Julien Green : Fremdling auf Erden

Fremdling auf Erden
Originalausgabe: Le voyageur sur la terre, 1930 Fremdling auf Erden Übersetzung: Elisabeth Edl mit einem Nachwort von Wolfgang Matz Carl Hanser Verlag, München 2006 ISBN: 9783446207370, 180 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Schauergeschichten:

Fremdling auf Erden
Die Schlüssel des Todes
Christine
Leviathan (Die vergebliche Überfahrt)
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Kritik

Die Schauergeschichten, die den Leser am Schluss ins Leere laufen lassen, sind deshalb so spannend, weil die Handlung aus der subjektiven Wahrnehmung der Personen erzählt wird und keine eindeutige Auflösung möglich ist: "Fremdling auf Erden".
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Fremdling auf Erden

Bei literarischen Forschungen stößt ein Übersetzer, der in „Fremdling auf Erden“ als Erzähler fungiert, auf Dokumente, die über einen Vorfall berichten, der sich 1895 in der Universitätsstadt Fairfax in den Vereinigten Staaten ereignete:

Am 10. September wurde die Leiche eines jungen Mannes im Fluss gefunden. Der Siebzehnjährige war wohl an einer Böschung ausgerutscht und dann über einen steilen Hang ins Wasser gestürzt. Es kursierten verschiedene Versionen über den Hergang des Unfalls. Ursprünglich ging man davon aus, dass Daniel O’Donovan, der sich erst seit wenigen Tagen in der Stadt aufhielt, Selbstmord begehen wollte. Eine feierliche Bestattung sollte ihm daher verweigert werden. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Suizidabsicht nicht eindeutig nachweisbar war, und so hieß es dann, er sei „gestorben durch die Heimsuchung Gottes“. Der Redakteur der lokalen Zeitung veröffentlichte ein von O’Donovans hinterlassenes autobiografisches Manuskript, das allerdings an entscheidender Stelle abbrach. Einige Leser sahen sich veranlasst, der Zeitung ihre Sicht der Begebenheit zu schildern.

Wenden wir uns zunächst dem Manuskript Daniel O’Donovans zu, das er am 6. September in Fairfax verfasste. In der Niederschrift betont er, sie sei für keinen anderen bestimmt, er wolle sich nur an seine Kindheit erinnern und die Blätter dann vernichten.

Mit elf Jahren verlor Daniel fast gleichzeitig Vater und Mutter. Einer amtlichen Verfügung zufolge sollte er von seinem Onkel aufgenommen werden, was dieser nur widerwillig tat. Der Onkel war ein wortkarger Eigenbrötler, der sich vorwiegend in seiner sogenannten Bibliothek aufhielt und sich eigentlich nur für seine Bücher interessierte. Er beabsichtigte, sich auch selbst einmal literarisch zu betätigen. Sogar bei den Mahlzeiten verweilte er nur kurz, um jede Gelegenheit zu vermeiden, mit seiner Frau in Kontakt zu kommen. Die pedantische Frömmlerin war darüber aber nicht böse, denn sie verabscheute ihren Mann. Im Gegensatz zu ihm gab sie sich gerne mit ihrem Neffen ab. Sie erging sich in moralischen Betrachtungen und erzählte ihm auf so umständliche Weise Geschichten, dass er sie nicht verstand. Im selben Haushalt wohnte auch der Vater von Daniels Tante. Der alte Mann hatte ebenfalls ausgeprägte Eigenheiten und rieb seinem Schwiegersohn fortwährend unter die Nase, dass dieser stolz könne, ihn, einen ehemaligen Hauptmann, der unter dem Banner der Südstaaten im Sezessionskrieg gekämpft hatte, unter seinem Dach zu haben.

Als Daniel fünfzehn war, starb seine Tante. Der Hauptmann ging nicht auf die Beerdigung seiner Tochter. An den Mahlzeiten nahm er seither nicht mehr teil, und nach einem Monat ließ er Daniel eine Nachricht überbringen, er möge seinem Onkel ausrichten, dass er nicht mehr bei seinem Schwiegersohn wohnen wolle.

Da Daniel keine Schule besuchen musste – sein Onkel hatte auch hier eine eigenwillige Theorie –, lebte er in vollkommener Einsamkeit, von der wenigen Zeit abgesehen, die der Onkel ihm widmete. Wachsende Unruhe trieb den inzwischen Sechzehnjährigen dazu, aus dem Haus zu gehen und die Umgebung zu erkunden. Er hatte sich bis dahin um nichts kümmern müssen, war weltfremd und wusste nicht, was er tun sollte, falls sein Onkel sterben würde.

Eines Tages ließ der Hauptmann Daniel erneut eine Nachricht zustellen, mit der er ihn um einen Besuch bat. Der alte Mann hatte Geld gespart, von dem er dem Jungen jetzt etwas abgeben wollte. Er drückte dem Jungen eine Rolle Geldscheine in die Hand und versetzte in damit in die Lage, das Haus seines Onkels verlassen zu können und ein Studium an der Universität von Fairfax aufzunehmen. Das Geld sollte für ein Jahr reichen.

Unschlüssig, ob er den Rat seines Gönners befolgen sollte, wägte Daniel bei einem Spaziergang alle Eventualitäten ab. Unerwartet schnell entschied er sich, schon am nächsten Tag wegzugehen. Unverzüglich packte er seinen Koffer und schrieb einen Brief an seinen Onkel, den er zur Post gab. Das Abendessen verlief schweigsam wie immer, nur dass der Onkel ihn anschließend aufforderte, ein Diktat von ihm aufzunehmen. Es sollte sich um das Vorwort zu seinem geplanten Buch handeln. Das bestärkte Daniel in seinem Beschluss zur Abreise, denn er hatte keine Lust, den Sekretär für seinen Onkel zu spielen.

Am Nachmittag des nächsten Tages kam er mit dem Zug in Fairfax an. Vom Kutscher, der ihn zur Universität brachte, erfuhr er, dass der Unterricht erst in vierzehn Tagen beginnen würde. Das warf seine Pläne durcheinander. Verwirrt setzte er sich auf eine Bank und überlegte, was zu tun war.

Ein Mann, etwas älter als er, kam auf ihn zu und sprach ihn an. Er sei wohl in der gleichen Lage wie er, also auch zu früh angereist, vermutete er. Immerhin seien sie in der glücklichen Lage, sich die besten Pensionszimmer aussuchen zu können. Sie gingen miteinander los und läuteten an einem der Häuser, die Vermietungen ausgeschildert hatten. Der neue Bekannte ließ Daniel die Verhandlungen mit der Wirtin führen. Er seinerseits würde sich ein Zimmer in der Stadt suchen. Sie besichtigten beide das Zimmer, das die Wirtin ihnen zeigte, und Daniel stimmte den Bedingungen zu. Geschmeichelt fühlte er sich, dass ihm sein Begleiter beim Auspacken seiner Habseligkeiten zusah und ihn zu den verschiedenen Gegenständen befragte. Was Daniel allerdings etwas befremdete, war das mangelnde Interesse, das der Andere seinen Büchern gegenüber aufbrachte. Als alles weggeräumt war, verabschiedete sich sein Gefährte mit der Bemerkung, Daniel könne ihn Paul nennen.

Die Rolle Geldscheine hatte Daniel bereits in seine Rocktasche gesteckt, als eine Glocke im Treppenhaus geläutet wurde. Es war das Zeichen fürs Abendessen. In einem kleinen, lieblos eingerichteten Raum standen auf einem langen Tisch ohne Decke grobe Teller und gefüllte Brotkörbe. Da niemand kam, fing Daniel nach ein paar Minuten an, Brot zu essen. In dieser trostlosen Situation überfiel ihn Traurigkeit, so wie er oft – hauptsächlich abends – verzweifelt war. In diesen Fällen half ihm auch „der Verstand nicht weiter“.(Solche Anfälle von Niedergeschlagenheit erwähnt Daniel O’Donovan noch öfter in seinem Manuskript.) Während er das trockene Brot hinunterwürgte, kam eine dunkelhäutige junge Bedienstete mit einer Schüssel herein und stellte sie auf den Tisch. Er aß fast nichts, ging so schnell wie möglich in sein Zimmer zurück und nahm sich ein Buch vor.

Nach einer Stunde trat Paul in sein Zimmer. Er verstand es, Daniels Vertrauen zu gewinnen, sodass dieser ihm seine Lebensgeschichte erzählte. Diese „Beichte“ gab Daniel großen Trost und Zuversicht für die Zukunft. Bevor sein Freund sich verabschiedete, wollte er noch Daniels Bücher sehen. Es waren nur wenige, und von der Auswahl hielt Paul anscheinend auch nicht viel. Eines fehle aber noch, das Daniel sich vorher in die Tasche gesteckt hatte, monierte Paul, und Daniel stellte das Buch daraufhin zu den anderen. – Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.

In der Niederschrift Daniels folgt ein Kapitel, das mit „Traum“ überschrieben ist. Darin schildert er einen Albtraum, den er dreimal durchlitt:

Er hört den Atem eines Schläfers: es ist sein eigener, und er sieht sich „durch eine unerklärliche Verdoppelung“ selbst in seinem Bett. Nach einem Klagelaut stürzt er zur Tür und lässt den Körper auf dem Bett zurück. Und dann tritt Paul mit zerrissenen und schmutzigen Kleidern ins Zimmer. Sie gehen beide nach draußen, in Richtung Universität. Stundenlang marschieren sie auf glitschiger Erde querfeldein, gehen einen Berg hinauf, und dann schreit Paul: Der Lauf ist zu Ende! Daniel rennt „seinem Führer“ hinterher, holt ihn endlich ein, und Paul nimmt ihn an der Hand. Von dort oben blicken sie auf ein tosendes Wasser in einem Schlund, aus dem Schreie heraufdringen. Daniel hört noch Pauls Stimme rufen: Die Quelle des lebendigen Wassers!, bevor er zu Boden sinkt.

