Zeina B Ghandour : Der Honig

Der Honig
Originalausgabe: The Honey Quartet Books, London 1999 Der Honig Übersetzung: Sabine Hübner Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004 ISBN 3-423-24422-4, 118 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Muezzin in einem Palästinenserdorf ist krank. Da ruft seine Tochter Ruhiya zum Morgengebet. Ein Frevel! Yehya, ihre Jugendliebe, ist zur gleichen Zeit auf dem Weg nach Jerusalem, um sich in die Luft zu sprengen, aber Ruhiyas Ruf bringt ihn dazu, davonzurennen. Stunden später hört eine ausländische Journalistin sich in dem Wüstendorf um, und zuletzt erinnert Yehyas Vater, der Honigmann, sich an Ruhiyas Mutter ...
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Kritik

Der Text klingt vor allem zu Beginn, als ob ein arabischer Märchenerzähler ihn vortragen würde. Bald stellt sich jedoch heraus, dass Stil und Inhalt sehr viel moderner sind. In fünf Kapiteln erzählen wechselnde Figuren jeweils aus ihrem Blickwinkel und in der Ich-Form ihren Teil der Geschichte. "Der Honig" ist ein originell aufgebauter und sehr poetischer Roman.
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Scheich Radwan, der Muezzin in dem Palästinenserdorf al-Ahmar bei Jericho, hat seit dreißig Jahren keinen adhan (Ruf zum Gebet) versäumt, doch an diesem Morgen im Jahr 1997 fiebert er, kann nicht aufstehen und schickt deshalb seine Tochter Ruhiya zu al-Ashkar, der für ihn einspringen soll. Auf dem Weg zu al-Ashkar kommt Ruhiya an der gelben Dorfmoschee vorbei, läuft die Treppe im Turm hinauf, und genau zur vorgeschriebenen Zeit entweicht ihr der Schrei „Allaahu Akbar!“ Sie ruft zum Morgengebet. Ein Frevel, denn eine Frau darf ihre Stimme nicht erheben; so steht es im Koran.

[…] als sie [die Dorfbewohner] an diesem Morgen von Ruhiyas Gesang geweckt worden waren, stolperten sie aus ihren Betten und rannten in die Gärten hinaus, ungläubig und voller Furcht. Denn den Frauen war klar, dass Ruhiya für diese Freude würde bezahlen müssen, auch wenn sie ihr so anmutig Ausdruck verliehen hatte. Und die Männer? Den Männern drang ihr Gesang wie ein brennender Speer ins Herz. (Seite 34)

Während Ruhiya zur Moschee lief, waren zwei junge Männer aus dem Dorf – Eid und Yehya – getrennt voneinander auf dem Weg in die Altstadt von Jerusalem, um sich dort in die Luft zu sprengen. Yehya hatte Ruhiya erstmals geküsst, als sie beide vierzehn waren, aber in den letzten sechs Wochen hörte Ruhiya nichts mehr von ihrem Freund. Genau zu der Zeit, als Ruhiya in al-Ahmar zum Morgengebet ruft, zündet Eid seinen Sprengstoffgürtel. Yehya aber glaubt, Ruhiyas Stimme gehört zu haben; er rennt fort, lässt sich den Kopf scheren und schließt sich einer Karawane an.

Der neue Selbstmordanschlag in Jerusalem ruft die ausländische Journalistin Maya auf den Plan.

Ich bin eine Abgesandte ausländischer Vernunft, nüchternen Intellekts, die ethische Reportagen verfasst. (Seite 56)

Aber ich kenne und liebe die Gefährlichkeit Israels und banne sie in Versalien: BOMBENANSCHLAG IN JERUSALEM – WIEVIELE TOTE? Den Rest kann ich im Schlaf aufsagen, und nächste Woche dann: BRUTALE ABRIEGELUNG NACH BOMBENANSCHLAG. Und dann die Erlösung: SELBSTMORDATTENTÄTER IDENTIFIZIERT. Namen und Zahlen ändern sich, und ich passe sie ein wie eine Fabrikarbeiterin. Meine arabischen Freunde werden sagen, ohne Gerechtigkeit kein Frieden, und meine jüdischen Freunde werden sagen, das waren Zivilisten […] (Seite 60)

Als bekannt wird, woher der Selbstmordattentäter stammte, wird Maya von ihrer Zeitung aufgefordert, sich in al-Ahmar umzusehen und dabei auch dem Gerücht nachzugehen, eine Verrückte habe genau zur Zeit des Attentats den adhan vom Turm der Dorfmoschee gerufen. Ein Wagen bringt Maya nach al-Ahmar. Beim Haus des Märtyrers wimmelt es von verspiegelten Sonnenbrillen und Schnauzbärten. Sie erfährt, dass der Muezzin die Gläubigen zum Mittagsgebet rief, aber die Frauen wollen ihr nicht sagen, was am Morgen geschehen war.

