Arnon Grünberg : Der Vogel ist krank

Der Vogel ist krank
Originalausgabe: De asielzoeker Nijgh & Van Ditmar, Amsterdam 2003 Der Vogel ist krank Übersetzung: Rainer Kersten Diogenes Verlag, Zürich 2005 ISBN: 3-257-06470-5, 496 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Seit zehn Jahren lebt der frühere Schriftsteller Christian Beck mit seiner Lebensgefährtin, die er "Vogel" nennt, in Göttingen und übersetzt Gebrauchsanweisungen. Als bei der 43-Jährigen Krebs im Endstadium diagnostiziert wird, heiratet sie einen Asylanten. Ihm könne sie noch etwas nützen, meint sie. Statt sich zu wehren, überlässt Beck den beiden das Schlafzimmer und schlägt sein Bett in der Garderobe auf ...
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Kritik

Arnon Grünberg lässt sich in dem Roman "Der Vogel ist krank" viel Zeit, die zugleich hoffnungslose, tragische und komische Geschichte zu erzählen; der fehlende Schwung wird jedoch durch Sprachwitz und Situationskomik weitgehend kompensiert.
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„Der Vogel ist krank.“ Eines Morgens, es ist noch früh, aber schon drückend schwül, die Hitze von Wochen brütet in der kleinen Wohnung, wird Christian Beck mit diesen Worten von seiner Frau geweckt. Sie trägt ihr weißes Nachthemd, das sie mit zwölf auch schon hatte. (Seite 5)

Mit diesem Absatz beginnt Arnon Grünberg seinen Roman „Der Vogel ist krank“.

Christian Beck war Schriftsteller, aber seit zehn Jahren zieht er es vor, Gebrauchsanweisungen aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Die meisten seiner Kollegen machen das nur übergangsweise; Beck hat sich daran gewöhnt. Als man ihm in dem Übersetzungsbüro eine Beförderung zum Koordinator anbot, lehnte er ab, denn er wollte keine zusätzliche Verantwortung übernehmen. Seine langjährige, ein paar Jahre ältere Lebensgefährtin, die er „Vogel“ nennt, arbeitet zu Hause an einem wissenschaftlichen Projekt, von dem Beck nur weiß, dass es mit Experimenten über den Spracherwerb von Tieren zu tun hat.

Bis vor zehn Jahren hielt sich die Forscherin wegen ihres Projekts mit Beck in dem südisraelischen Badeort Eilat auf. Während sie Tiere beobachtete, suchte Beck praktisch jeden Tag – außer an Jom Kippur, weil da geschlossen war – ein Bordell auf. Nicht immer verschwand er mit einer der Prostituierten im Luftschutzkeller; manchmal saß er nur mit der aus Georgien stammenden Puffmutter zusammen, die ihn mit getrockneten Feigen fütterte und „Teufelchen“ nannte. Mit seiner Frau schlief er schon lange nicht mehr. Weil er nicht einmal sie an sich herankommen ließ, beschwerte sie sich:

„Das einzige, was ich weiß, ist […] dass du es mir an nichts fehlen lässt, deine Pflege ist perfekt, alles, was ich haben möchte, kann ich bekommen. Bis auf dich.“ (Seite 180f)

Beck ließ sich gehen, denn er hielt das Leben für sinnlos. Diese Erkenntnis versuchte er früher seinen Bekannten aufzudrängen; er wollte ihnen die Illusionen nehmen und die Masken abreißen.