Als er wieder zu sich kommt, in seinem Zimmer, allein neben dem Bett, sieht er den ausgestreckten Körper in seinem Bett, aber diesmal mit gebrochenen Gliedmaßen und blutend, als hätte man die Haut abgezogen. Das Gesicht ist in unbeschreiblicher Weise verzerrt, und er sieht, wie sich die Lippen langsam zu einem Schrei öffnen. Der Schrei aus diesem Gesicht weckt ihn.

Nachdem er den Traum zum dritten Mal durchgemacht hatte, zwang er sich zum Schreiben, um nicht noch einmal einzuschlafen. Er wusste nicht, wie die Zeilen aufs Papier kamen, aber da stand: Die Quelle des lebendingen Wassers! Er schrieb eine halbe Stunde lang weiter, bis es dämmerte und ihm der Kopf auf den Tisch sank. Traumlos schlief er bis zum Morgen. Nach dem Erwachen wunderte er sich über seine Niederschrift, deren Sinn er nicht zu entwirren vermochte.

An diesem Vormittag ging er los, um sich in der Universität einzuschreiben. Gerne hätte er Paul dabei gehabt, aber der war nicht gekommen. Im Sekretariat erfuhr er, dass das Immatrikulationsbüro erst in einer Woche öffnen würde. Da bis zum Mittagessen noch drei Stunden hin waren, machte er einen Spaziergang, der ihn in einen Hohlweg führte. Dort bekam er Angst; er meinte vor jemandem fliehen zu müssen und geriet außer Atem.

Aber habe ich schon gesagt, dass ich zu Anfällen von Panik neige, deren Ursache oder Anlass ich nicht zu ergründen vermag? Das ist meine Schwäche, das Traurige und Schändliche in meinem Leben, und ich leide darunter, es nicht erklären zu können. Warum bin ich nicht wie alle anderen Menschen? Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich hinter allem was ich tue, hinter allem, was ich denke, viele Dinge verbergen, die ich nie begreifen werde. Kommen sie nicht aus mir, aus meinem Gehirn? Und wenn sie aus mir kommen, warum bleiben sie mir dann fremd. Gehöre ich mir nicht? Ist ein Teil meiner selbst unerreichbar für mich? (Seite 43)

In der Mitte des Hohlwegs glaubte er, von jemand verfolgt zu werden. Ihm wurde schwindlig; mit geschlossenen Augen lief er schreiend weiter, aber ein jäher Schmerz in seinem Kopf zwang ihn, stehenzubleiben. Als er die Augen wieder aufmachte, befand er sich an einem steil ansteigenden Waldstück. Seine Panik verschwand (sie verschwand immer, wenn er zu laufen begann), und er kehrte um.

Er gelangte auf eine Landstraße, wo er mehreren Leuten begegnete. Einige grüßten ihn; ein Geistlicher blieb stehen und begann ein Gespräch mit ihm. Daniel vermutete, es sei der Universitätsseelsorger. Als dieser auf die Bibel und die Reinheit zu sprechen kam, versicherte Daniel, dass er sich „vor dem Lesen ketzerischer Bücher hüte wie vor dem Feuer […], denn die Unreinheit wird in der Bibel als etwas so Verabscheuenswertes dargestellt, dass sie offenbar die Sünde ist, die am schwersten vergeben wird.“ (Seite 44) Der Geistliche sagte noch, „man dürfe die Dinge nicht durcheinanderbringen“ und verabschiedete sich. Daniel freute sich über das Gespräch.

In seinem Zimmer fand er Paul vor. Im Kamin glomm Asche, und er stellte fest, dass seine Bücher nicht mehr an ihrem Platz standen. Als Paul merkte, dass Daniel seine Bücher suchte, hielt er ihm ein paar Geldscheine hin und sagte, er habe sie ihm abgekauft, vierzehn seien es gewesen. Und wo sind die Bücher, fragte Daniel. Die habe er verbrannt, sagte Paul. Daniel war so verblüfft, dass er das Geld fallen ließ und zu fragen vergass, warum Paul die Bücher vernichtete. Überdies wunderte er sich, dass er seinem Bekannten nicht böse war. Dieser hob das Geld auf und steckte es Daniel in die Rocktasche mit der Bemerkung, dass er es wohl brauchen werde. Dann fasste Paul ihn am Arm und drückte ihn auf einen Stuhl.

Hier endet der erste Teil des Manuskripts. Im Folgenden geht es um den zweiten Teil, der das Datum des übernächsten Tages trägt.

Um sich von seiner Niedergeschlagenheit abzulenken, schrieb Daniel einen Bericht, der alles enthalten sollte, was ihm in seiner Kindheit und seither widerfuhr. Er hoffte, damit „das Ungewöhnliche, das in seinem Leben war“, besser verstehen zu können.

Als er am Morgen des nächsten Tages die letzte Zeile geschrieben hatte, suchte er vergeblich sein Portemonnaie. Bei seiner Ankunft hatte er Kleidungsstücke zu einer Wäscherin geschickt. Als sie ihm sauber zurückgebracht wurden, suchte er in den Rocktaschen und anderswo nach der Geldbörse, konnte sie aber nirgends finden. Die Wäscherin, die ihm seine Aufregung ansah, gab ihm Aufschub mit der Bezahlung. Er besaß nur noch den kleinen Geldbetrag von Paul.

In dieser Situation kam Paul zu Besuch. Daniel wollte ihn um Rat fragen, was zu tun war, aber gleichzeitig verdächtigte er ihn, das Geld gestohlen zu haben, als er seine Bücher verbrannt hatte. (Er meinte nämlich sich erinnern zu können, das Portemonnaie in die Tasche des Anzugs gesteckt zu haben, den er in den Schrank gehängt hatte.) Anstatt empört sein, denn der Dieb stand ja vor ihm, wie Daniel vermutete, fand er das nun unwichtig und bat Paul um Hilfe. Es gäbe hundert Arten, Geld zu verdienen, antwortete Paul und fragte ihn, ob er aus seinen Büchern nichts gelernt habe. Diese Frage, die Daniel als grausam, aber richtig empfand, war der Auslöser für seine folgenden Überlegungen:

Sie brachte Licht in mein Leben. Ich konnte nichts, ich hatte meine Zeit mit Lesen vergeudet, und ich hatte keinerlei Nutzen daraus gezogen. Ganze Jahre waren vergangen, und ich hatte gelebt, als würde mein Onkel ewig leben und sich bis ans Ende meiner Tage um mein Wohlergehen kümmern. Ich war entsetzt über die Ohnmacht, die ich in mir entdeckte, und ich war versucht, Paul ins Gesicht zu schreien: „Lassen Sie mich nicht im Stich. Ich unterwerfe mich Ihnen in allem. Sie befehlen, und ich gehe, wohin Sie wollen.“ (Seite 47)

Sein Stolz hielt ihn jedoch von einer Untertänigkeit ab. Er sah sich plötzlich in einem Wandspiegel und war entsetzt, welches Abbild er darin erkannte: Das Gesicht entstellt von Unsicherheit und Angst, geweitete Augen und der Mund halb offen. Die Wangen waren bleich und die zu weit auseinanderstehenden Augen verliehen ihm ein eigenartiges Aussehen. Er verabscheute sich, schlug die Hände vors Gesicht. Als er sie sinken ließ und Paul anblickte, der ihm gegenüber saß, sah er ihn mit einer Klarheit, in der er sich selbst gerade im Spiegel erblickt hatte. Obwohl Pauls Gesichtszüge grob waren, lag in seinem Blick „etwas so Eigenartiges, etwas so Ruhiges und Gewaltiges, dass sein Gesicht zu strahlen schien“. Daniel vermeinte zu spüren, dass Paul sich weder irren noch Böses tun könnte, und dass dieser seine Schwächen sah, ohne ihn deshalb zu verachten. Ihm allein traute er zu, ihn führen zu können.

Wenn Paul einwillige, ihm zu helfen, würde er alles tun, was er von ihm wolle, versprach Daniel. Paul meinte nur, er müsse sich schon allein aus der Affäre ziehen – und dann ging er weg. Paul ließ einen in seinem Stolz gekränkten Menschen zurück, der überdies enttäuscht war, dass er sich vor einem nahezu Unbekannten erniedrigt hatte.

Doch es gibt eine Art von Gewöhnung an die Verzweiflung, die Resignation heißt, und diese Resignation kam ziemlich schnell. Ich sagte mir, das ich die Demütigungen, die ich erlitt, verdient hatte, und dass ich noch ganz andere erleiden würde, solange ich meine Eigenliebe und meine Anmaßung nicht mit Füßen trat. Ich empfand bittere Freude, während ich mir diese Dinge immer wieder sagte und mein Unglück gewissermaßen in seinem ganzen Umfang an mir vorüberziehen ließ. (Seite 48)

Doch plötzlich kam er zu der Erkenntnis, dass es für seine Traurigkeit keinen Grund gab. Er wollte sich nicht länger als Opfer der bestehenden Umstände bemitleiden, sondern dem Besitz „irdischer Güter, irdischer Zuneigung und jeder Hoffnung auf irdisches Glück“ entsagen.

Dieser Sinneswandel gab ihm das Gefühl, dass sich sein Geist von seinem Fleisch trennte und er sich selbst entrissen wurde. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Mit einem Schrei sprang er auf, stürzte aber sofort nieder. Er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte, aber als er aufstand, war es finster, und es regnete. Kopfschmerzen und eine allgemeine körperliche Schwäche hinderten ihn nicht, einen Zettel zu lesen, den er auf dem Tisch fand. Die Nachricht war von Paul unterschrieben:

„Jemand, der stark ist, wird kommen und dich in seine Obhut nehmen und auf allen Wegen deines Lebens geleiten, wenn du ihm keinen Widerstand entgegensetzt.“ (Seite 49)

Die letzten Worte in Daniel O’Donovans Manuskript lauten: „Ich blieb die ganze Nacht wach. Im Morgengrauen schrieb ich den obenstehenden Bericht.“

Ein Brief des Chefredakteurs der lokalen Zeitung an Mr Drayton, dem Onkel O’Donovans, liegt bei den Ermittlungsunterlagen.