Nur das kleine Mädchen Asrar, die Tochter des Heilers al-Ashkar, das mit eigenen Augen sah, wie Ruhiya den adhan vom Turm der gelben Moschee rief, flüstert der ausländischen Journalistin zu: „Ruhiya ist in der Wüste, mit Yehya.“ (Seite 74)

Yehyas Vater ist der Honigmann Farhan. Wehmütig erinnert er sich an Radwans Frau Hurrah. Er hatte sie vergewaltigt. Sie wurde schwanger, und im Alter von dreiunddreißig Jahren, nach zehn Jahren Ehe, gebar sie ihr einziges Kind, dem sie den heidnischen Namen Ruhiya gab.

Als das kleine Mädchen größer wurde, bemerkten einige seinen direkten Blick, und sie kritisierten ihre mangelnde Bereitschaft, den Blick zu senken. (Seite 25)

Der Honigmann erinnert sich an Hurrahs Vorwurf, sie vergiftet zu haben.

Als ich sie das letzte Mal sah, sprach Hurrah zu mir: „Sage nichts, mich kann nichts aufhalten. Du warst eine Begegnung in der Nacht. Jetzt will ich meine Freiheit.“ (Seite 103)

Dann nahm sie einen Strick und erhängte sich.

Es war einmal eine Moschee, die gelb war und blau gestrichen werden sollte. Die Männer im Dorf erhoben sich im Morgengrauen und machten sich entschlossen ans Werk. Sie hatten sich auf ein helles Blau geeinigt, die Farbe des Himmels an einem milden Frühlingstag. Doch die Männer besaßen keinerlei Erfahrung. Sie versäumten es, zuerst eine weiße Grundschicht aufzutragen, und merkten erst nach dem Trocknen der Farbe, dass die Moschee grün geraten war. (Seite 11)

Unermüdlich rühren die Männer des Dorfes al-Ahmar immer wieder neue Farbmischungen an, aber ihr Vorhaben gelingt ihnen nicht.

Und als die Männer schließlich den gewünschten Farbton getroffen hatten, waren sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es gar nicht merkten und die Moschee stattdessen fliederfarben tünchten. Die Frauen im Dorf schwiegen und taten so, als ob sie dieses sinnlose Ritual nicht bemerkten. (Seite 12)

Irgendwann geben die Männer auf, und weil sie es nicht ertragen, einen heiligen Ort verunziert zu haben, verlassen sie nach und nach das Wüstendorf.

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Der Text klingt vor allem zu Beginn, als ob ein arabischer Märchenerzähler ihn vortragen würde. Bald stellt sich jedoch heraus, dass Stil und Inhalt sehr viel moderner sind, geht es doch um einen Tabubruch und die Emanzipation der Frauen, um Inzest, Vergewaltigung, Selbstmorde und die Gewaltspirale im Nahen Osten. In einem Vorspiel greift Zeina B Ghandour zeitlich über die eigentliche Geschichte hinaus und beschreibt das skurrile Ende des Palästinenserdorfes, in dem eine junge Frau 1997 vom Turm der Moschee zum Morgengebet gerufen hat. In fünf Kapiteln – die nach den täglichen Gebetszeiten der Muslime benannt sind – erzählen dann Ruhiya, die Tochter des erkrankten Muezzins, der verhinderte Selbstmordattentäter Yehya, die ausländische Journalistin Maya, das Palästinensermädchen Asrar und der Honigmann Farhan jeweils aus ihrem Blickwinkel und in der Ich-Form ihren Teil der Geschichte. „Der Honig“ ist ein originell aufgebauter und sehr poetischer Roman.

Zeina B Ghandour wurde 1966 in Beirut geboren. Seit ihrem neunten Lebensjahr lebt sie in England. An der Kent University studierte sie Rechtswissenschaften. 1999 erschien ihr erster Roman: „Der Honig“, dessen deutschsprachige Übersetzung durch Sabine Hübner fünf Jahre später – rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2004 mit dem Themenschwerpunkt „Arabische Welt“ – vom Deutschen Taschenbuch Verlag veröffentlicht wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © dtv

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Stoner