Eines Tages, als er nach Hause kam, fand er einen Krüppel im Sessel vor, den seine Lebensgefährtin in Eilat auf der Straße aufgelesen hatte. Simon bleibe über Nacht, erklärte sie, und er werde mit ihr im Bett schlafen. Für Beck richtet sie eine Liege neben dem Bücherschrank her. Er protestiert:

„Du bist dabei, den Verstand zu verlieren, du wirst wahnsinnig. Ein Rabbiner, zwei Rabbiner, vier Ägypter, sechs Australier, alles okay, warum nicht? Erfahrungen – wer bin ich, dir irgendwelche Erfahrungen zu verwehren? Aber ein Krüppel, das kannst du mir nicht antun, das ist Wahnsinn.“ (Seite 96)

„Denkst du, das ändert was? Jemand, der fast kein Mensch mehr ist, und du hältst ihn im Arm, eine Nacht, zwei Nächte, drei Nächte, na und, was bringt das? Irgendwann musst du ihn loslassen. Wenn du ihm wirklich einen Dienst erweisen wolltest, müsstest du ihm den Schädel einschlagen.“ (Seite 127)

Auf Simon folgten andere: Kriminelle, Arme, Verrückte. Und sie begann, Kleidung für Bedürftige zu sammeln. Vergeblich versucht Beck, den Vogel davon abzubringen.

„Du verschenkst Kleidung an Menschen, die sie nötiger brauchen als wir, in Ordnung. Du verschenkst Möbel, ich kann damit leben. Du gibst Leuten Geld, um ihnen etwas zu ermöglichen, unser Geld, mein Geld – warum nicht? […] Aber jetzt hast du den Punkt erreicht, wo du dich selbst weggibst – verschleuderst! Dich selber, hörst du? Und das tut man nicht, auch nicht für einen guten Zweck, ein Mensch darf sich nicht selbst wegwerfen. Punkt. Das ist meine Definition von Mensch: Jemand, der sich nicht selbst wegwirft. Verkaufen, ja, prima, aber wegwerfen? – Nein!“ (Seite 123f)

Beck beschloss, seine Frau zu verlassen und nach Europa zurückzukehren. Er kaufte ein Ticket nach Tel Aviv und ging noch einmal ins Bordell, um seine vierteljährige Rechnung zu bezahlen und sich zu verabschieden. Die Puffmutter lud ihn ein, noch einmal kostenlos mit Sosha in den Luftschutzkeller zu gehen, während sie Rechnungspositionen zusammenstellte. Seit seine Frau den Krüppel mit nach Hause gebracht hatte, bevorzugte Beck die Prostituierte Sosha Minkiewicz, weil sie die hässlichste in dem Bordell war. Auch dieses Mal graute ihm vor dem Rasierausschlag auf ihrem Schamhügel. Er drückte sie mit der Stirn gegen die Wand und drang von hinten in sie ein. Die Erektion ließ nach, aber er nahm sich zusammen.

Er hätte nicht herzukommen brauchen, aber nun, wo er einmal da war, hatte er eine Funktion, und die musste er erfüllen, so gut es ging […]
Beck tat nun, wofür er gekommen war, er tat, was von ihm verlangt wurde; mit aller Kraft, die in ihm war, stieß er sein Geschlecht in sie hinein […] (Seite 248)

Sosha hörte nicht auf, zu schreien, er habe sie kaputtgerissen. Beck stieß sie um. Als er ihr aufhelfen wollte, biss sie ihn in die Hand. Dann holte sie einen Hammer aus einem herumstehenden Werkzeugkasten, ließ ihn jedoch wieder fallen. Nur ihr Gekeife ging weiter. Plötzlich hatte Beck einen Schraubenzieher in der Hand und stach zu.

Soshas linkes Auge war nicht mehr zu retten, aber sie kam gerade noch mit dem Leben davon.

Im Verhör legte der Ermittler Beck nahe, auf Notwehr zu plädieren, aber der Beschuldigte beharrte auf der Wahrheit. Trotzdem wurde er weder eingesperrt noch vor Gericht gestellt. Zu Hause erzählte er seiner Lebensgefährtin von dem „Malheur“ im Bordell. Zornig zerstörte sie während der Auseinandersetzung das Fernsehgerät.