Darin teilte er Mr Drayton mit, dass er sich wegen der Recherchen zu Berichten in seiner Zeitung an die Pensionswirtin gewandt habe, bei der O’Donovan das Zimmer gemietet hatte. Ein Tag nach dem Tod des jungen Mannes durfte er in Begleitung von Miss Smyth, der Wirtin, den Raum besichtigen, der nicht mehr betreten worden war, seit Daniel ihn verlassen hatte. In einer Schublade fanden sie ein langes Manuskript, das nur vom letzten Bewohner des Zimmers stammen konnte. Die Schrift verglichen sie mit dem Eintrag O’Donovans in dem Heft, in das sich alle Pensionsgäste einschreiben mussten. Die Schriftproben stimmten überein. Miss Smyth überantwortete ihm das Dokument unter der Bedingung, es den Behörden auszuhändigen. Der Redakteur übergab die Papiere jedoch unverzüglich dem Setzer. Da in der Leserschaft allgemeines Interesse an dem Fall von Mr Draytons Neffen bestand, besonders im Hinblick auf dessen vermuteten Selbstmord, sah der Redakteur es als seine Pflicht an, Licht in die Angelegenheit zu bringen, damit das „Andenken des Toten wie die Würde seiner Familie“ nicht verletzt wurden. Da er als Berichterstatter der Einzige war, der anhand des Schriftstücks nachweisen konnte, dass Daniel O’Donovan nicht die Absicht gehabt hatte, sich das Leben zu nehmen, gab er das Manuskript in den Druck. Mr Drayton wollte er Probeabzüge schicken.

Charles Drayton ließ den Zeitungsherausgeber in seiner Anwort wissen, dass dieser zwar freie Hand habe, das Manuskript seines Neffen zu veröffentlichen, es aber schon an Ironie grenze, ihm die Probeabzüge (die er noch nicht erhielt) zusenden zu wollen, nachdem der Druck bereits erfolgt war. Für etwaige Verleumdungen oder Verfälschungen der Fakten, die sich womöglich in die Niederschrift seines Neffen eingeschlichen haben, trage selbstverständlich der Chefredakteur die Verantwortung. Er mache ihn deshalb darauf aufmerksam, weil es bei seinem Neffen öfters vorgekommen sei, dass er Tatsachen entstellt erzählt habe, ohne es zu wollen. Charles Drayton hielt es für notwendig, seine Stellungnahme im Anschluss an den Zeitungsbericht zu veröffentlichen. Er wollte die nächsten Tage in Fairfax sein, um mit ihm über die Angelegenheit zu sprechen. Vorab schickte er ihm sein Manuskript.

Charles Drayton schilderte seine zurückgezogene, dem Lesen gewidmete Lebensweise und seine Ehe mit der ungeliebten Frau, die ihre Zuneigung ihrem Vater zuwandte. Diese Ausführung wich nicht von der Darstellung Daniels ab. Drayton erwähnte noch seinen Schwager mit einer „rätselhaften Krankheit, einer Art chronischer Schwermut, die er mit Drogen bekämpfte“. Mit knapp vierzig Jahren war dieser gestorben. Seine Frau war kurz darauf verrückt geworden und lebte nun bei ihren Eltern. Drayton wurde gesetzlich gezwungen, den zehnjährigen Neffen bei sich aufzunehmen, obwohl er Kinder grundsätzlich nicht mochte. Der schwächliche, argwöhnische Junge, der kaum mit seinem Onkel sprach, hatte noch anderere merkwürdige Eigenarten. So kam es vor, dass er plötzlich aus dem Zimmer stürmte und schreiend in den Garten lief. Draytons Frau war sehr religiös, und für diesen bigotten Eifer konnte sie auch das Kind gewinnen. Um Daniel diesem schädlichen Einfluss zu entziehen, holte Drayton ihn mehrmals im Monat zu sich und vermittelte ihm allgemeine Regeln im sozialen Verhalten, und da der Neffe Bücher liebte, erlaubte er ihm, sich aus der Bibliothek zu holen, was ihn interessierte. Ansonsten war Drayton der Ansicht, dass man Kindern keine Vorschriften machen solle, damit sie sich frei entfalten können. Daher schickte er Daniel auch nicht zur Schule. Der Junge redete immer weniger und vertraute sich auch seiner Tante nicht mehr an. Nach seinem siebzehnten Lebensjahr sollte er dem Onkel bei seinen literatischen Arbeiten dienlich sein.

Von der Pensionswirtin, Miss Smyth, gibt es ebenfalls einen Bericht:

Am 2. September läutete bei ihr ein anständig gekleideter junger Mann, der auf Zimmersuche war. Obwohl die Universität erst in zwei Wochen öffnen würde, wollte er sich schon jetzt bei ihr einquartieren. Er war allein. Sie zeigte ihm ein Zimmer. Am nächsten Tag ging sie mit dem Dienstmädchen in sein Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass Ordnung und Sauberkeit herrschte. Ihr fielen die Bücher auf: Zu ihrem Missfallen lauter Romane fremdländischer Herkunft, aber keine Bibel, sodass sie beschloss, ein wachsames Auge auf ihren Pensionsgast zu haben. Er kehrte bald darauf in sein Zimmer zurück, das er bis zum nächsten Tag außer zum Mittag- und Abendessen im Haus nicht mehr verließ.

Als sie nachmittags an seinem Zimmer vorbeiging, hörte sie jemanden reden. Miss Smyth hielt sich meistens in einem kleinen Raum im Erdgeschoss auf, von wo aus sie das Gartentor im Blick hatte, sodass ihr nicht entging, wenn Personen kamen oder gingen. Da sie aber niemanden hereinkommen gesehen hatte, nahm sie an, dass der Student Selbstgespräche führte. Er sprach zu leise, als dass sie alles hätte verstehen können, aber dem Ton nach, vermutete sie, dass er sich „mit großer Bitterkeit“ irgendeine Schuld vorwarf. Er schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Und das sei doch nicht normal, wenn man Selbstgespräche führt, gab sie in ihrem Bericht zu bedenken. Sie bereute schon, einen Mann mit so seltsamem Benehmen bei sich aufgenommen zu haben.

Am nächsten Morgen ging O’Donovan früh aus dem Haus, besser gekleidet als am ersten Tag. Wieder überprüfte Miss Smyth den Zustand seines Zimmers, auch um sicherzustellen, dass keine Glut im Kamin war. Sie fand alles ordentlich aufgeräumt vor, und es roch kein bisschen nach Rauch. Beim Hinausgehen fiel ihr auf, dass die Bücher nicht mehr auf ihrem Platz waren. Dann entdeckte sie, dass diese auf einen Haufen gestapelt im Kamin lagen. Warum hatte er sie mitgebracht, wenn er sie einen Tag nach seiner Ankunft verbrennen wollte? Da ihr aber die Bücher sowieso ein Dorn im Auge waren, beschloss sie, selbst Hand anzulegen. Kurzerhand zündete sie die Bücher an, die sofort lichterloh entflammten. Ohne zu vergessen, das Dienstmädchen zum Fegen in das Zimmer zu schicken, ging sie wieder ihrer Arbeit nach. Eine halbe Stunde später kam ihr Mieter schnellen Schrittes ins Haus gelaufen. Wiederum horchte sie an seiner Tür. Er sagte ein paar Worte mit merkwürdiger, veränderter Stimme. Sie folgerte daraus, dass der junge Mann verrückt war und ängstigte sich. Um sich Rat zu holen, bat sie ihren Cousin Thomas Thornton, an dem Abendessen teilzunehmen, bei dem auch O’Donovan anwesend sein würde. So wie seine Cousine ihm den Vorfall schilderte, nahm Mr Thornton ebenfalls an, dass zumindest eine schwere seelische Störung vorliegen könnte, die man überwachen sollte.

Die Wiedergabe von Miss Smyths Brief wird hier abgebrochen. Dafür erfahren wir aus Mr Thorntons Beobachtungen Genaueres:

Mr Thornton, der eigentlich Rechtswissenschaft lehrte, traute sich zu, „den Keim der seelischen Krankheit“, an der der junge Mann wohl litt, herauszufinden. Er und seine Cousine vereinbarten, dass Thornton sich im Esszimmer aufhalten sollte, während sie in einem Nebenraum mit ihrem Mieter sprechen würde.

O’Donovan kehrte ins Haus zurück. Er schien sehr besorgt zu sein. Verstört offenbarte er Miss Smyth, dass er durch unglückliche Umstände sein Geld verloren habe. Es sei ihm gestohlen worden; er kenne zwar den Dieb, aber darüber wolle er lieber nicht reden. Ob er denn weiterhin bei ihr wohnen bleiben könne, fragte er, er würde sich dafür als Dienstbote in der Pension nützlich machen. Miss Smyth vertröstete ihn mit ihrer Antwort auf später, denn sie wollte sich erst mit ihrem Cousin besprechen. Sie beschlossen, dass er vorübergehend im Haus helfen sollte, während Mr Thornton versuchen würde, ihm eine Stelle bei einem befreundeten Notar zu beschaffen.

An diesem Abend sollte O’Donovan bereits beim Auftragen des Essens dienlich sein, zumal neue Pensionsgäste eingetroffen waren. Daniel kam mit Tellern herein, die er mit zitternden Händen austeilte; auch mit der Fleischplatte stellte er sich ungeschickt an, sodass Mr Thornton ihn anwies, nicht mehr weiter zu servieren. An den beiden folgenden Tagen schien er sich an seine Arbeit zu gewöhnen, aber er war zerstreut und blickte immer wieder aus dem Fenster, als ob er jemanden erwartete. Die anderen Gäste schauten bewusst an ihm vorbei, und man merkte, dass sie ihn nicht mochten. Am dritten Abend – das Essen war fast vorbei – sass O’Donovan an seinem gewohnten Platz neben der Tür, als er damit anfing, aufgeregt vor sich hinzumurmeln. Dann stand er auf, bewegte sich mühsam zur Tür, ging hinaus und begann zu rennen. Niemand wusste, was man davon halten sollte, zumal er beim Hinausgehen so ein eigenartiges Gesicht gemacht hatte. Sollte man ihm nachlaufen und ihn zurückholen? Die jüngste Frau der Tischgesellschaft meinte, dass es wohl keinen Sinn habe, ihm nachzulaufen:

„Weil er in Hände gefallen ist, die mächtiger sind als unsere. Er ist schon weit, und Sie werden ihn nicht mehr einholen.“ (Seite 65)

Thornton war sich ebenfalls sicher, dass Daniel „in sein Verderben rannte oder in seine Erlösung, ohne dass irgendeine irdische Macht ihn von seinem Ziel hätte abbringen können.“ (Seite 65). Die jungen Männer der Abendrunde rannten O’Donovan dennoch nach.

