Annett Gröschner : Moskauer Eis

Moskauer Eis
Moskauer Eis Originalausgabe: Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000 ISBN: 3-378-00628-5, 287 Seiten Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002 ISBN: 3-7466-1828-2, 287 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als Annja Kobe Ende 1991 von Berlin nach Magdeburg kommt, um ihre sterbende Großmutter zu pflegen, schaut sie auch in die Wohnung ihres Vaters. Dort fällt ihr eine 30 Jahre alte Gefriertruhe auf, und darin findet sie ihn tiefgefrorenen. Wie kam er da hinein? Und wieso blieb die Temperatur bei -18°, obwohl die Hauptsicherung herausgedreht war? Annja hängt ihren Erinnerungen nach, nicht nur an eigene Erlebnisse, sondern auch an Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über das Leben in der DDR ...
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Kritik

Annett Gröschner erzählt in ihrem Roman "Moskauer Eis" weniger eine Geschichte, als dass sie mit einer Collage aus zum Teil skurrilen Anekdoten das Alltagsleben in der DDR satirisch darstellt.
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Annja Kobe wurde am 1. Januar 1964 in Magdeburg geboren. Inzwischen lebt sie in Berlin. Am 30. November 1991 erhält sie ein Telegramm aus dem Krankenhaus in Magdeburg, in dem ihre an Altersdemenz leidende, todkranke Großmutter Elsa Kobe liegt. Man teilt Annja mit, dass ihr Vater nicht auffindbar sei und sie sich deshalb um ihre Großmutter kümmern müsse, die man nicht länger im Krankenhaus behalten könne. Annja fährt mit ihrem Auto nach Magdeburg. Aber statt die sterbende Greisin in ein Pflegeheim zu bringen, wie die Ärzte ihr raten, pflegt sie ihre Großmutter in deren Wohnung.

Bevor Annja Berlin verließ, erhielt sie in einem Brief den Schlüssel zur Wohnung ihres Vaters Klaus Kobe in Magdeburg. Als sie dort nachschaut, wundert sie sich als Erstes über die herausgedrehte Hauptsicherung, dann über die dreißig Jahre alte Gefriertruhe, deren Deckel geschlossen ist, obwohl der Stecker darauf liegt. Dabei hatte ihr der Vater immer wieder eingeschärft, dass man Kühlschränke und Gefrierschränke beim Abtauen offen halten müsse, um unangenehme Geruchsbildungen zu vermeiden. In der Gefriertruhe findet Annja ihren tiefgefrorenen Vater. Wie kam er da hinein? Und wieso blieb die Temperatur bei -18 Grad, obwohl sie nicht eingeschaltet ist. Annja weiß, dass nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Kühlung Energiezufuhr benötigt.

Sie lässt die Gefriertruhe samt Inhalt in die Wohnung ihrer Großmutter transportieren. Der Nachbarin ihres Vaters erzählt sie, er sei mit einer Grönland-Expedition unterwegs.

Während Annja ihre verwirrte Großmutter pflegt, hängt sie Erinnerungen nach, nicht nur ihren eigenen, sondern auch an das, was die Eltern und Großeltern ihr erzählten.

Großvater Paul Kobe kam nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, nach Berlin und fing im zu neunzig Prozent zerstörten Schlachthof zu arbeiten an. Seine Aufgabe war es, den Schwund zu minimieren. Bald fand er heraus, dass es die meisten Beschäftigten für eine lässliche Sünde hielten, Fleisch für den eigenen Bedarf mitzunehmen. Weil Paul keine Erfolge erzielte, wurde er am 11. Mai 1949 zu den Sowjets ins Gebäude der Deutschen Wirtschaftskommission Unter den Linden einbestellt. Zwei der Herren wollten mit ihm zum Schlachthof fahren und sich den Betrieb ansehen. Als sie vor die Tür kamen, lag Pauls Chauffeur erschossen auf dem Bürgersteig, und der Wagen war fort. Für Paul war der Autodiebstahl ein Glücksfall, denn im Kofferraum lag gestohlenes Fleisch. Schließlich vertraute man ihm die Leitung des Kälteinstituts in Magdeburg an.

Elsa Kobe wusste, dass ihr Mann sie vor allem mit seinen Sekretärinnen betrog. Einen Tag vor seinem 81. Geburtstag bat er einen früheren Chauffeur um einen Gefallen und ließ sich von ihm abholen. Die Angehörigen sahen ihn nicht lebend wieder. Elsa musste nach Rostock fahren, um die Leiche zu identifizieren. Damit gingen sechsundvierzig Ehejahre zu Ende. Paul war in einem Hotelzimmer einem Herzinfarkt erlegen, während er mit einer Prostituierten zugange war.