„Und warum musstest du ihnen die Augen ausstehen? War ficken nicht genug? Wurde es zu langweilig? […]“
Die ganze Wohnung war jetzt übersät mit Trümmern des Fernsehers. Selbst unter der Garderobe sah Beck ein paar Schrauben und Drähte liegen.
„Es wurde nicht langweilig, nicht mehr als sowieso schon. Und ich hab auch nicht ihnen die Augen ausgestochen, ich hab einer Frau ein Auge ausgestochen. Und das war ein Unfall. Und ich bin nach Hause gekommen, um dir das zu erzählen. In aller Ruhe. Und chronologisch.“
„Na, vielen Dank. Wie nett von dir. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Andere Männer stechen Frauen Augen aus und sind dann jahrelang verschwunden, gehen auf große Fahrt oder tauchen in Neuseeland unter, aber du kommst nach Hause, um mir alles zu beichten. In aller Ruhe und chronologisch.“ (Seite 307)

Kurz darauf bekam der Vogel ein Angebot von der Georg-August-Universität Göttingen und zog mit Beck in die niedersächsische Stadt.

„Der Vogel ist krank.“ – Die Dreiundvierzigjährige hat außergewöhnliche Blutungen. Beck bringt sie mit einem Taxi ins Krankenhaus. Mehrere Untersuchungen ergeben, dass sie unter einem Krebs im Endstadium leidet und nicht mehr zu retten ist.

Einige Wochen später – sie ist inzwischen auf einen Rollstuhl angewiesen – fragt sie Beck, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn sie heiraten würde. Zuerst glaubt er, sie wolle ihre Lebensgemeinschaft formalisieren, aber der Vogel will nicht ihn, sondern einen anderen Mann heiraten, einen dreiundzwanzigjährigen Berber aus Algerien mit Namen Raf bzw. Raffie, dessen Asylantrag abgelehnt wurde. Ihm könne sie noch etwas nützen, meint sie. Der Termin beim Standesamt wurde bereits für den nächsten Morgen angesetzt. Beck fungiert als Trauzeuge.

Nach der kurzen Zeremonie fragt er den Ehemann seiner Frau: „Möchten Sie vielleicht noch einem Moment auf eine Tasse Tee mitkommen?“ Der Asylant nimmt die Einladung an – und bleibt über Nacht. Während aus dem Schlafzimmer Stöhnen zu hören ist, legt Beck sich in die Garderobe. Dort ist von nun an sein Schlafplatz, denn der Asylant bleibt bei seiner Frau und leiht sich von Beck Unterhosen, Hosen und Hemden. Beck wehrt sich nicht. Wenn er nachts merkt, dass der Asylant im Bad war, steht er auf und wischt die Klobrille sauber. Er tut alles, damit es dem Vogel so gut wie möglich geht.

Das sind sie: zwei Menschen, die einander Freude bereiten wollen. Nicht nur ist er ein Gefangener seiner Vergangenheit, sie sind auch einer der Gefangene des anderen, der Gefangene guter Absichten, der Fürsorglichkeit des anderen, der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die das eigene Interesse hintanstellen […] (Seite 162)

Der Vogel und der Asylant kennen sich seit einem Jahr, betonen jedoch, dass ihre Beziehung anfangs platonisch gewesen sei.

Vor dem Tod möchte der Vogel noch lernen, wie man Ziegenkäse herstellt. Also macht Beck einen französischen Bauernhof nördlich von Mâcon ausfindig, der von zwei Schwestern aus den Niederlanden bewirtschaftet wird: Will und Alexandra. Weil Beck sein Auto seit Jahren nicht mehr benutzt hat, fährt der Asylant ihn und den Vogel damit zu dem einwöchigen Kurs auf dem Bauernhof, wo sie vom Ziegenmelken bis zur Herstellung von Boursin alles über Ziegenkäse erfahren.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Einen Monat später besteht der behandelnde Arzt darauf, dass die Krebskranke ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dort hält sie es jedoch nicht aus und drängt Beck, sie wieder mitzunehmen. Der Asylant, der früher Mitglied einer Bande war und gegen Geld Leute zusammenschlug, trägt sie nach Hause, wo sie kurz darauf stirbt.