In einem erst später veröffentlichten Fragment eines Briefes von Miss G. legte diese ihre Überlegungen dar:

Sie meinte, man hätte Daniel O’Donovan das schreckliche Ende ersparen können; sie habe nicht zu den Leuten gehört, die an die kursierenden übernatürlichen Erklärungen glaubten. Ihrer Ansicht nach sei er einem „Anfall von hitzigem Fieber der gewöhnlichsten Art zum Opfer gefallen“, und dass „es ein Verbrechen sei, ihn nicht besser überwacht zu haben“ (Seite 66). Ihr Bruder (das ist der Geistliche, mit dem Daniel auf der Straße das für ihn aufmunternde Gespräch geführt hatte), teile diese Auffassung allerdings nicht. Er vertrete vielmehr die Anschauung, Daniel sei „von der Gnade heimgesucht worden“. Diese Gnade wirke je nach Charakter des Menschen, der sie empfängt, verschieden.

In der Seele dieses Verrückten hat sie [die Gnade] […] verrückt gewirkt oder weise, je nachdem ob man vom irdischen Standpunkt aus urteilt oder vom Standpunkt der Vorsehung. Er sagt auch noch, dass dieser frühe Tod ein Segen ist und dass er ein Leben voll Ungewissheit und geistiger Not im richtigen Augenblick beendet. (Seite 66)

Ferner wies Miss G. darauf hin, dass die Behauptung Daniels, er habe eines Morgens einen Geistlichen auf der Straße getroffen, unwahrscheinlich sei, weil ihr Bruder das Haus immer erst am Nachmittag verlasse und er außerdem der einzige Geistliche in der Gegend sei. Daniel müsse also diesen Teil seines Spaziergangs erfunden haben, und wenn er sich da geirrt habe, seien auch die anderen Angaben fragwürdig. Miss G. war davon überzeugt, dass die Figur, die er Paul nannte, „die Schöpfung eines verwirrten Geistes“ war. Übereinstimmend wurde versichert, dass O’Donovon immer allein gewesen sei.

Eine Spitzfindigkeit wollte Miss G. noch loswerden; sie bezog sich auf Pauls Zettel, den Daniel auf seinem Tisch gefunden hatte.

Bestimmt wissen Sie, dass der arme Mensch eines Tages eine Nachricht von diesem sogenannten Paul erhalten zu haben glaubte; ich sage, diese Nachricht erhalten zu haben glaubte, weil er sie in Wirklichkeit selbst geschrieben hatte, ohne zu merken, was er tat. Ist das nicht, was man écriture automatique nennt? (Seite 67)


Die Schlüssel des Todes

Auf dem Landgut Ferrière spielt sich die unergründliche Geschichte ab, die von Jean erzählt wird.

Seine Mutter hatte das Anwesen von ihrem älteren Bruder geerbt und es nach der Heirat mit Jeans Vater mit großem Geldaufwand renoviert. Seit fünfzehn Jahren ist sie Witwe und versieht seither freudlos, aber ohne Bitterkeit ihre Arbeiten im Haushalt. Es bleibt ihr keine Zeit, ihrem Jungen Geschichten vorzulesen oder mit ihm spazieren zu gehen. Das hält sie auch nicht für nötig, denn ihr Sohn hat Odile als Spielkameradin zur Seite. Jeans Mutter (wir erfahren ihren Namen nicht) nahm das Mädchen, das einzige Kind ihrer verstorbenen Cousine, zu sich. Odile ist zwei Jahre jünger als Jean, und sie wachsen miteinander auf. Oft spielen sie zusammen im Freien, aber ihr größtes Vergnügen ist es, sich in den Salon zu schleichen und die Einzelheiten des Musters auf dem Perserteppich zu erkunden. Sie fahren mit dem Finger dem komplizierten Rankenmuster nach und bestaunen die exotischen Raubtiere. Am meisten fasziniert sind sie von den wunderlichen Gestalten mit den Pluderhosen und den dunklen Gesichtern mit den schwarzen Schnurrbärten. Die einen spannen einen Bogen, die anderen haben Pfeile und Speere. Jean fragt das Mädchen, ob es meint, dass sie ausreichend bewaffnet seien, um all die wilden Tiere zu töten. Aber Odile geht nicht weiter darauf ein; sie bemerkt lediglich schnippisch, das seien überhaupt keine richtigen Menschen und sie zielten auch nicht auf die Tiere, sie schauten diese nicht einmal an, sondern sie schauten sie beide an.

Das bestärkt Jeans Ansicht, dass Odile ein seltsames Mädchen ist.

Für mich wie für alle anderen hatte Odile dieses verschlossene Gesicht, diesen Blick voll von Gedanken, die sie verheimlichte, und wenn ihr hin und wieder ein Wort entschlüpfte und ich erraten konnte, was in ihrem Kopf vorging, dann war es ein Versehen, und ich spürte, sie nahm es mir übel wie einen Verrat. Wahrscheinlich fühlte ich mich deshalb so zu ihr hingezogen: Ich bewunderte diesen frühzeitigen Willen, sich dem Blick der Welt zu verweigern. (Seite 81)

Eines Tages fährt auf den Landgut ein Mann mit einem Auto vor, der das Leben der Familie grundlegend verändern wird. Vom ersten Augenblick an kann Jean diesen Mann nicht leiden. Er wundert sich, dass seine Mutter diese fremde Person mit einer Liebenswürdigkeit empfängt, die er von ihr nicht kennt. Es bleibt ihm aber auch ihre Verlegenheit nicht verborgen. „Mein Kleiner“, stellt sie Jean dem Fremden vor. Dieser hebt den Jungen hoch und sagt mit der kehligen Stimme eines Mannes, der viel trinkt und raucht: „Ich heiße Monsieur Jalon und bin ein Cousin deiner Mama, verstehst du?“ Jean mag sein feistes mit Furchen durchzogenes Gesicht und die schwarzen Koteletten nicht. Obwohl Jalon merkt, dass sich der Junge nicht wohl fühlt bei ihm, reißt er ihn nochmal in die Höhe, sodass auch die Mutter erschrickt. Sie sollten nicht so ängstlich sein, meint Jalon; der Junge müsse wohl abgehärtet werden. Jalon setzt einen Kneifer auf, mit dem er noch abscheulicher aussieht, und lässt seinen Blick über das Anwesen schweifen. „Kompliment“, sagt er, während er auf das Haus zugeht.

Der Verwandte wohnt seither dort, nunmehr schon zwei Jahre, und es hat den Anschein, dass er nicht daran denkt, auszuziehen. Jalon nennt Jeans Mutter „Mama“, und Jean ruft ihn „Onkel“. Warum weiß er nicht, wo er doch nichts sehnlicher wünscht, als dass der ungeliebte Mitbewohner endlich fort wäre. Sie sprechen wenig miteinander, aber Jean bemerkt, dass seine Mutter nach den seltenen Unterhaltungen mit ihrem Cousin ihre tränennassen Augen zu verbergen versucht. Jean wundert sich auch, dass der Name Clément Jalon früher nie in seiner Gegenwart gefallen war, und warum dieser glaubt, sich bei ihnen einnisten zu dürfen.

Jean mag nicht mehr mit Odile spielen; er hat keinen Zugang mehr zu ihr und wagt es nicht, sie zu fragen, was sie von Jalon hält. Ihr vertraulicher Umgangston und das scheinbar geheime Einverständnis der beiden stört ihn; am liebsten hätte er sie geohrfeigt. Er wird zunehmend wütender auf den Mann – mit Vergnügen hätte er ihn tot gesehen.

Eigentlich fürchtet Jean den kräftigen „Onkel“. Trotzdem fährt er manchmal mit, wenn dieser ihn zu einer Autofahrt einlädt. Er antwortet widerwillig auf seine Fragen und spricht über Dinge, die er lieber für sich behalten hätte, zum Beispiel was er über Odile denkt. Im Grunde ist Jalon an seinen Geschichten gar nicht interessiert, und er nimmt ihn nur mit, damit ein Lebewesen neben ihm sitzt. So kommt es Jean vor. Er selber fühlt sich ja auch oft einsam, und – so muss er sich eingestehen –, verabscheut Jalon nur in bestimmten Augenblicken.

Als Odile nach einer dieser Spazierfahrten auftaucht, bildet Jean sich ein, dass sie ihn nur mit einem Blick streift, wohingegen sie Jalon begrüßt. Resigniert begreift er das sonderbare Verhältnis zwischen ihm, Odile und Jalon.

Dieses kleine Mädchen ist mir gleichgültig, wenn es allein ist, und ich würde nicht den Kopf wenden, um es zu sehen oder mit ihm zu sprechen; andererseits weiß ich, dass eine Stunde mit Clément Jalon mir eher Spaß macht als mich ärgert, doch sobald Odile und dieser Mann zusammenkommen, verändern sie sich, ja sie verwandeln sich in andere Wesen, deren Bewegungen mir alle verhasst sind. (Seite 90)

Die Personen verschwimmen vor seinen Augen, er fängt an zu zittern und er hört eine Stimme in seinem Kopf. Als der Schwächeanfall nachlässt und er Odile wieder klar sehen kann, wird ihm bewusst, wie schön sie ist. So schön, dass er sich fragt, ob sie wirklich existiert – da spricht die Stimme erneut zu ihm: „Sie gehört dir, nimm sie!“

„Nimm sie“ bedeutet: „Zerdrücke, zermalme in deinen Händen dieses Gesicht, diesen Hals, dieses Fleisch, in dem die blaue Ader pocht. Das alles gehört dir, dieser Mund, der mit einem anderen spricht, diese Augen, die ihn anschauen.“ (Seite 92).