Annjas Mutter Barbara beabsichtigte am 12. August 1961 im Alter von neunzehn Jahren, mit der Bahn von Magdeburg nach Ostberlin zu fahren und sich von dort mit ihrer Tante Hedwig in den Westen abzusetzen. Die wichtigsten Papiere wollte Hedwig unter ihren Hängebrüsten über die Grenze schmuggeln. Aber dazu kam es nicht, denn vor dem Fahrkartenschalter wurde Barbara von Klaus Kobe eingeholt. Der fünf Jahre ältere Kälte-Ingenieur machte ihr dort in aller Öffentlichkeit kniend einen Heiratsantrag und flehte sie an, bei ihm in der DDR zu bleiben. Barbara wollte es sich überlegen. Am nächsten Tag war es zu spät für die Republikflucht: Der Ostsektor von Berlin wurde abgeriegelt, und der Bau der Berliner Mauer begann.

Im Jahr darauf heirateten Klaus und Barbara.

Am 1. Januar 1964 wurde Annja geboren. Weil Barbara im Kindbett Fieber bekam und noch einige Zeit im Landeskrankenhaus bleiben musste, holten Paul und Klaus den Säugling ab. Klaus Kobe nahm das Baby mit ins Kältelabor, wo er Versuchsreihen durchführte, legte aber vorsichtshalber einen Zettel hin: „Bitte nicht einfrieren!“

Als 1972 kein Geld mehr für die Vakuumgefriertrocknungs-Forschung vorhanden war, und die Behörden zu der Auffassung gelangten, das Volk hätte sie ohnehin weder gebraucht noch verstanden, begann Klaus Kobe Eiskremsorten zu entwickeln.

Ich war von einem extrem widersprüchlichen Vater gezeugt worden: Er liebte die DDR und hasste die führende Partei.

Weil Barbara als Eisverkäuferin arbeitete und Streicheis anbot, das Klaus als unhygienisch verabscheute, kam es zu einem heftigen Streit, in den auch Annja eingriff, indem sie ihre Mutter als „Eiskremhure“ beschimpfte. Daraufhin verließ Barbara ihre Familie, ging nach Berlin, wurde Kinokartenverkäuferin, reichte die Scheidung ein und verzichtete auf das Sorgerecht für ihre Tochter.

Annjas Onkel Günther wurde 20. Februar 1973 an der Berliner Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Straße erschossen, als er sich in einem Lastwagen versteckt in den Westen bringen lassen wollte.

Am 2. Juli 1982 erhielt Annja zwar ihr Abiturzeugnis, aber mit folgender Beurteilung:

Ihre fortschrittliche Erziehung brachte Annja Kobe nicht immer durch eigene optimistische, positive Haltung zum Ausdruck.

Weil sie aufgrund ihrer regimekritischen Einstellung nicht studieren durfte, musste sie sich im September 1982 erstmals einen Arbeitsplatz suchen. Nirgendwo behielt man sie länger als ein paar Wochen. Schließlich nahm ein Stasi-Mitarbeiter, der sich als Horst Schmidt vorstellte, mit ihr Kontakt auf und versuchte, sie als Spitzel anzuwerben. Daraufhin verließ Annja Magdeburg und zog nach Berlin. Dort schlug sie sich als Eisverkäuferin durch und arbeitete zwischendurch vier Jahre lang im Backwarenkombinat, dem Hersteller des von ihrem Vater entwickelten Moskauer Eises mit 12 Prozent Fettgehalt.

Nach der Wende kaufte kaum noch jemand Moskauer Eis. Deshalb verschenkten Annja und eine Kollegin die Reste am 31. März 1991, einen Tag bevor Detlev Karsten Rohwedder, der Präsident der Treuhandanstalt, von der RAF erschossen wurde.

Nach der Wende beschloss die Treuhand, das Kälteinstitut bis zum 31. Dezember 1991 abzuwickeln. Die Mitarbeiter wurden am 1. November entlassen. Nur Klaus Kobe und seine engste Mitarbeiterin, die vierundfünfzigjährige Diplomingenieurin Luise Gladbeck, die 1958 noch von seinem Vater eingestellt worden war, sollten noch zwei Monate bleiben und die Schließung durchführen.