Nach der Trauerfeier meint Beck, der Asylant könne ruhig noch ein paar Tage in seiner Wohnung bleiben, und er überlässt ihm auch weiterhin das Schlafzimmer.

Sieben Wochen später liest Beck in der Zeitung vom Selbstmordanschlag eines Transvestiten aus Manila im „Yab Yum“, einem Luxusbordell in seiner Geburtsstadt Amsterdam. Weil Beck in einer vor langer Zeit geschriebenen, aber erst kürzlich von einer Zeitschrift noch einmal abgedruckten Erzählung „Die Kinder des Yab Yum“ einen solchen Anschlag beschrieb, stürzen sich die Medien auf ihn. Er reist zu einer Talkshow in Amsterdam. Der Moderator wirft ihm vor, mit seiner perversen Fantasie den Attentäter auf die Idee gebracht zu haben und weist die Zuschauer ausdrücklich darauf hin, dass Beck in Eilat eine Prostituierte angriff und schwer verletzte.

Der Asylant verlässt Beck: Er will nach Algerien, um bei der Befreiung der Berber mitzumachen.

„Vielen Dank“, sagt der Mitbewohner, der bald kein Mitbewohner mehr sein wird.
„Für was?“, fragt Beck. „Für meine Frau? Das Essen? Die Wohnung? Die Kleidung? Wofür?“ (Seite 490)

Am folgenden Montag geht er nicht ins Übersetzerbüro, sondern zieht das weiße Nachthemd und die Schlappen seiner verstorbenen Lebensgefährtin an, geht in den Park und setzt sich im strömenden Regen auf eine Bank.

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Für den Roman „Der Vogel ist krank“ erfand Arnon Grünberg einen grotesken Plot. Daraus entwickelte er auf intelligente Weise eine komplexe Geschichte. Bei der Erzählung geht er von der mit dem Satz „Der Vogel ist krank“ beginnenden Gegenwart aus, und während er von da an chronologisch fortfährt, holt er die Ereignisse, die vor zehn Jahren stattfanden, episodenweise nach. Arnon Grünberg lässt sich viel Zeit, die zugleich hoffnungslose, tragische und komische Geschichte zu erzählen – „Grünberg zu lesen ist Waten durch Blei“ (Bernadette Conrad, „Die Zeit“, 6. April 2006) –; der fehlende Schwung wird jedoch durch Sprachwitz und Situationskomik weitgehend kompensiert.

Arnon Grünberg wurde am 22. Februar 1971 in Amsterdam geboren. Nach seinem Verweis vom Gymnasium schlug er sich als Apothekenhelfer, Tellerwäscher und Kleinverleger durch. Mit seinem Debütroman „Blauer Montag“ gelang ihm 1994 auf Anhieb ein Bestseller. Arnon Grünberg ist der bisher einzige Schriftsteller, dem der renommierte AKO-Literaturpreis zweimal verliehen wurde: für „Phantomschmerz“ (2000) und „Der Vogel ist krank“ (2003).

Grünberg liebt es, seine Figuren aus der friedlichen Resignation herauszureißen, in der sie sich bequem eingerichtet haben, und sie mit der Nase in die archaischen Abgründe tiefinnerer Gewaltbereitschaft zu stoßen.
Arnon Grünbergs Figuren und Handlungskonstruktionen kommen immer psychologisch hoch aufgeladen daher – das ist ihr Markenzeichen und sicher ein Grund für ihre literarische Anziehungskraft. Nur – dafür, dass so viel Psycho dabei ist, fehlt dann doch die Psychologie. (Bernadette Conrad, „Die Zeit“, 6. April 2006)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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