Jean deliriert: Der Tag verfinstert sich und er sieht „nur noch ein weißes Gesicht, das zittert wie auf dem Grund eines Flusses, und zwei dunkle Augen mit starrem Blick.“ (Seite 92) Odile und Jalon geben nicht zu erkennen, etwas von Jeans Unwohlsein bemerkt zu haben.

Kurz nach diesem Anfall wird Jean krank und muss zwei Monate im Bett bleiben. Danach kommt es ihm so vor, als sei er als Kind ins Bett gegangen und als Mann aufgestanden. Es gibt aber noch andere Veränderungen.

Jean ist sechzehn Jahre alt geworden und seine Mutter meint, er sei jetzt alt genug, um ihm ihre Sorgen anvertrauen zu können. Es geht um die Geschichte von Clémont Jalon.

Jalon gibt sich als Cousin der Familie Pascalis in Nantes aus. Die Mutter hat nie einen von den Pascalis gesehen, aber sie weiß, dass diese mit der Familie ihres Mannes verschwägert ist. Als sie den Pascalis vor zwei Jahren schrieb, erhielt sie keine Antwort. Wie sie jetzt von Jalon erfahren hat, waren sie von Frankreich weggezogen. Als sich Clément Jalon in Ferrière vorstellte und ihr der Name nichts sagte, überlegte sie sehr wohl, ob sie einem Betrüger aufsitze, aber als er behauptete, ein Jugendfreund ihres Mannes gewesen zu sein, wollte sie ihn nicht abweisen. Sie glaubt, sich inzwischen erinnern zu können, dass ihr Mann manchmal von Jalon sprach. Immer wenn sie ihrem Cousin Vorhaltungen macht, zum Beispiel wegen des Geldes, das sie ihm leiht und nie zurückbekommt, beruft er sich auf die Freundschaft mit ihrem Mann. Damit gewinnt er jedes Mal die Oberhand. Sie will aber nicht mehr länger die Unterlegene sein, und wünscht sich, dass der Tag nicht mehr fern sei,

[…] da mein Sohn zu Clément Jalon sagen kann: „Wir lassen uns nicht länger von Ihnen einschüchtern. Verschwinden Sie aus Ferrière!“ (Seite 96)

Den letzten Satz wiederholt sie mit lauter Stimme und zählt alle die Vorwürfe auf, die Jean bei einer Konfrontation mit Jalon zur Sprache bringen soll. Sie gestikuliert dabei so heftig, dass Jean ein nervöses Lachen nicht unterdrücken kann. Von dieser Reaktion ist die Mutter so gekränkt, dass sie zu weinen anfängt. Er würde sich nicht über sie lustig machen, wirft sie ihm vor, wenn er wüsste, was sie zum Reden gezwungen habe. Sie hätte nicht auf ihn zählen sollen, wahrscheinlich sei er doch noch zu jung, und außerdem würde es nichts nützen, sich mit diesem Mann anzulegen, der, wenn es ihm in den Sinn käme, sie aus dem Haus jagen könne. In der Familie von Jeans Vater (die Mutter spricht immer von „deinem Vater“ und sagt nie „mein Mann“) war nämlich etwas „Schändliches“ vorgefallen, was bis heute wie eine dunkle Wolke über ihnen hängt.

Die Mutter und Jeans Vater waren zwei Jahre verheiratet und gerade dabei, das Landgut in Ferrière von Grund auf zu renovieren. Da kam ein Bruder von Jeans Vater (sie sagt auch nie „mein Schwager“), der in Paris lebte, zu ihnen aufs Land, und bat sie, ihm für ein Unternehmen, das er auf die Beine stellen wollte, siebzehntausend Franc zu leihen. Das Ehepaar hatte einerseits viel Geld in die Reparaturarbeiten gesteckt und außerdem schien das angeblich geplante Unternehmen nur ein Vorwand zu sein, um an Geld zu kommen; es deuteteten sich auch anderweitig keine Maßnahmen für eine Firmengründung an. Jeans Onkel aus Paris musste unverrichteter Dinge abziehen. Monatelang war von der Angelegenheit nicht mehr die Rede, bis sich eines Tages herumsprach, dass der Onkel verschwunden war. Jeans Vater erhielt in diesem Zusammenhang einen Brief von Monsieur Pascalis, einem reichen Kaufmann aus Nantes, der sowohl mit ihm verwandt als auch in Freundschaft verbunden war. Monsieur Pascalis schrieb dem Ehepaar, dass er dem Onkel, wie vereinbart, die ausgehandelte Summe übergeben habe und nun seinerseits die Rückzahlung in den nächsten sechs Monaten erwarte. Was war geschehen? Auf Anfrage von Jeans Vater bei Monsieur Pascalis setzte ihn dieser in Kenntnis, dass er, Pascalis, seinen Brief in Händen hielte, in dem er aufgefordert wird, dem Onkel das Geld zu geben; die Summe bekäme Pascalis von ihm zurück. Jeans Vater bat Pascalis um Aushändigung des Briefes, den er für gefälscht hielt. Pascalis verweigerte die Rückgabe: Dieser Brief sei, wie einige andere auch, die einzige Sicherheit, über die er verfüge. Wutentbrannt fuhr Jeans Vater nach Nantes, um den in Rede stehenden Brief mit eigenen zu Augen sehen. Die Handschrift hielt er für authentisch, den Inhalt nicht. Die beiden Kontrahenten bezichtigten sich gegenseitig des Betrugs und warfen sich weitere Beleidigungen an den Kopf. Zornentbrannt lief Jeans Vater zum Bahnhof, ließ aber den Zug abfahren, um nochmals mit Pascalis zu verhandeln. Um die verdrießliche Angelegenheit zu beenden, stellte Jeans Vater einen Scheck über fünfunddreißigtausend Franc aus und erhielt im Gegenzug den Brief. Zu Hause verbrannte er das Dokument, ohne dass Jeans Mutter ihn gelesen hatte. Damit war die Affäre aber noch nicht ausgestanden. Pascalis deutete an, dass diesem Brief noch zwei, drei andere vorausgegangen waren, in denen der Onkel den Coup möglicherweise vorbereitet haben könnte. Davon gingen Jeans Eltern jedenfalls aus, sodass sie Pascalis nochmals Geld anboten, um die gesamte Korrespondenz in ihren Besitz zu bringen. Pascalis nannte Jeans Vater daraufhin einen Erpresser. Angeblich war der Onkel nach Mittelamerika ausgewandert, aber sie vermuteten ihn weiterhin in Frankreich. Dem Gerücht, der Onkel sei zum Auswandern gezwungen worden, weil er von seinem Bruder kein Geld bekommen hatte, konnten sie nichts entgegensetzen, da weder Beweise noch Zeugen zur Verfügung standen. Sie schwiegen deshalb. Über diese Aufregungen sei Jeans Vater gestorben; davon ist jedenfalls die Witwe überzeugt.

Es kam der Mutter zu Ohren, dass die Pascalis vor vier Jahren das Land verlassen hatten. Und nachdem Jalon nun behauptete, mit dieser Familie verwandt zu sein, vermutete sie, dass er über die ganze Geschichte im Bilde ist und womöglich die Briefe ihres Schwagers bei sich hat. Davon wollte sie sich persönlich überzeugen.

Vor drei Jahren schlich sie sich in Jalons Zimmer. Es war eine sehr dunkle Nacht, sodass sie, um nirgends anzustoßen, auf allen Vieren am Boden umherkriechen musste, um seine Jacke zu finden. Endlich ertastete sie das Kleidungsstück und wühlte mit Herzklopfen in den Taschen, aber sie fand die Briefe nicht. Jalon hörte plötzlich zu schnarchen auf und nahm vom Nachttisch eine Streichholzschachtel. Er entzündete ein Hölzchen, dabei sah er sie an und schaute ihr zu, wie sie sich an seiner Jacke zu schaffen machte. Er zwinkerte ihr zu und blies das Streichholz aus. Dann stellte er sich schlafend. In größter Aufregung lief sie aus dem Zimmer. Jalon erwähnte am nächsten Morgen mit keiner Silbe diesen Vorfall, auch später nicht, woraus sie schloss, dass er ihre Absicht durchschaut hatte.

Jean ist gerührt über ihren Mut, den er dieser zaghaften Frau nicht zugetraut hätte. Er selber würde nochmal in Jalons Zimmer suchen, verspricht er der Mutter. Oder sollten sie ihm einfach eine Summe für die Briefe anbieten? Dann wäre endlich Schluss mit dem Albtraum. Aber die Mutter weiß ja nicht, ob er die Papiere tatsächlich hat, und man würde ihn nur auf die Idee bringen, ihnen Geld abzunötigen. Jean schlägt vor, Jalon dann gegebenenfalls wegen Erpressung gerichtlich zu belangen. Da es aber weder Zeugen noch Beweise gibt, bräuchten sie damit erst gar nicht zu drohen, wendet die Mutter ein.

Ich spürte, wie bei dem Gedanken an unsere Ohnmacht plötzlich Wut in mir aufstieg.
„Gut“, dachte ich. „Eines Tages werde ich ihn umbringen.“ (Seite 109)

Bedrückt zu sehen, wie seine Mutter unter der Situation leidet, überlegt Jean, wie er seinen Mordplan ausführen könnte.

Jalon ist jetzt öfter nicht in Ferrière. Lediglich durch seine kurze Kommentare erfahren sie, dass er sich in dieser oder jener Stadt aufhielt.