Während Annja auf ihre Großmutter aufpasst, liest sie in der Zeitung von Luise Gladbecks Tod. Sie fährt mit Elsa zur Beerdigung. Weil die kranke Greisin nicht mehr gehen kann, holt Annja einen Einkaufswagen vom nächsten Supermarkt und fährt sie damit zur Aussegnungshalle. Sie erfährt, dass Luise Gladbeck am 28. November in einer Kühltruhe auf dem Schrottplatz tot aufgefunden wurde. Es handelte sich um Suizid.

Elsa Kobe stirbt am 1. Januar 1992, Annjas 28. Geburtstag. Die Urne wird am 12. Januar beigesetzt.

Mitte Januar kommt Annja mit der alten Kühltruhe zurück nach Berlin.

Im November 1993 gründet sie eine eigene Firma für die Produktion und den Vertrieb von Speiseeis.

Als der Eigentümer des Hauses, in dem sie wohnt, das Gebäude sanieren will, widersetzt Annja sich der Kündigung, aber der Räumungsklage des Vermieters wird am 3. April 1995 stattgegeben. Am 24. April kommen die Mitarbeiter der Spedition, die mit der Räumung beauftragt wurde, und brechen im Beisein von herbeigerufenen Polizisten die Türe auf, weil Annja nicht in der Wohnung ist. In der Küche steht eine abgetaute Gefriertruhe Marke „Grönland“ aus dem Jahr 1960.

Vor drei Wochen wurde Annja zum letzten Mal gesehen, und zwar mit ihrem früheren Mitschüler Ernst Palluschek („Luschi“). Annjas Mutter, die inzwischen über „Die Frau in der sozialistischen Arbeitswelt“ promovierte, gibt an, Annja zuletzt an deren 31. Geburtstag besucht und seither nichts mehr von ihr gehört zu haben.

Die Polizei geht jetzt davon aus, dass der Ende 1991 verschwundene Klaus Kobe ermordet wurde. Der Verdacht richtet sich gegen seine ebenfalls nicht mehr auffindbare Tochter, die deshalb zur internationalen Fahndung ausgeschrieben wird.

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Während die Ich-Erzählerin Annja Kobe Ende 1991 / Anfang 1992 ihre sterbende Großmutter pflegt, erinnert sie sich an ihre eigenen Erlebnisse in der DDR und das, was sie von ihren Eltern bzw. Großeltern erfuhr. Damit deckt sie die Zeitspanne vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung ab. Der Großvater, der Vater und die Tochter beschäftigten sich mit Gefriertechniken bzw. Lebensmittelkonservierung und Speiseeis-Herstellung. Das Frostige ist wohl als Metapher gemeint.

Annjas Erinnerungen sind zwar in eine Rahmenhandlung eingepasst, aber der Roman wirkt dennoch zu wenig strukturiert. In „Moskauer Eis“ geht es weder um die Entwicklung einer Handlung noch um die Figuren. Annett Gröschner erzählt weniger eine Geschichte, als dass sie mit einer Collage aus zum Teil skurrilen Anekdoten das Alltagsleben in der DDR satirisch darstellt. Positiv ist, dass sie dabei weder die Missstände anprangert, noch ins Sentimentale, Nostalgische abgleitet. Für in der DDR aufgewachsene Leserinnen und Leser wird das mit sehr viel eigenen Erinnerungen assoziiert sein.

Als Kapitelüberschriften verwendet Annett Gröschner Zitate aus dem 1950 veröffentlichten „Lexikon der Kältetechnik“ von Johannes Heinrich Dannies (Markewitz-Verlag, Darmstadt).

Die Ich-Erzählerin Annja Kobe weist Parallelen zur Biografie der Autorin auf: Beide wurden in Magdeburg geboren (Annja Kobe 1964, Annett Gröschner zwei Jahre später) und beide zogen als junge Frauen nach Berlin.

Professor James Bedford aus Phoenix, Arizona, und The Cyrogenic Society of America gab bzw. gibt es wirklich. Bei der CSA handelt es sich um eine Non-Profit-Organisation, die sich mit Kyro-Konservierung beschäftigt, also mit dem Aufbewahren von Zellen bzw. Organismen in flüssigem Stickstoff. Mit diesem Verfahren können diese über einen längeren Zeitraum hinweg in einer Art Kältestarre gehalten werden. Taut man sie dann fachgerecht wieder auf, leben sie weiter. James Bedford – er starb am 12. Januar 1967 im Alter von dreiundsiebzig Jahren an Krebs – war der erste Mensch, der sich einfrieren ließ, und zwar in der Hoffnung, er könne später, wenn man seine Krankheit heilen kann, irgendwie wieder zum Leben erweckt werden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Gustav Kiepenheuer Verlag

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