren Globen, die er vor einem Geschäft im Müll gefunden hatte. Die Staatsgrenzen stimmten inzwischen nicht mehr, aber das interessierte ihn nicht; für bedeutsamer hielt der Bademeister die Veranschaulichung der Tatsache, dass zwei Drittel der Erdoberfläche Wasser sind.

Als er noch einmal in die Wohnung zurückwollte, war die Tür versiegelt, und er hörte weiter oben im Treppenhaus Nachbarn, die sich über sein Verschwinden unterhielten.

Die Uhr im Volksbad ist stehen geblieben, und der Bademeister weiß nicht mehr so genau, wie spät es ist. Manchmal glaubt er Personen in der Schwimmhalle zu sehen, Schattengestalten, die nicht antworten, wenn er ruft. Er hält es für möglich, dass eine Abhöranlage existiert und man seinen Monolog irgendwo aufzeichnet, aber das macht ihm nichts aus, denn er hat nichts zu verbergen.

Schließlich besitzt er keine sauberen Kleidungsstücke mehr zum Wechseln, und seit einigen Tagen rasiert er sich nicht mehr. Er vermutet, dass Cremer ihn nicht mehr erkennen würde, wenn er hinausginge, denn obendrein ist er schwarz vom Staub der Kohlen, die er verheizt hat, damit die Rohre bei der Kälte nicht einfrieren. An dem Tag, an dem die Kohlen ausgehen, schließt der Bademeister den seit Wochen offenen Abfluss des Schwimmbeckens und öffnet den Zufluss.

Ich kann beweisen, dass man ertrinkt, wenn hier kein Bademeister ist. (Seite 206)

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Ruhelos geistert der Bademeister nach der Schließung eines baufälligen Volksbades in Berlin durch die Schwimmhalle und den Heizungskeller. Er hat sich Konserven mitgebracht und verlässt das Gebäude nicht mehr. „Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen“, sagt er immer wieder und redet doch fortwährend vor sich hin. Er glaubt, sein tagelanger Monolog werde über eine Abhöranlage irgendwo aufgezeichnet, aber eigentlich führt er nur Selbstgespräche. Und während er redet, brökelt die Fassade des Bademeisters ebenso ab wie der Putz im Hallenbad.

„Der Bademeister“ ist die groteske Tragödie eines achtundfünfzigjährigen Ostberliners, der nach der Wende in den Vorruhestand geschickt wird und keine Zukunft mehr hat, weil er nie etwas anderes als Bademeister war, sich auch nie für etwas anderes als seine Aufgabe interessierte und verblödete. Die Verwalterin des Volksbades und der Hausmeister hänselten ihn, ohne dass er sich wehrte, und mit dem Heizer Klaus sprach er auch nicht viel. Sein engster Bekannter war der Kioskbesitzer, bei dem er jeden Morgen auf dem Weg zum Volksbad zwei Brötchen fürs Mittagessen mitnahm. Nicht einmal mit seiner Mutter, bei der er immer noch wohnte, mochte er reden.

Aus dem Monolog erfahren wir, dass der Vater des Bademeisters sich vor vierzig Jahren erhängte, vermutlich, weil man ihn beschuldigte, an Massenerschießungen von Juden beteiligt gewesen zu sein. Aber der Protagonist weiß darüber ebenso wenig wie über seinen Vorgänger, der ihm von Gefangenen erzählt hatte, die bei Kriegsende im Volksbad erschossen worden waren.

Katharina Hacker erzählt in ihrem Debütroman „Der Bademeister“ konsequent aus der Perspektive des beschränkten Protagonisten, der das baufällige Hallenbad nicht mehr verlässt und kaum etwas anderes tut als vor sich hin zu brabbeln. Die Sprache wirkt entsprechend einfach und karg, aber wenn man genauer hinhört, merkt man, wie geschliffen und wie rhythmisch die Formulierungen sind. Das gilt auch für die Wiederholungen mit und ohne Variationen („ich habe nie viel gesprochen“, „ertrunken ist mir keiner“), die typisch sind für das Gerede einfacher Menschen, das ständig um Dinge kreist, die ihnen wichtig sind oder aus gedankenlos angewöhnten Floskeln bestehen.

Diesen einsamen, kontakt- und kommunikationsunfähigen Mann bringt Katharina Hacker durch Andeutungen mit der deutschen Zeitgeschichte in Verbindung (Holocaust, Kriegsverbrechen, Angst vor Spitzeln in der DDR, Öffnung der Berliner Mauer, Wende, Vorruhestandsregelungen).

Es ist Katharina Hacker eindrucksvoll gelungen, in dem mäandernden Monolog eine erschütternde Geschichte zu erzählen, ein eindrucksvolles Charakterbild zu zeichnen und eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen.

„Der Bademeister“ von Katharina Hacker ist große Literatur.

Katharina Hacker wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Abitur am Heinrich-von-Gagern-Gymnasium (1986) studierte sie Philosophie, Geschichte und Judaistik in Freiburg und ab 1990 an der Hebrew University in Jerusalem. 1996 kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete zunächst als Übersetzerin. Ihr Debüt als Schriftstellerin gab Katharina Hacker 1997 mit der Stadterzählung „Tel Aviv“. Es folgten „Morpheus oder Der Schnabelschuh“ (1998) und „Skizze über meine Großmutter“ (1999). „Der Bademeister“ ist ihr erster Roman. Für ihren Roman „Die Habenichtse“ wurde Katharina Hacker 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

2010 erschien ihr Roman „Die Erdbeeren von Antons Mutter“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 / 2010
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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