Nach vier Monaten sieht Jean erstmals Odile wieder. Sie hatte ihn während seiner Krankheit kein einziges Mal besucht, aber sie tut so, als hätten sie am Tag zuvor miteinander gesprochen und fordert ihn auf, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Er findet sie immer noch schön, aber er kann sich jetzt nicht mehr vorstellen, dass sie einen Platz in seiner Zukunft einnehmen könnte. Auch seine Eifersucht wegen ihrer Koketterie mit Jalon ist verflogen. Er will ihr beim Harken trotzdem nicht helfen.

Von Odile, nicht von seiner Mutter, erfährt Jean, dass sie demnächst auf ein Internat in Soissons geschickt wird. Die Idee kam von Jalon, weil er ihre Schulkenntnisse unzureichend fand. Außerdem ist geplant, dass Jean ein Gymnasium in Paris besuchen soll. Von der Provinz nach Paris! Seine Freude wird insofern etwas gedämpft, als bis zu den großen Ferien nur ein paar Wochen bleiben und es ihm gesundheitlich immer noch nicht ganz gut geht, sodass er erst nächstes Jahr nach Paris darf, wohingegen Odile schon ein paar Tage später im Internat erwartet wird.

Jean wundert sich, dass ihm keiner seine verbrecherische Absicht anmerkt. Der Gedanke, einen Menschen umzubringen, verleiht ihm Ruhe und beflügelt ihn. Andererseits erscheint es ihm selbst befremdlich, dass sein Hass auf Jalon in dem Maße abnimmt, je länger sich sein Entschluss festigt, ihn zu töten. Jean fühlt sich als neuer Mensch, der nur noch den richtigen Augenblick und das geeignete Mittel für die Tat finden muss.

Ich war schon jetzt ein Mörder; ich trug das Verbrechen in meinem Herzen wie andere die Liebe. Wenn meine Mutter mich küsste, dann küsste sie einen Mörder. Wenn Jalon mit mir sprach, dann sprach er mit seinem Mörder. (Seite 116)

Jeans Umgang mit Jalon ist unverändert; er geht ihm nicht aus dem Weg und lässt sich weiterhin zu Spazierfahrten einladen. In Jalons Nähe zu sein bereitet ihm Vergnügen, und er empfindet keine Spur von Mitleid. Jean genießt seinen Müßiggang. Da er keine Schulstunden mehr hat – die Lehrerin, die die Kinder ein paar Mal in der Woche in Ferrière unterrichte, wurde bereits entlassen –, und auch zu keiner Arbeit herangezogen wird, bleibt ihm viel Zeit zum Lesen. Auf die Phasen des Nichtstuns folgen aber solche der Unruhe, die ihn zum Handeln drängen.

Ihm wird bedeutet, wie Jean es ausdrückt, er müsse sein Verbrechen in der kommenden Nacht begehen, wozu er sich ein Messer aus der Küche besorgen solle. Er schleift es extra scharf und verwahrt es in einer Kommode. Während des Abendessens denkt er fortwährend daran, auf welche Weise er Jalon umbringen würde und was alles schiefgehen könnte.

Ein Schwächeanfall verzögert sein Vorhaben. Da spricht aber wieder „seine Stimme“, die ihm souffliert, er könne seine Tat damit rechtfertigen, dass er lediglich die Briefe seines Pariser Onkels finden wolle und damit das Elend seiner Mutter beenden würde. Von diesem Zuspruch beschwichtigt, geht Jean in den ersten Stock – mit dem Messer in der Hand. Er ist sehr aufgeregt, aber er überwindet sich und betritt Jalons Zimmer. In dem Augenblick gehorchen im seine Gliedmaßen nicht mehr, seine innere Stimme verstummt und er rennt in Panik zurück in seine Kammer. Am nächsten Tag wirft ihm die innere Stimme seine Hasenherzigkeit vor. Jean widerspricht jedoch: Wenn sie weiter zu ihm gesprochen hätte, wäre er mutiger gewesen. Die Stimme schärft ihm ein, er müsse sich daran gewöhnen, ohne Beistand auszukommen, und er solle sein Messer den ganzen Tag bei sich haben.

Am Morgen läuft Jean seiner Mutter über den Weg und erfährt, dass Odile krank wurde. Jalon ist schon auf dem Weg nach Soissons, um sie zu holen. Nach dieser Nacht ist Jean deprimiert, und schwermütig denkt er an seine Kindheit mit Odile. Und wie sie sich oft beim Spielen unter einer dunklen Tanne versteckten, so kriecht er auch jetzt unter die Äste des Baumes. Endlich kommt Jalons Auto, und er hofft, Odile würde ihn in seinem Versteck entdecken; sie schaut aber nicht in seine Richtung.

Odile nimmt zwar nicht am Mittagessen teil, scheint aber nicht so krank zu sein wie befürchtet. Im Internat meinte man, sie wäre zu Hause besser aufgehoben. Die Mutter ist darüber verstimmt und murmelt vor sich hin: „Hoffentlich stirbt die arme Kleine nicht“. Da es ihr aber gar nicht so schlecht gehe, bestehe doch kein Anlass zur Sorge, wendet Jean ein.

„Es ist nur so ein Gefühl: Wenn Odile sterben sollte, wird es ohne ersichtlichen Grund geschehen.“ [sagt die Mutter]
„Aber wieso?“, bohrte ich weiter.
„Du fragst mich das, als könnte ich dir darauf eine Antwort geben, mein Kind. Nun, sie wird eben sterben, ohne dass man sagen kann, warum. Im Übrigen bin ich aus der Kleinen nie klug geworden.“
„Stimmt“, sagte Jalon […] „Sie ist Ihnen vollkommen fremd.“
„Und Ihnen?“, fragte ich ziemlich grob.
„Mir?“, sagte er und drehte sich in meine Richtung. „Wer redet hier von mir?“ (Seite 126)

Kurz darauf zieht Jalon zwei Briefe aus seiner Jacke und hält sie der Mutter und Jean demonstrativ vor Augen; dann zündet er sie mit einem Streichholz an. Sie sollten nicht glauben, er tue das den beiden zuliebe, betont er, vielmehr habe Odile ihn während der Rückfahrt von Soissons darum gebeten. Auf Jeans Einwand, man habe Odile nichts von den Briefen erzählt, erwidert Jalon:

„Gewisse Dinge wusste sie einfach. Auch wenn man etwas geheim halten wollte, sie erriet alles.“ (Seite 127)

Weil es sehr heiß ist, bleibt Jean nachmittags auf seinem Zimmer und legt sich ins Bett. Wieder hört er die Stimme: „Heute abend um elf!“ Und „du hast dein Messer vergessen. Hol es!“ Daraufhin stürzt er aus dem Zimmer, um das Messer zu holen und überrennt beinahe Odile. Sie spricht kurz mit ihm, aber Jean fertigt sie schroff ab und geht an ihr vorbei. Unruhig verbringt er die nächsten Stunden. Vor Angst fast gelähmt schiebt er den Zeitpunkt seines Handelns immer wieder hinaus. Das Messer hält er in der Hand, der Griff ist schon klebrig vor Schweiß. Gegen elf Uhr, als er sich schließlich aus seinem Zimmer wagen will, hört er einen lauten Schrei, der ihn so erschauern lässt, dass er bewusstlos auf sein Bett fällt.

Den nächsten Vormittag verbringt Jean auf seinem Zimmer. Seine Hand umklammert immer noch das Messer – wie einen glückbringenden Fetisch. Dabei fühlt er sich so elend und verlassen wie nie. Der Schrei von letzter Nacht fällt ihm ein, den er sich mit den Dröhnen des Blutes in seinen Ohren erklärt, als er ohnmächtig wurde. Vor seinem Zimmer hört er das Knarren von Dielen, Türenschlagen und die Schritte seiner Mutter. Dann verstummen die Geräusche und er hört die Stimme an seinem Ohr. Der Augenblick sei denkbar günstig, sagt sie ihm, denn sowohl die Mutter als auch Jalon schliefen jetzt, ebenso Odile. „Steh auf. Gehorche.“ Nach diesen Worten sprach die Stimme nie wieder zu ihm.

Es ist finster und stürmisch, weil sich ein Gewitter zusammenbraut. Jean schleicht aus seinem Zimmer – immer noch den Messergriff in der Hand – und es kommt ihm vor, als sei er an einem unbekannten Ort. Das Rauschen des Windes verschlimmert seine Angst. Odiles Zimmertür am Ende des Flurs nimmt er verschwommen wahr, und gleich darauf steht er vor ihrem Bett. Sie liegt auf dem Rücken, und obwohl er glaubt, sie schliefe, spricht sie ihn leise an.

„Jean“, sagte sie, „bist du es? Du hast noch immer dieses Messer in der Hand. Wirf es weg.“ […]
„Sei später nicht traurig“, sprach sie weiter. „Du sollst dich erinnern, dass alles verziehen ist und dass ich es dir gesagt habe.“ (Seite 133)

Als Jean sie so sprechen hört, entgleitet ihm das Messer; vor Verzweiflung kann er nichts sagen. Er richtet sie im Bett hoch und als sie ihn mehrmals entschieden auffordert, trotz der Hitze und des Windes das Fenster zu öffnen, befolgt er ihre Bitte. Odile fragt ihn, ob er die Tanne draußen sehe. Er solle ihr Bett ans Fenster ziehen, um besser sehen zu können, ob sich in ihr etwas bewegt. Jean begreift, dass sie fantasiert und sorgt sich: „Odile, du wirst doch nicht sterben, oder?“ Statt einer Antwort macht sie ihn erneut auf den Baum aufmerksam. Ob er in der Tanne auch den großen schwarzen Mann mit einem Bogen und den langen Pfeilen sehe. Jean versucht sie zu überzeugen, dass sie sich täuscht. Odile lässt sich nicht beirren und fordert ihren Jugendfreund auf, zur Seite zu gehen. „Mich schaut er an“, sagt sie leise. Im nächsten Augenblick stößt sie einen Schrei aus und ein Blutstrahl schießt aus ihrem Mund.

Jalon ist außer sich vor Schmerz. Er wusste, dass sie sterben würde, sie habe ihm das selbst gesagt, vertraut er Jean an. Was Odile zuletzt gesagt habe, möchte Jalon wissen. Jean erzählt ihm von dem Phantom des Mannes in der Tanne. Jalon bestätigt, dass sie schon in Soissons wirr daherredete: „Ach! Monsieur Jalon, Sie sind es! Ich habe geglaubt, er würde Ihnen etwas antun.“ (Seite 135) Das habe sie mehrere Male gesagt. Wahrscheinlich meinte sie damit den imaginierten Mann im Baum, und sie betonte, dass sie ihn daran gehindert habe, sein Zimmer zu betreten. Dann mahnte sie Jalon, sich in Acht zu nehmen und seine Tür zu verschließen. „Er hat den Tod nach Ferrière gelockt, und er wird nicht mit leeren Händen wieder gehen.“ (Seite 136)

Jalon kann vor Ergriffenheit kaum weitersprechen; wie konnte sie nur solche Dinge sagen, stöhnt er immer wieder.

„Sie hat gesagt, sie habe darum gebeten, an meiner Stelle auserwählt zu werden, aber um sie zu töten, bräuchte man kein Messer, und Gott würde sie sterben lassen, wie es ihm gefällt, mit einem Bogen und Pfeilen.“
Ich [Jean] fing an zu schreien.
„Was hast du?“ fragte Jalon.
„Was Sie sagen, macht mir Angst“, antwortete ich.
Und ich fiel zu Boden wie ein Toter. (Seite 136)


Christine

Der dreizehnjährige Jean verbringt den Sommer wie gewöhnlich mit seiner Mutter in einem alten weitläufigen Haus in Fort-Hope.

In Amerika, wo das Altertum neueren Datums ist, hielt man es für uralt, und wirklich trug ein Balken an der Vorderfront eine Inschrift, die bezeugte, dass es 1640 errichtet worden war […]. (Seite 141)

In diesem Sommer kündigt Jeans Mutter den Besuch ihrer Schwester an, die sich nicht oft sehen lässt, denn sie wohnt weit weg in Washington. Für Jean war sie eine rätselhafte Person, von der er nur wusste, dass sie einmal sehr unglücklich gewesen war, und nie geheiratet hatte – aus Gründen, die man ihm nie erklärte. Jean mochte seine Tante Judith nicht. Ihre Leidensmiene und ihr starrer Blick missfielen ihm; selbst ihr seltenes Lächeln war nur angedeutet und voll Bitterkeit.

Tante Judith wird diesmal von einem Mädchen begleitet, ungefähr gleich alt wie der Junge. Jeans Mutter stellt die Kleine ihrem Sohn vor: Christine heißt sie. Er soll Christine die Hand geben und seiner Tante einen Kuss.

Jean ist von Christines Schönheit derart fasziniert, dass er einen Schrei der Bewunderung unterdrücken muss. Sie wäre ihm wie eine übernatürliche Erscheinung vorgekommen, hätte er nicht ihre hingestreckte Hand berühren können. Unter seinem Blick schlägt sie nicht die Augen nieder, aber es scheint ihm, als sehe sie durch ihn hindurch oder blicke beständig auf jemanden oder etwas hinter ihm, sodass er sich umdreht. Von der Stimme seiner Mutter in die Wirklichkeit zurückgeholt, gibt er seiner Tante den angeordneten Kuss, und diese zieht sich mit Christine zurück.

Dass Jean das Mädchen nicht mehr beziehungsweise nur ein-, zweimal „auf die unzureichendste Art“ wiedersehen wird, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Die Tante kommt am Nachmittag allein in den Salon und auch bei den Mahlzeiten ist Christine nicht dabei. Jean wird angewiesen, nicht mehr in seinem Zimmer im ersten Stock zu schlafen, sondern in der zweiten Etage. Somit ist er weit weg von den Gästezimmern, in denen die Tante und Christine untergebracht sind. Er ist untröstlich, das angehimmelte Mädchen im Haus zu wissen und sie nicht sehen zu dürfen. Wenn er seine Mutter fragt, warum es nicht wenigstens zum Mittagessen erscheine, wimmelt sie ihn barsch ab und befiehlt ihm, er dürfe niemals zu irgend jemand von Christine sprechen. Den Grund der Ermahnung versteht er nicht. Beim Abendessen unterhält sich die Mutter mit ihrer Schwester in französischer Sprache, so dass Jean ihrem Gespräch nicht folgen kann; es fällt ihm jedoch auf, dass Christines Name häufig genannt wird. Ungeduldig fragt er nochmals nach dem Verbleib des Mädchens. Als Antwort handelt er sich eine Ohrfeige seiner Mutter ein.

Der Junge macht sich Gedanken über Christine: Wer ist sie eigentlich? Das Befremdliche in ihren Gesichtszügen, den starren Blick und das grimassierende Lächeln, hat er das nicht schon bei jemand anderem gesehen? Sich das Gesicht seiner Tante vorzustellen und einen Zusammenhang zwischen dieser Frau und Christine herzustellen, kommt ihm nicht in den Sinn. (Der Autor gibt an keiner Stelle einen deutlichen Hinweis auf das verwandschaftliche Verhältnis Christines zu Jeans Tante.)

Die nächsten zwei Wochen verbringt Jean ohne Spielgefährtin und ist bedrückt, dass er sich nicht mit ihr abgeben kann. Er möchte ihre Aufmerksamkeit erregen, indem er Kieselsteinchen an ihr Fenster wirft. Aber bevor er dazu kommt, wird er streng zurückgerufen. Er ist bekümmert und hat an nichts mehr Freude. Seine Gedanken drehen sich nur noch darum, Christine wiederzusehen.

Wenn die Mutter oder die Tante auf dem Weg zu Christines Zimmer sind, um ihr das Essen zu bringen, schleicht er hinterher. Das ist ihm zwar verboten, dennoch lauscht er lustvoll auf das Geräusch dieser Schritte, die zu ihr führen. Als Tante Judith ihn bei seiner Spioniererei erwischt, rächt sie sich, indem sie ihm eine unheimliche Geschichte erzählt: In dem Teil des Hauses, den sie und Christine bewohnen, habe sie auf dem Flur zu ihren Zimmern jemanden an sich vorbeihuschen sehen. Sie konnte zwar nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war; auf jeden Fall spürte sie einen warmen Hauch auf ihrem Gesicht. Die Spukgeschichte tut ihre Wirkung; Jean traut sich von da an im Dunkeln nicht mehr auf die Treppe.

Seit Tante Judith bei ihnen wohnt, wird Jean nachmittags in das Städtchen zum Zeitungsholen geschickt. Er durchschaut die Absicht, ihn aus dem Haus haben zu wollen, damit Christine sich in dieser Zeit im Freien aufhalten kann.

Während dieser zwei Wochen wird Jean immer blasser. Auch seine Augenringe entgehen seiner Mutter nicht. Sie packt ihn aber nur grob am Handgelenk und mit zitternder Stimme sagt sie „Unglückskind!“.

Der Junge denkt immerzu an Christine. Die Ferien gehen dem Ende zu, und er hat schon alle Hoffnung verloren, sie jemals wiederzusehen. Ein unerwartetes Ereignis bringt erst später eine Wende.

Als Jean am Abend in sein Zimmer hinaufgeht, schlägt ein Gewitterregen gegen die Fensterscheiben. Ein unbestimmbares Geräusch, einem Trommelwirbel ähnlich, ängstigt ihn. Er muss an die Spukgeschichte seiner Tante denken, als ein Schrei ihn innehalten lässt. Die hohe und schrille Stimme erinnert ihn an einen Tierlaut. Nach einer Weile wird das Geräusch ungestümer, und er erklärt sich das damit, dass Christine mit den Fäusten gegen die Tür hämmert. Aber anstatt nachzuforschen und ihr zu helfen, rennt er Hals über Kopf in sein Zimmer, immer noch den Trommelwirbel und den Schrei im Ohr.

Am nächsten Morgen findet er eine in Tränen aufgelöste Tante Judith vor und seine ebenso verstörte Mutter, die ihre Schwester tröstend bei den Händen hält. Ihre Aufregung kann wohl nur etwas mit Christine zu tun haben. Nach und nach erfährt er, dass sie sich bei dem Donnergrollen der vergangenen Nacht derart erschreckte, dass sie schrie und versuchte, aus dem Zimmer zu entkommen. Dabei war sie ohnmächtig geworden.

„Ich hätte sie nie hierher bringen dürfen“, rief meine Tante. Und übergangslos fügte sie hinzu, in einem Ton, den ich nicht wiedergeben kann und als würden die Worte sie umbringen: „Sie hat versucht, mir etwas zu sagen.“ (Seite 147 ff)

Später erklärt ihm seine Mutter, dass es „dem kleinen Mädchen, das du am Tag der Ankunft deiner Tante gesehen hast, Christine“ nicht gut gehe und sie sich große Sorgen machten. Judith und sie würden nach Providence fahren, einen Arzt konsultieren und diesen mit hierher bringen. In ihrer Abwesenheit dürfe er auf keinen Fall in die Nähe von Christines Zimmer gehen; das müsse er versprechen und auf die Bibel schwören. Jean nickt zustimmend.

Eigentlich will er gleich zu Christines Zimmer, aber wegen seines Ehrenworts zögert er. Dann erliegt er doch der Verlockung und schleicht in den ersten Stock, nachdem er sich vergewisserte, dass das Dienstmädchen im Anrichtezimmer ist. Er fürchtet sich in dem dunklen Flur und will schon fast wieder umkehren, als ihn der Gedanke beflügelt, dass er das kleine Mädchen vielleicht doch nochmal sehen und seine Hand berühren könnte. Vor Aufregung stösst er versehentlich gegen Christines Tür. Anstatt anzuklopfen, versucht er die Tür zu öffnen; die ist jedoch abgeschlossen. Er hört sie im Zimmer auf- und abgehen und klopft gegen die Tür. Er sei der Neffe von Tante Judith und habe eine Nachricht für sie, ruft er. Da sie nicht reagiert, späht er durchs Schlüsselloch. Sie scheint ihm noch schöner als er sie in Erinnerung hatte. Überwältigt von ihrer Gestalt, bricht er in Tränen aus.

Dann hat er eine Idee: Er schiebt einen Zettel unter der Tür durch, auf den er „Christine, mach auf, ich liebe dich“ schreibt. Wiederum durchs Schlüsselloch sieht er, wie Christine das Papierchen aufhebt, aber ihrer Miene nach zu schließen, nicht versteht, was es damit auf sich hat. Als sie den Zettel fallen lässt und in eine Zimmerecke geht, wo er sie nicht mehr sehen kann, verspricht er ihr ein Geschenk, wenn sie ihm die Tür aufmacht. Woher soll er aber so schnell etwas Geeignetes auftreiben? In seinem Zimmer findet er nichts, aber in dem seiner Mutter bemerkt er einen hinter Möbeln versteckten Koffer, der Tante Judith gehört. Christine sollte wohl nichts davon wissen. In diesem Koffer gräbt er eine Schatulle mit Schmuckstücken aus, unter denen er einen Ring mit Saphir aussucht. Damit geht er zu Christines Zimmer zurück, die aber auch diesmal sein Rufen nicht beachtet. Deshalb schiebt er den Ring unter der Tür durch. Sie hebt ihn sogleich auf und steckt ihren Daumen durch, aber sie bringt den Goldreif nicht über das Gelenk. Mit Gewalt drückt sie ihn weiter nach unten. Nachdem sie den Ring an ihrem Finger bewundert hat, möchte sie ihn wieder abstreifen, was ihr aber nicht gelingt. Vor Wut wirft sie sich aufs Bett und stößt zornige Schreie aus.

Jean bemerkt, dass Mutter und Tante mit dem Arzt zurückkommen. Wegen seines schlechten Gewissens, das ihn in panische Angst versetzt, traut er sich nicht, beim Abendessen zu erscheinen.

Früh am nächsten Morgen wird er durch das Geräusch eines ankommenden Zweispänners geweckt. Er beobachtet, dass Koffer auf den Wagen geladen werden, und wie seine Mutter ihre Schwester umarmt. Dann kommt der Arzt aus dem Haus, der Christine an der Hand hält. Jean sieht den Ring an ihrem Daumen glitzern.

Weder seine Mutter noch Tante Judith, die er erst ein paar Monate später wiedersieht, verlieren ein Wort über den ihm unerklärlichen Vorfall, sodass er glaubt, er hätte die ganze Geschichte nur geträumt.

Im nächsten Sommer kommt die Tante nicht, aber an Weihnachten stattet sie ihnen einen kurzen Besuch ab. Nachdem sie beim Eintreten ihren Handschuh abstreifte, wirft sie sich ihrer Schwester schluchzend in die Arme. An ihrer Hand sieht Jean den Saphir glänzen.


Leviathan (Die vergebliche Überfahrt)

Ein Vierzigjähriger schifft sich von Frankreich aus auf der „Bonne Espérance“ nach Amerika ein. Das Handelsschiff, auf dem er der einzige Passagier ist, wird etwa zwanzig Tage zur Überfahrt brauchen. Trotz Einladung des Kapitäns nimmt er nicht am Abendessen teil. Auch sonst verlässt er kaum seine Kabine; alle Gesprächsangebote Kapitän Sugers lehnt er ab. Seine Eigenbrötelei wird schon übelgenommen, sodass man ihm für die sintflutartigen Regengüsse der ersten Tage spaßeshalber die Schuld gibt. Nach ein paar Tagen kann Suger ihn dann doch überreden, das Essen gemeinsam einzunehmen, und er gibt die Hoffnung nicht auf, den Fremden zum Reden zu bringen. Er hätte sich nämlich gerne mit einem Menschen unterhalten, der sich auch mit anderen Wissensgebieten als der Seefahrt auskennt.

Der Fremde scheint aber entschlossen, weiter zu schweigen. Die forschenden Blicke des Kapitäns irritieren ihn und die gemeinsamen Mahlzeiten sind ihm unangenehm, aber er versucht, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Das Wetter ist besser geworden; der Fremdling fühlt sich aber weiterhin in seiner Kabine am wohlsten. Inzwischen ärgert der Kapitän sich bereits darüber, dass er nicht hinter das Geheimnis des Sonderlings kommt.

Suger macht den Passagier darauf aufmerksam, dass das Schiff am übernächsten Tag ankommen wird. Der Fremde antwortet nur tonlos: „Ich weiß“, wirkt aber so niedergeschlagen, dass der Kapitän Mitleid mit ihm hat. Nachdem der Fahrgast auch noch durch das Schlingern des Schiffes gegen ein Beiboot geschleudert wurde, führt der Kapitän den verstörten Mann in seine Kabine. Auch am nächsten Tag macht der Kapitän sich Sorgen über das konfuse Verhalten des Einzelgängers.

Am letzten Tag setzen sich die beiden Männer noch einmal gemeinsam zu Tisch. Um seinen Gast aufzuheitern, fordert der Kapitän ihn auf, mit ihm ein Glas Wein zu trinken und auf das gegenseitige Wohl anzustoßen. Der Fremdling bekommt „einen blöden und schmerzerfüllten Blick“. Er hebt zwar sein Glas hoch, aber im nächsten Augenblick lässt er es fallen. Er müsse ihm etwas sagen, flüstert er. In seiner jovialen Art scherzt der Kapitän, er habe ja gewusst, dass er irgendwann mit ihm reden würde. Er könne ihm alles sagen, er sei „der ideale Beichtvater“.

Der Fremdling sammelt seine Gedanken – und erzählt seine Geschichte. Ob das alles sei, fragt Suger nach. Sonst gäbe es weiter nichts zu sagen, versichert der andere. Ob er deshalb die lange Reise gemacht habe, möchte der Kapitän wissen. Ob er denn verrückt sei. Er habe doch die ganze Zeit ruhig in Frankreich gelebt. Darauf entgegnet der Fremde, er sei überhaupt nicht ruhig gewesen.

„Aber Sie hätten es sein können. Niemand hatte Sie im Verdacht.“
Der Fremdling schüttelte den Kopf.
„Na los“, fing der Kapitan von Neuem an, „da ist sicher noch etwas anderes. Das ist doch gar kein richtiges Verbrechen!“
[…] Plötzlich schlug er [der Fremde] mit der Faust auf den Tisch und schrie:
„Alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist falsch! Ich habe Sie belogen. Ich bin kein Verbrecher.“
„Warum zum Teufel erzählen Sie mir dann das alles?“, fragte der Kapitän.
„Weil Sie mich dazu gezwungen haben. Sie starren mich ununterbrochen an, Sie stellen mir alle möglichen Fragen, Sie sind wie ein Polizist, der einen Mörder sucht. Ich habe Ihnen irgendetwas erzählt.“
Er schlug noch einmal mit der Faust auf den Tisch und schrie mit versagender Stimme:
„Ich hatte Angst. Sie haben mir Angst gemacht. Ich fahre aus geschäftlichen Gründen nach Amerika. Ich bin überhaupt kein Mörder.“
Der Kapitän zuckte ruhig die Achseln und lächelte.
„Doch“, sagte er, „aber von mir haben Sie nichts zu befürchten. Ich werde nicht reden.“
(Seite 165)

Der Fremdling lässt den Kopf sinken; sein Kneifer fällt auf den Tisch. Dann hört man das Heulen der Sirene: Am Horizont erscheint Amerika. Der Kapitän ruft mit fröhlicher Stimme:

„He, Fremdling! Wir sind da.“
Aber der Fremdling war schon seit einigen Minuten tot. (Seite 165)

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„Romantische Schauergeschichten“ nennt Wolfgang Matz in seinem Nachwort des Buches „Fremdling auf Erden“ die Kategorie der Erzählungen Julien Greens. Faszinierend an ihnen ist das Rätselhafte sowohl der Geschehnisse als auch der Protagonisten. Die Geschichten sind zwar im Handlungsablauf konsequent, und auch die Charaktere der Personen sind psychologisch nachvollziehbar gezeichnet, aber letztendlich bleiben sie geheimnisvoll. Kafkaeske Episoden kommen ebenso vor wie surreale Begebnisse, die an Henry James („Das Durchdrehen der Schraube“) und E. T. A. Hoffmann erinnern.

Wiederkehrende Motive in „Fremdling auf Erden“ sind persönliche Verdoppelungen, die Aufspaltung in zwei Personen und Gedankenübertragung, die der fantastischen Literatur zugerechnet werden, in diesem Falle aber Rückschlüsse auf den Autor vermuten lassen, da dieser in seinen Tagebüchern Hinweise auf selbst erlebte derartige qualvolle Erfahrungen gibt. (Darauf weist Wolfgang Matz in seinem Nachwort hin.) Ein weiteres autobiografisches Zeugnis kann in dem Begriff écriture automatique gesehen werden. Julien Green hat „automatisches Schreiben“ hin und wieder sein eigenes Schreiben genannt. „‚Meine Bücher schreibt ein Anderer, den ich nicht kenne‘, […] und um das Ende, den Ausgang eines Buches kennen zu lernen, musste Green ihn erst selber schreiben.“ (Wolfgang Matz, Seite 173) Julien Green war kein Mystiker, sondern Katholik. Er legte aber Wert auf die Feststellung: „Ich bin Schriftsteller und ich bin Katholik. Ich bin aber kein katholischer Schriftsteller.“ (Seite 177).

Julien Green lässt den verwirrten Leser am Ende des Plots mit der Auflösung bzw. Nichtauflösung allein und ratlos, aber dennoch nicht unbefriedigt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2008
Textauszüge: © Hanser

Julian Green (Kurzbiografie)

Julien Green: Leviathan
Julien Green: Mitternacht

Michèle Desbordes - Die Bitte
Die karge Darstellung ist alles andere als bildhaft. Vieles bleibt vage, wenig wird erklärt. Michèle Desbordes' Sprache in "Die Bitte" ist bewusst altertümlich, wirkt manieriert, weist aber auch einen eigenen Rhythmus auf.
Die Bitte